Nun sind ja in den letzten Wochen des Jahres wie nicht selten noch einige tolle Platten herausgekommen (Function, Shed, MoE & Pinquins, Alva Noto & Ryuichi Sakamoto), und manch eine bereits früher im Jahr erschienene habe ich zwischenzeitlich entweder noch günstig erworben oder zumindest ausgeliehen oder anderswie zu Gemüte geführt bzw. zugesandt bekommen. Gleich zwei der besten Alben kamen im Herbst/Winter beim Avantgarde-Label Subtext Recordings heraus (Subtext Recordings was founded in 2004 in Bristol. Now based in Berlin, the label is curated by James Ginzburg and explores the numinous space between experimental electronic and composed instrumental music.): erstens das exzellente, aus Field Recordings, Ambient, Perkussion und Club Music verdichtete Album Carbon des Duos Ecker & Meulyzer, über das ich hier geschrieben habe. Zweitens Oratorio for the Underworld: Hinter dem Pseudonym PYUR verbirgt sich die Münchnerin Sophie Schnell, deren Lebensgefährte Olly Peryman aus Neuseeland unter dem Alias „Fis“ (schwer zu gugln) übrigens ebenfalls ganz famose, latent ambiente elektronische Musik veröffentlicht. Ich habe (und empfehle sehr) seine Alben From Patterns to Details (2016) und The Blue Quicksand Is Going Now (2015); mehr weiß ich über ihn nicht. PYUR veröffentlichte vor drei Jahren eine LP namens Epoch Sinus, die sehr schön zwischen intuitivem Ambient und ästhetisch-natürlichem Drone/Noise wandelt. Ein frühes Interview mit der Künstlerin, Überschrift „I wanted the Listener to feel powerful“, fand ich hier.
Ihr zweites Album ist vielleicht ein Meisterwerk, jedenfalls eines, das über rund eine Stunde einen phänomenalen Sog ausübt, halluzinogen, poetisch, surreal, vielschichtig aus Elementen konstruiert, die ich nicht ausmachen kann. Frank P. Eckert bezeichnet die Musik als „topmodernen Hybrid aus Neoklassik, Industrial und Dark Ambient“ und führt in seiner monatlichen Kolumne bei Groove.de aus:
PYURs Soundtrack zu diesem Trip […] behält [seine] Quellen derart halbbedeckt und teilverfremdet, dass sich immer gerade nicht erahnen lässt, wo sie herstammen. Es bleibt das diffuse Gefühl, diese Klangfetzen schon zig mal gehört zu haben – und noch nie. Das ist exakt das Geheimnis guter Popmusik. […] Bei PYUR kommt dazu ein brillantes, dynamisches Sounddesign, das adäquat zwischen notwendigem Schmutz und klärender Glanzpolitur zu vermitteln weiß.
In meinem vorläufigen Jahresrückblick vor ein paar Wochen habe ich Julia Kadels Trioalbum Kaskaden nicht erwähnt, das zu meinem Erstaunen niemand in seiner Jahres-Rückblickliste erwähnt hat (vielleicht weil es diesmal nicht bei Blue Note, sondern bei MPS erschien, das irgendwie niemand auf dem Schirm zu haben scheint; es wurde auch so gut wie gar nicht in den Medien besprochen, sehr schade). Ich höre es sehr gerne; eine(s) dieser speziellen Jazztrio(alben), bei denen man immer wieder etwas Neues zu hören meint. Auch habe ich zwei elektronische Alben vergessen, die mich bereits sehr früh im Jahr 2019 begeistert haben; beide erschienen im Januar:
Die Musikerin/DJ Melika Ngombe Kolongo alias Nkisi stammt aus der Demokratischen Republik Congo, lebt derzeit in London und hat im Januar die LP 7 Directions herausgebracht, die auf seltene Weise elektronische Londoner Club-Kultur mit polyrhythmischer zentralafrikanischer Musiktradition verbindet, a stark exercise in rhythm and atmosphere, delivered in seven unnamed tracks. On each one, blunt drum loops are layered into shuddering polyrhythms, while more ambient sounds drift around them, forming shimmering, mirage-like structures (Resident Advisor). Und Moor Mothers eindringliches Analog Fluids of Sonic Black Holes ist auch ein Werk, das 2019 einen wichtigen Stellenwert haben sollte, finde ich: This dense, incredible LP blends jazz, modular synths and spoken word in a document of time travel as a conduit for black empowerment. (RA review) Wem die politische Dichterin, Aktivistin, Wort- und Klangkünstlerin aus Philadelphia bislang verpasst hat: Unbedingt nachholen! Und Moor Mothers (Camae Ayewa) andere Alben (u.a. Fetish Bones) sind nicht weniger empfehlenswert!
Und dann das radikal intensive Album des US-Amerikaners Surachai Sutthisasanakul, einem Sound-Designer und Komponist, der seit zehn Jahren neben seinen Soundjobs für große Firmen dunkle Industrial-Klangmonster baut. Come, Deathless synthesizes live playing, field recordings, analog synthesizers, and heavy digital manipulation into a cohesive whole (…). This music finds the artist sometimes marching, sometimes dancing, sometimes weeping, sometimes praying, and sometimes screaming. The field recording sources range from the thick jungles and mountains of Thailand, California coastlines and various studios in Chicago. On the other hand, a lot of the synthesis comes from closed virtual environments or hulking immobile synthesizer systems. Thousands of sounds were networked and streamlined through several computers so I couldn’t get away or have an excuse not to work on the album. As a professional sound designer, mixer, and location audio engineer Surachai works tirelessly to ensure his releases meet the highest sonic standards. (aus dem Presseinfo; die kostspielige LP besitze ich leider nicht.)
Wenn ich mich also heute für eine „Top 20“-Liste meiner persönlichen im Jahr 2019 veröffentlichten Lieblingsalben entscheide, kommt folgendes dabei heraus:
- 01. Mattiel Satis Factory
- 02. Burial Tunes 2011-2019
- 03. Little Simz Grey Area
- 04. Pyur Oratorio for the Underworld
- 05. Jamila Woods Legacy Legacy
- 06. FKA twigs Magdalene
- 07. Barker Utility
- 08. Kim Gordon No Home Record
- 09. Banks III
- 10. Moor Mother Analog Fluids of Sonic Black Holes
- 11. Cherry Glazerr Stuffed and Ready
- 12. Louis Sclavis Characters on a Wall
- 13. Julia Kadel Trio Kaskaden
- 14. Lena Andersson (Kyoka & Ian McDonnell) Söder Mälarstrand
- 15. Grischa Lichtenberger re: phgrp
- 16. Kate Tempest The Book of Traps and Lessons
- 17. SØS Gunver Ryberg Entangled
- 18. Fennesz Agora
- 19. Puce Mary The Drought
- 20. John Luther Adams Become Desert
Ecker & Meulyzer und Surachai habe ich nicht als haptische Tonträger; deshalb lasse ich die mal raus aus der Liste. Ich höre die Musik einfach bewusster an, wenn ich sie über meine Stereoanlage und mit einer haptischen, altmodischen Verpackung genieße und durchdringe. Habe und höre ich etwas als MP3, ist das allerdings oftmals Anlass und Auslöser, eine LP noch real zu erwerben, so etwa bei Stuffed & Ready, der dritten Platte des kalifornischen Trios Cherry Glazerr um die gerade mal anfangzwanzigjährige Clementine Creevy. Das ist eigentlich das wunderbare neofeministische Alternative-Rockalbum mit verzerrten Gitarren und mitreißenden Refrains, das ich gerne von Sleater-Kinney gehört hätte (deren Comebackalbum Cities to Love fand ich 2015 super, auch wenn ich es erst 2016 so richtig „entdeckte“ und schätzen lernte, aber ihr neues Album erreichte mich nicht, zu glatt und unschlüssig). Nur weiß ich noch nicht ganz, wohin mit den Alben von Nick Cave (Ghosteen), Shed (Oderbruch), Function (Existenz), Klein (Lifetime) und Matana Roberts (Memphis) – alles Alben, die neue Wege gehen und Perspektiven in ihrem jeweiligen Genre öffnen und die ich daher ebenfalls sehr empfehlen kann.
Abschließend zum Jahresende hier noch rund ein Viertel meines zweistündigen Gesprächs mit David Torn in seinem Studio in Bearsville bei Woodstock (nur wenige Minuten von den Häusern von Marilyn Crispell, Carla Bley und Steve Swallow entfernt, zu denen in Bälde Interview-Videos online sein werden). Er erzählte ungemein viele spannende Sachen, über ECM, über Bowie, Madonna, Hendrix und das Woodstock-Festival (er fuhr damals als 16-Jähriger zum Festival, Hendrix war zentraler Einfluss für seine Laufbahn als Musiker), aber natürlich kann nur weniges davon in diesem Video Raum finden. Es ist ohnehin etwas lang geraten, aber ich fand es einfach zu toll, wie er diese Geschichten aus den Achtzigern erzählte.