Als ich den Raum betrete, in dem Gregor immer seinen Platten- und Bücherschrank öffnet – genau genommen ist der ganze Raum der Platten- und Bücherschrank – zeigt Hans-Dieter gerade die Stelle auf, an der Carla Bley die Beatles aus Abbey Road gekonnt, aber unverkennbar zitiert und alsbald nahm das 3. Manafonista-Treffen zunächst in kleiner Runde langsam Fahrt auf. Zusammen tauschten wir Aktuelles und persönliche Erinnerungen aus und machten uns auf die Suche nach musikalischen Anregungen. Irgendwann erklangen die Harmoniumimprovisationen von Georg Iwanowitsch Gurdjieff von 1949, die zu den letzten von ihm selbst gespielten Aufnahmen gehören (er starb am 29. Oktober 1949) und die Atmosphäre im Raum verwandelte sich langsam und zunächst unmerklich. Die Gespräche wurden intensiver und tiefer und die subtile Intimität der 70 Jahre alten Aufnahmen fing an sich im Hintergrund zu verselbstständigen, was uns aber erst auffiel, als das Album gerade zum dritten mal durchlief. In ihrer einfachen und doch vollendeten, fast meditativen Weise stehen diese fließenden Improvisationen leise für sich, fast am Ende einer der ungewöhnlichsten Lebensreisen des letzten Jahrhunderts. Man möchte sie ganz zwanglos Joachim-Ernst Behrendts Hinübergehen – Das Wunder des Spätwerks zum Abschluß hinzufügen.
Bereits Mitte der 20er Jahre begann Gurdjieff seinen Schüler, den ukrainischen Pianisten Thomas de Hartmann, zu schulen – zunächst, in dem er ihn auf Reisen zu musikalischen Events schickte, damit er dann damit anfangen konnte, ihm die vielen hundert Stücke, die in den Jahrzehnten seiner Reisen gesammelt hatte, zu diktieren. In Our Life with Mr Gurdjieff beschreiben Thomas und Olga de Hartmann wie das vor sich ging:
„Ich erlebte mit dieser Musik sehr schwierige und anstrengende Augenblicke. Manchmal pfiff Gurdjieff oder spielte mit einem Finger auf dem KLavier eine sehr komplizierte Art Melodie – wie es all östlichen Melodien zu sein scheinen. Diese Melodie zu erfassen, sie in europäischer Notenschrift aufzuschreiben erforderte eine tour de force.
Es ist interessant, genauer darzustellen, wie dies vor sich ging: In der Regel spielte es sich abends im großen Salon des Château (du Prieuré bei Fontainebleu) ab (und) das Musikdiktat fand stets vor jedermann statt.
Die Notation war nicht leicht. Während ich seinem Spiel zuhörte, mußte ich mit fieberhafter Geschwindigkeit die Wechsel und Doppelschläge der Melodie hinkritzeln, zuweilen bei Wiederholungen von gerade zwei Tönen. Doch in welchem Rhythmus? Wie die Betonungen kennzeichnen? Häufig gab es keine Spur von herkömmlichen westlichen Metren; der Fluß der Melodie ließ sich mitunter nicht durch Taktstriche unterbrechen oder unterteilen. Und die Harmonie, die den östlichen Klangcharakter der Melodie unterstützen konnte, vermochte man nur nach und nach zu erraten.
Nachdem die Melodie niedergeschrieben worden war, klopfte Gurdjieff auf dem Klavierdeckel einen Rhythmus, nach welchem die Begleitung zu gestalten war. Und als Krönung des Ganzen musste ich dann das Stück sofort spielen, wobei ich die Harmonie im Spielen improvisierte.“
Diese ungewöhnlichen und außerordentlichen Zusammenarbeit verdanken wir es, dass dieser weit kulturübergreifende Schatz nicht verloren gegangen ist und heute in wunderbaren Einspielungen vorliegen kann. Dabei wäre es müßig, hier auf die Sacred Hymns von Keith Jarrett hinzuweisen, die diese Musik einem weiten Publikum bekannt gemacht haben. Wesentlich weniger bekannt ist die von Robert Fripp produzierte Journey to inacessible Places von Elan Sicroff, der die Stücke mit unglaublicher Präzision und Dezenz spielt und ihnen so eine bemerkenswerte neue Tiefe abringt. Sicroff hat sich seit nunmehr mehreren Jahrzehnten mit dem musikalischen Lebenswerk Gurdjieffs auseinandergesetzt und dieses eingespielt. Hier bleibt es kaum noch vorstellbar, dass dieser wunderbaren Musik einmal diese traumhaft verwaschenen, fast jenseitigen Improvisationen auf einem Harmonium zu Grunde gelegen haben könnten. Auf Improvisations ist das zuletzt aufgenommene Stück vom 14. Oktober 1949, zwei Wochen vor Gurdjieffs Tod mit fast solemner Friedlichkeit, die wir an diesem Abend auch miteinander teilten. Danach war keine andere Musik an diesem Abend mehr möglich…