Eigentlich wollte ich nur einen weiteren Kommentar zu Michas La-Fenice-Review beisteuern. Das Vorhaben ist aber aus dem Ruder gelaufen. Deshalb erscheint es als eigenständiges Posting. Ich stimme vollkommen überein mit den Kommentaren von Micha und Jan. So gibt es im Grunde eigentlich nichts, worüber zu schreiben sich lohnt.
Als Facing You erschien, habe ich mich gewundert, dass in HiFi-Stereophonie dem Album nicht die höchste Bewertung zuteil wurde – 9 von 10 Punkten wurden gegeben, nach meiner Erinnerung. Ich fand das unverständlich. Für mich war die Platte sensationell. Die Kritik näherte sich damals behutsam diesem neuen jungen Wilden. Ja, es gab schon längst „Wagnerianer“ in den frühen 70er Jahren, aber noch keine „Jarrettianer“. Die gibt es aber jetzt, sie nähern sich gar nicht behutsam Jarretts Opera, sie schaffen es kaum, unter die Höchstbewertung zu greifen, es sei denn der Unantastbare gibt den Ton an. Reinhard Köchl ist zweifellos einer der mustergültigsten. Gehorsam verdammt er das „Köln Concert“. Das „Köln Concert“ hoch zu schätzen, kann folgenreich sein. Wolfgang Sandner hat das erfahren.
Einem Biographen, sagt Wolfgang Sandner, könne eigentlich nichts Besseres widerfahren, als sich vor Abschluss des Manuskriptes mit dem zu Porträtierenden zu überwerfen – der Autor sei dann befreit von Rücksichtnahme.
Der frühere FAZ-Redakteur spricht über sich selbst. Und es war ein tiefer Fall, denn Sandner ist weiter als die meisten Journalisten zum Objekt seines Interesses vorgestoßen: vom Händedruck beim Kennenlernen Anfang der 70er (eine Seltenheit in Jarrett´s Verhalten, wie er […] erzählt) bis zu einer Einladung samt Übernachtung in Jarrett´s Haus in Oxford/New Jersey im Oktober 1987 […]
Sandner triumphiert nicht über diese Audienz, er spricht in verhaltenem Reportage-Ton, auch den Bruch mit Jarrett auf der dritten Textseite, den er dem Buch damit quasi voranstellt, schildert er mit Noblesse und einem gewissen Verständnis.
Keith Jarrett war informiert über die Biographie und habe Interesse & Wohlwollen gezeigt, „bis es bei einer öffentlichen Feier nach einem seiner Solokonzerte zu einem kuriosen Disput zwischen uns über das Köln Concert kam. Dass ich dieses Konzert als einen seiner großen Erfolge bezeichnete, löste sein ausgesprochenes Missfallen aus und brachte unseren Dialog zum Erliegen.“
Ich mag das „Köln Concert“ und finde nicht, dass es ein derart missratenes Kind ist, dass man es verstoßen müsste. Mr. Jarrett hat sicher gute Gründe dafür. Kennt sie jemand? Ich würde sie gerne erfahren.
Reinhard Köchl – ein Jarrettianer
Wie der Jazzpianist Keith Jarrett gerade drauf ist, das weiß seit Jahrzehnten eigentlich jeder, der sich für ihn interessiert. Seine Musik, die Titel und Beigeschichten seiner Liveaufnahmen übermitteln zuverlässig den gerade aktuellen emotionalen Pegelstand. Wie ein Regenradar zeigen sie zurückliegende oder anstehende Hoch- und Tiefdruckgebiete an, warnen vor Hurrikans und geben manchmal sogar Erklärungen für vergangene Katastrophen. Natürlich ist das auch der Fall bei der neuesten Veröffentlichung La Fenice, aufgenommen im gleichnamigen Theater in Venedig am 19. Juli 2006, einem der heiligen Konzertsäle der klassischen Musik.
Das ist eine gewagte These, die kaum zu beweisen ist. Umgekehrt wird eher was draus. „Musik ist dazu da, bestimmte Emotionen zu wecken und deren Reflexion“ – Worte von Josef Bulva (in FONO FORUM April 2017). Wir alle sind Opfer der Babylonischen Sprachverwirrung, welche sich nicht nur in der Existenz Hunderter verschiedener Sprachen und Dialekte manifestiert. Die Verwirrung fängt schon bei einem Wort, bei einem Begriff an. Nehmen wir „Emotion“.
Musik – nicht jede – kann uns bewegen (lat. = movere). Mehr sagt das Wort auf der elementarsten Bedeutungsebene nicht: Bewegung, im übertragenen Sinn auch Gemütsbewegung. Wie sich eine emotio konkret äußert, ist mit diesem bedeutungsoffenen Worte freilich nicht gesagt.
Nach meiner persönlichen Erfahrung und Anschauung können es psychosomatische Bewegungen sein, Fußwippen, Herumhopsen, Lust auf Tanzen. Vor allem als Kind und Jugendlichem ist mir (damals vorwiegend bei Mozart) die Gänsehaut den Rücken rauf und runter gelaufen. Mir ist auch schon passiert, dass ich zu Heulen anfing, nicht weil ich traurig war! ich war nur bewegt, ich war high von der Musik. Es kann sich ein unmittelbar sinnliches Lustgefühl einstellen, wie beim Essen einer Brotsuppe.
Nach meiner persönlichen Erfahrung und Anschauung können es rationale, kognitive Bewegungen sein, Auslöser etwa Tom Johnsons Musik und Fragen oder Failing, A Very Difficult Piece for Solo String Bass.
Nach Köchl soll die Musik Auskunft geben über den emotionalen Zustand des Künstlers. Radiance (2002), The Carnegie Hall Concert (2005), La Fenice (2006) , Paris/London (2008), Rio (2011), München (2016). All diese Konzerte zeigen Jarretts von der Anlage der Solokonzerte bis 1996 abweichendes Konzept – „nicht mehr endlos ins Offene treibend, vielmehr fokussierter“ wie Michael es perfekt, weil fokussiert, beschreibt. Wenn ich sie höre (München 2016 hörte ich im Gasteig) und von Titeln und Beigeschichten nichts weiß, ja, selbst wenn mir diese Titel und Beigeschichten im Kopf herumspukten, höre ich dem Paris/London nicht an, in welch verletztem emotionalem Zustand Jarrett damals gewesen ist.
Then my wife left me (this was the third time in four years). […] These were the first solo events since my wife had left. I was in an incredibly vulnerable emotional state.
Nach Köchl sollen die Titel Auskunft geben über den emotionalen Zustand des Künstlers. Nun, die Titel der Solokonzerte Jarretts sind überwiegend neutral, neutraler geht es nicht. Es sind Ortsangaben. Gut, die 10-LP-Box des Jahres 1976 hieß Sun Bear Concerts. Der Titel blieb mir immer ein kleines Rätsel – „Sonnen Bär Konzerte“. Ich habe keine Vorstellung davon, was ein Sonnenbär ist. Kann mir jemand helfen? Packt man die LPs aus, hält man dennoch japanische Städte in Händen. Die Box hätte genausogut „The Japanese Concerts“ heißen können.
Mit Radiance änderte sich diese nüchterne Namensgebung. Glanz, Leuchten – meinetwegen, etwas Chuzpe, warum nicht. Paris/London hat aber einen schwerwiegenden Beititel: Testament. Ich weiß noch, wie der mich in Verwirrung stürzte, als ich ihn las. Welt ade, ich bin dein müde? Zieht Jarrett sich vom Podium zurück? Wird er nie mehr einen Ton spielen? Ist er todkrank? Ich habe erst vor wenigen Tagen das Booklet von Testament gelesen.
Nach Köchl sollen die Beigeschichten Auskunft geben über den emotionalen Zustand des Künstlers. Da möchte ich doch eine Beigeschichte aus alten Zeiten vorstellen, eine Beigeschichte aus dem Jahr 1802.
O ihr Menschen die ihr mich für Feindseelig störisch oder Misantropisch haltet oder erkläret, wie unrecht thut ihr mir, ihr wißt nicht die geheime ursache von dem, was euch so scheinet, mein Herz und mein Sinn waren von Kindheit an für das zarte Gefühl des Wohlwollens, selbst große Handlungen zu verrichten dazu war ich immer aufgelegt, aber bedenket nur daß seit 6 Jahren ein heilloser Zustand mich befallen,, durch unvernünftige Ärzte verschlimmert, von Jahr zu Jahr in der Hofnung gebessert zu werden, betrogen, endlich zu dem überblick eines daurenden Übels das (dessen Heilung vieleicht Jahre dauren oder gar unmöglich ist) gezwungen, mit einem feurigen Lebhaften Temperamente gebohren selbst empfänglich für die Zerstreuungen der Gesellschaft, muste ich früh mich absondern, einsam mein Leben zubringen.
[…]
aber welche Demüthigung wenn jemand neben mir stund und von weitem eine Flöte hörte und ich nichts hörte, oder jemand den Hirten Singen hörte, und ich auch nichts hörte, solche Ereignisse brachten mich nahe an Verzweiflung, es fehlte wenig, und ich endigte selbst mein Leben – nur sie die Kunst, sie hielt mich zurück.
Das schrieb Beethoven im Oktober 1802. Es ist aus einem Brief an seine Brüder, den er nie abschickte, der, noch versiegelt, 1827 in seinem Nachlass gefunden wurde. Im Sommer des Jahres 1802 beendete er die Komposition der 2. Sinfonie. Es ist ein Stück von ausgelassener Heiterkeit, entstanden während einer Lebensphase voller Verzweiflung. Dieser Brief, das sog. Heiligenstädter Testament, ist eines der berühmtesten Dokumente der westlichen Musikgeschichte.
Erstmals gestern ist mir assoziativ eine Parallele aufgefallen, die als These formuliert die „küchenpsychologische“ These Köchls an Gewagtheit in den Schatten stellen würde. Bevor ich sie darlege, weise ich ausdrücklich darauf hin, dass es eine Schnapsidee ist. Das Linking Link heißt „Testament“:
I decided that if I backed down now, I would back down forever
(K. Jarrett)
frei übersetzt:
Es fehlte wenig, und ich endigte selbst mein Leben – nur sie die Kunst, sie hielt mich zurück
(L.v. Beethoven)
Mit der Annahme, ein Künstler würde in seiner Kunst sein Innerstes (immer) nach Außen kehren, ist Herr Köchl einer Anschauung verfallen, die historisch bedingt ist, die im 19. Jahrhundert wurzelt und auch nicht auf jeden Musiker des 19. Jahrhunderts zutrifft. Wenn ich könnte, würde ich Herrn Köchl fragen, ob er meint, dass der Küchenmeister des Grafen Esterhazy seinen Schmerz über den Tod seiner Gattin in den Speisen, die er zubereiten musste zum Ausdruck brachte.
Wir sollten uns klar machen, dass beispielsweise Johann Sebastian Bach – wenn er Hofkapellmeister war – zu den Bediensteten seines Fürsten zählte, wie der Stallmeister, der Küchenmeister und andere Meister. Da ging es nicht darum, sich selbst in der Musik, im Striegeln der Pferde und dem Kochen der Gerichte auszudrücken. Während der zweiten Reise nach Karlsbad, die J.S. Bach mit seinem Fürsten Leopold auf sich nehmen musste, ist er zum Witwer geworden.
Nachdem er mit […] seiner ersten Ehegattin 13 Jahre eine vergnügte Ehe geführet hatte, wiederfuhr ihm in Cöthen, im Jahre 1720 der empfindliche Schmerz, diesselbe, bey seiner Rückkunft von einer Reise, mit seinem Fürsten nach dem Carlsbade, todt und begraben zu finden; ohngeachtet er sie bey der Abreise gesund und frisch verlassen hatte. Die erste Nachricht, daß sie krank gewesen und gestorben wäre, erhielt er beym Eintritte in sein Hauß.
Seinen Kompositionen aus jener Zeit hört man nicht an, welcher Schicksalsschlag ihn getroffen hatte. Hiermit endet der Abschnitt über die Beigeschichten.
In Bachs Köthener Jahren sind die Suiten für Violoncello entstanden, die Kim Kashkashian so wunderbar auf der Viola interpretiert.