Hunderte unserer Leser rätselten, wer denn nun Sylvia war, die sich vor Monaten auf dem Blog meldete und sich erkundigte, ob ich ihr alter Freund Michael aus Kirchhörde sei. Ich ging in meinem Gedächtnis alle verfügbaren Szenen mit den beiden potentiellen Sylvias der Teenagerjahre durch, ich stellte Vermutungen an, platzierte Luftbilder von meinem alten Zuhause, aber sie meldete sich nie wieder. Seitdem zählt sie zu den vier, fünf, sechs Kurzaufgetauchten, die, statt mir (einst) blaue Stunden und endlose Nächte zu schenken, oder wenigstens Männerversteherinnen zu sein, einfach verschwanden, in andere Lebensläufe hinein. Zugegeben, die anderen Fatima Morganas waren greifbarer, drehten Pirouetten im Bahnhof Langendreer, verschenkten Blicke für eine Handvoll glückliche Jahre, machten es sich in meinem Studentenzimmer bequem („Michael, wer war die heisse Braut?“), allein, sie waren nicht mehr gesehen und auffindbar, und wie spannend wäre es, an jene Tage zurückkehren, und das Paradoxon aller Zeitreisen neu beleben. Warum diese lange Einleitung, keine Ahnung – bin halt Wiederholungstäter! Nun also Julia Holter, auch sie eine Kurzaufgetauchte, auch sie werde ich nie mehr im persönlichen Gespräch erleben, es war die reine Ernüchterung, und das ist der grosse Unterschied zu all den unerfüllten Romantizismen einer vergangenen Ära. Es war wohl eines der uninspiriertesten Interviews meines Lebens, und das mit der Frau, von der Brian Eno nach dem Hören ihres gefeierten Albums „Have You In My Wilderness“ sagte, in den Siebzigern wäre sie eine Ikone gewesen. Nun lag das weder an ihr noch an mir. Weder waren meine Fragen dumm und supersmart, noch ihre Antworten aus der Retorte, formelhaft. Wenn ich sie fragte, verzweigten sich ihre Gedanken hierhin, dorthin, und sie spielte jede Spannung herunter. Ich entdeckte keine Geschichten, konnte ihr in keine Wildnis folgen. Eine sehr reflektierte blitzgescheite 28-Jährige, beide Elternteile Historiker, die das widerständige, komplexe Opus „Aviary“ zuwegebrachte, Kompositionen mit beträchtlichem Verstörungspotential (wir sprachen über Dissonanzen), aber während unserer zwanzig Minuten passierte nichts Einhakendes, alles blieb vage, nicht mal eine einzige gemeinsame Begeisterung erfüllte den Raum, selbst da blieb alles gelistete Erinnerung. Klar fragte ich sie nach ihren Lieblingsplatten von Eno, und sie nannte die Tigerbergscheibe, die Überlandmusik, und die Flughafensache, aber nichts war an ein Erlebnis geknüpft. Hinterher wusste ich, was ich hätte anstellen müssen, das wäre der Dreh gewesen, der Twist-and-Turn, ich hätte sie in diesem kleinen hässlichen funktionalen Grauwandzimmer, im renommierten Bochumer Schauspielhaus, mit ihrer Hornbrille und ihrem unprätentiösen graublauen Wuschelpullover, fotografieren müssen, und alles wäre bezaubernd nüchtern gewesen. Denn um den Zauber hinter dem Nüchternen ging es wohl, wenn ihre Gedanken in sanftes Schlingern kamen, rote Fäden suchten, Momente griffen, Momente verpassten. Schön wars dennoch, einfach, weil ich dieses Foto in Erinnerung habe, das ich nie gemacht habe, und „Aviary“ daheim auf mich wartete. We didn‘t talk about shrieking birds. But I gave her a short crash course in lucid dreaming at the end, you never know!