Martin Scorsese ist jetzt auch schon 76 Jahre alt und noch immer aktiv, derzeit hat er wieder einen Dokumentarfilm über die Rolling Thunder Revue-Tour in Arbeit. 2005 hatte er schon einmal einen Film über Bob Dylan vorgelegt: No Direction Home. Dass Scorsese sich neben seinen großen Spielfilmerfolgen auch dann und wann einen Abstecher in die Musikwelt gönnt, ist bekannt und zumeist sind seine Filme auch überaus sehenswert. Das gilt auch für ein riesiges Filmwerk, das Martin Scorsese zu Weihnachten 2011 veröffentlicht hat, es ist der Zweihundertneun-Minuten-Film über George Harrison – Living In The Material World. Zwei Monate früher war bereits der Fotoband zum Film erschienen von Olivia Harrison: George Harrison – Living In The Material World, mit einem Vorwort von Martin Scorsese und einer Einführung von Paul Theroux.
Erst jetzt bin ich dazu gekommen, mich mit beiden Werken ausführlich zu beschäftigen. Mein Eindruck vorweg: Scorsese ist ein wunderbarer Film gelungen und auch der Bildband mit seinen begleitenden Interviewausschnitten ist großartig.
Teil I des Film beginnt mit dem Tod des Musikers am 29.11.2001 und blickt dann zurück in die Zeit, in der George Harrison geboren wurde (25.2.1943 in Liverpool): kriegszerstörte Städte, jubelnde Bevölkerung bei Kriegsende. George wird als selbstbewusster und musikbegabter Junge geschildert, der sich allerdings auch schon immer für schnelle Autos, Rennmotorräder, später sogar für die Formel 1 begeisterte (im Buch wird erzählt, dass sich George auch einmal einen McLaren F1 bestellt und gefahren habe, 630 PS, ohne ABS, ohne Servolenkung; Damon Hill fuhr den Wagen später).
Die Familiengeschichte kommt im Film nur recht kurz vor, dann geht es auch gleich um die Beatles. George lernt Paul McCartney bereits in der Schule kennen, der wiederum schon mit John Lennon Kontakt hatte. Der Film erzählt die Geschichte der Beatles natürlich stets aus der Sicht von George Harrison. George Martin beton in einem Interview bereits die frühe, sehr klare Führung in der Gruppe: die Chefkomponisten Lennon/McCartney. George kommt erst auf Rubber Soul mit einer Komposition zum Zuge: „If Needed Someone“.
Dann die Begegnung mit Ravi Shankar, den er zusammen mit Bob Dylan ausdrücklich als seine Vorbilder nennt.
Dann Drogenkult, Mediation, die Entstehung von Sgt. Pepper’s Lonely Hearts Club Band, die Titelliste dieses Albums weist nur einen einzigen Harrison-Song auf: „Within You Without You“. Am Rande sei erwähnt, als George 17 Jahre alt war, ging es nach Hamburg/St.Pauli. Als er 23 war, wurde Sgt. Pepper’s eingespielt, unglaublich.
Die Freundschaft mit Eric Clapton, der keine feste Band um sich hatte und sich selbst Chef war, während es für George Harrison zunehmend problematischer wird, mit der Doppelführung Lennon/McCartney umzugehen. Am 10. Januar 1969, man arbeitete an Let It Be, verlässt George die Beatles und geht nach Hause, erzählt er, und schreibt „Wah-Wah“. Als George gegangen war, soll John Lennon gesagt haben: „Dann fragen wir eben Eric Clapton, ob er mitspielt!“ Immerhin, auf Let It Be sind zwei Harrison-Kompositionen zu finden: „I Me Mine“ und „For You Blue“.
Der erste Teil des Films endet mit dem großartigem Harrison-Song „While My Guitar Gently Weeps“, vom Weißen Album. Mit diesem Song beginnt nun auch der fast zweistündige zweite Teil des Films.
Clapton erzählt, wie er in aller Frühe mit George durch seinen Garten gegangen sei und er Zeuge der Entstehung von „Here Comes The Sun“ wurde.
Im November 1970 erscheint dann das erste Soloalbum von George Harrison: All Things Must Pass. Phil Spector erzählt in ausführlichen Interviews, wie sich die Kompositionen bei Harrison aufgestaut hätten. Am Ende sei dabei die erste Dreier-LP-Box der Popgeschichte herausgekommen. Am 3.2.1971 kann Harrison einen riesigen persönlichen Erfolg feiern: auf Platz 1 der Single-Charts steht „My Sweet Lord“ und gleichzeitig auf Platz 1 der LP-Charts All Things Must Pass.
Dann der Dämpfer: Clapton erzählt seinem Freund, dass er sich in seine Frau Patti verliebt hätte. Patti lebt schließlich mit Clapton zusammen. Zuvor hatte er ein Lied geschrieben, das von einem Mann handelt, der sich in die Frau des Freundes verliebt: „Layla“.
1971 dann das erste Benefiz-Konzert seiner Art: Concert for Bangla Desh.
In einer UNICEF-Pressekonferenz in New York, 1974, sagt George: “Wie vereint sind eigentlich die Nationen? Damit der Wald grün ist, muss jeder Baum grün sein. Man könnte sagen, all die verschiedenen Nationen haben ihre eigene Kultur, ihre eigene Geschichte, ihre Probleme, und deshalb gibt es jede Menge Streit in der Welt. Aber schließlich sind auch die Bäume und Blumen in einem Garten sehr verschieden, obwohl in allen der gleiche Lebenssaft fließt. Irgendeine Gemeinsamkeit muss es doch geben, die alle Nationen, alle Kulturen, alle Hautfarben, Rassen und Religionen verbindet – eine grundlegende Wahrheit, die für sie alle gilt. Und die lautet: Damit der Wald grün ist, muss jeder Baum grün sein. … Ich bin froh, wenn wir alle endlich unseren „Planet Earth Pass“ bekommen, denn ich habe es satt, Brite oder ein Weißer oder Christ oder Hindu zu sein … .“
Das waren Zeiten …
George lernt Olivia kennen, mit der er dreißig Jahren zusammen leben sollte, sie kommt im letzten Teil des Films öfter zu Wort, erzählt von der Krebsdiagnose, den Kampf, den ihr Mann nicht so schnell aufgeben wollte, ja, es sah sogar so aus, als ob er ihn gewinnen könnte. Aber es kommt ganz anders: ein Wahnsinniger bricht Ende 1999 in das Haus der Harrisons ein und will George töten. Olivia erzählt von den furchtbaren Raufereien und Verletzungen.
Es folgt ein letzter erfolgloser Kampf gegen den Krebs. Ringo erzählt am Schluss des Films eine Geschichte. Er habe George in der Schweiz im Krankenhaus besucht, George sei so schwach gewesen, er hätte nur noch liegen können. Ringo habe ihm gesagt, dass er jetzt noch einen weiteren Krankenbesuch machen müsse, seine Tochter hätte einen Hirntumor und läge in Boston im Krankenhaus. Darauf hätte George Ringo gefragt: „Soll ich mitkommen?“ Das seien seine letzten Worte gewesen.
Während des Lesens und Nachdenkens über Film und Buch habe ich natürlich immer wieder die eine oder andere Platte von George Harrison dem Plattenschrank entnommen und aufgelegt. Hier meine persönliche Top-Ten-George-Harrison-Jukebox:
Von der LP-Box All Things Must Pass: „Wah-Wah“ / „I Not For You“ / „Behind That Locked Door“ / „Run Of The Mill“ / „I Live For You“ / „Ballad Of Sir Frankie Crisp (Let It Roll)“ / „Out Of The Blue“; von der LP Dark Horse: „Dark Horse“; von der LP Living In The Material World: „Don´t Me Wait Too Long“ / „Deep Blue“.