Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

 

 
 
 

Zu den Zeiten als es noch echte Telefonzellen gab, spendierte die englische Partnerstadt (man könnte auch Schwesterstadt sagen, wohingegen Bruderstadt gendermäßig verwirrend wäre) unserem Städtchen eine typisch englische Telefonzelle als Zeichen interregionaler Verbundenheit. Aber heute, wo fast jeder mehr Mobiltelefone als Ohren hat, braucht natürlich keiner mehr eine Telefonzelle. Abbauen geht aber auch nicht, wenn man die inzwischen brexitgefährdete Verbundenheit nicht ernsthaft in Frage stellen möchte, also liegt es doch nahe das nicht mehr Benötigte mit etwas anderem aus der Zeit Gefallenem zu kombinieren und dieserart kulturelle Nutzwerte zu kreieren: Einen honorigen Bücherschrank! Eine Schatzgrube des Vergangenen und Vergessenen! Hat man sich erst mal durch die redundanten Berge von Nachkriegs- und Wirtschaftswunderromankultur und unglücklich verschenkter Belletristik durchgekämpft, können in der zweiten Reihe oft unverhofft wahre Schätze auftauchen.

So stieß ich heute recht unverhofft auf eine Totalausgabe (!) der gesammelten Werke von Wolfgang Neuss. Noch bei Zweitausendeins verlegt. Die hatten damals ständig Ärger mit der Zensur und etliche Bücher mussten wieder eingestampft, geschwärzt oder erst über 18 angeboten werden. Amerikanische Untergrundschriftsteller, anarchistische Basisliteratur oder damals als volksgefährdend eingestufte Literatur zur sexuellen Revolution und eigenverantwortlichem Drogenkonsum standen regelmäßig im Programm und auf der Kippe. Heute verkaufen sie handgeschnitzte Holzvögel, feine englische Wollplaids und den Orient-Express als 3D-Modell. Sogar einige der Merkhefte von Zweitausendeins mussten wegen offiziell fragwürdigen Inhalten eingestampft werden, woran heute keiner mehr denken würde, da sie eher in der Masse der Druckerzeugnisüberschussresteverwertungswerbung klanglos untergehen. Nein, ich kann darüber keine Träne vergießen, denn der Anarchismus der Ja-Sager ist uneinholbar. Und Wolfgang Neuss ein höchst visionärer Konterrevolutionär:

 

Man sollte lieber davon reden, dass heute in der Gesellschaft ein starker Hang zum Über-Anarchismus besteht. Wenn jemand sagt: … ich bin damit einverstanden – das ist die größte Gefahr. Und bei solchen Super-Anarchisten, den Kopfnickern, den Ja-Sagern … wäre ich gerne dabei, denn die könnten wirklich etwas verändern. Eine Sache geht sofort kaputt, wenn hemmungslos ja dazu gesagt wird.

 

Ja, Wolfgang Neuss ist Anarchist. Fast auf jeder Seite politisch unkorrekt: nennt Schwarze, wie es früher üblich war Neger, aber so, dass er sie damit nicht diffamiert sondern satirisch würdigt, empfiehlt Vögelkunde anstatt unverhältnismäßigem Philosophieren (inclusive eines anschaulichen Exkurses) und erinnert uns daran, dass ein Hund im Sinne des Gesetzes ist, wer steuerpflichtig scheißt. Seziert die makabre Wirklichkeit bundesdeutscher Politik als Testamentsverwalter von François Villon. Von brandtaktueller Bombenstimmung bis Tunix. Dazwischen steckt aber auch viel Ernstes: eine wohlbegründete Abneigung gegen dunkelbraune Sümpfe,  unverarbeitete Zeitgeschichte und politische Frontalversager, wie eine ebenso wohlbegründete Zuneigung dazu die Verdummten so zum Lachen zu bringen, dass ihnen Einges im Halse stecken bleibt und sich gleichzeitig genüßlich eine dicke Tüte anzuzünden. Wofür er schließlich auch in einer kabarettreifen Gerichtsverandlung verurteilt wurde und einer nervenärztlichen Untersuchung zustimmen musste, wobei er pressewirksam dem Chefarzt der Nervenklinik vermittelte: Ja, in der Anstalt werden wir so lange reden, bis sie so reden wie ich!

 
 

Jeder weiß, sagt, tut alles.

Es gibt keine Geheimnisse mehr.

Nicht weitersagen!

 

Eine Frage schwirrt

mir durchs Hirn:

Kann man so geschickt schweigen,

dass man verstanden wird? 

 

This entry was posted on Samstag, 22. Dezember 2018 and is filed under "Blog". You can follow any responses to this entry with RSS 2.0. Both comments and pings are currently closed.

2 Comments

  1. Lajla:

    Wolfgang Neuss, der Verräter des Mörders im TV Krimi „“Das Halstuch“.

    Ich erinnere mich noch an Filmchenaufnahmen des zahnlosen Immerkiffers. Eine sehr originelle Persönlichkeit.

  2. Michael Engelbrecht:

    Hatte bestimmt auch Frank Zappa daheim.

    Mit den Mothers of Invention.


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