Es muss gegen Ende meiner Grundschulzeit gewesen sein, in der vierten Klasse, als ich ein neues Interessengebiet entdeckte. Es begann mit einer Vertretungsstunde, es war ein Lehrer, an den ich mich nicht erinnere, außer, dass er ein älterer freundlicher Mann war. Er brachte einfach ein paar Steine aus seiner Sammlung mit, legte sie sorgsam aufs Pult und erzählte darüber. Irgendwann fiel der Satz: „Wer Steine sammelt, hält die Welt in Händen.“ Es hatte so etwas Behutsames und klang so schön, dass ich beschloss, eine Steinsammlerin zu werden. Es änderte meinen Blick, es war ein neues Feld. Ich war ohnehin fast den ganzen Tag draußen, mit anderen Kindern oder allein, ich suchte die Felder und liebte die Wege ohne Asphalt, und es gab den Fluss. Es kam selten vor, dass ich einen schönen Stein fand, den ich in meinem Zimmer auf ein Regalbrett legte. Der homöopathische Kinderarzt, zu dem meine Mutter uns ab und zu brachte, hatte ein düsteres Praxiszimmer, er saß hinter einem riesigen Schreibtisch, auf dem einige große Steine lagen und von innen heraus zu strahlen schienen und den Raum verwandelten. Bei uns zuhause lag auf einem Fensterbrett im Wohnzimmer zwischen Pflanzentöpfen ein Stück Bergkristall. Ich fragte meine Eltern nach dessen Herkunft, erfuhr aber nicht viel. Ich hätte mich nicht getraut zu fragen, ob ich den Kristall haben dürfte. In einem Sommer fuhren wir nach Südbayern, besuchten das Salzbergwerk in Bad Reichenhall, und ich kaufte mir ein Set mit würfelförmigen verschiedenfarbigen Salzsteinen. Aus dem Kunstunterricht nahm ich ein kleines Stück weißen luftigen Bimsstein mit. Eine Schulfreundin, die ich besuchte, hatte einen Bruder, der schon erwachsen war, und in seinem geheimnisvollen Jungszimmer stand eine beleuchtete Vitrine, in der er wertvolle Steine aufbewahrte, von denen einige glitzerten. Ich sah das nur von weitem. Ich gelangte an Halbedelsteine, nichts teures. Kleine geschliffene oder ungeschliffene Stücke von Tigerauge, Moosachat und Malachit. Der Klang der Namen. Sprünge in der Zeit. Eine Freundin behauptete, die Halbedelsteine würden direkt auf den Körper und die Seele wirken und sie wusste auch wie. Bei ein oder zwei Gelegenheiten, bei denen meine kommunikativen Fähigkeiten besonders überzeugend sein mussten, steckte ich ein kleines Stück blauen Chalzedon in der Hosentasche. Jemand schenkte mir ein großes Stück ungeschliffenen Rosenquarz, das seither auf meinem Schreibtisch liegt. Eine Windrose, ich weiß nicht woher. Aus der Sahara? Ein paar graue Schiefer mit Abdrücken schneckenhausartiger Fossilien. Von einer Reise an die Ostsee brachte ich einen weißen Stein mit, der von der Kraft des Meeres durchbohrt ist. Ein Symbol der Glücks. Alle Steine von den Ufern der Ostsee weisen diese Mischung aus Kalk und festem Gestein, was sehr individuelle Formationen hervorbringt. Das seltsamste Exemplar, dort gefunden am Strand, ist ein kleiner, fast dreieckig geformter, flacher Stein. Auf dem hellen Untergrund ist auf der einen Seite, wie schwarz gezeichnet, ist ein Rechteck zu sehen, an dessen einer Seite eine kleine halbrunde Verstärkung, es sieht aus wie ein alter Koffer, im Seitenprofil. Auf der anderen Seite des Steins ein dahingeschwungenes Herz. Jahrelang lag der Stein auf einem Fensterbrett. Einmal zeigte ich ihn einem Freund. Er sah den Koffer nicht, und nicht das Herz.
4 Comments
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Wolfram:
Steinesammlerin – das klingt geheimnisvoll. In der Praxis hatte ich neben unzähligen Figuren, Autos, Tieren, Gegenständen auch verschiedene Steine, große graue aus Gebirgsbächen, kleine Taschengeldhalbedelsteine, die ein Uhrmacher günstig verkaufte, und Marmorreste vom Abfall eines Steinmetzes. Ich würde darauf wetten, dass die Steine deutlich häufiger als alles andere in den Gestaltungen der Kinder erschienen sind. Sogar öfter als die Soldaten.
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Martina:
Dass Steine von Kindern für Rollenspiele verwendet werden, vor allem wenn es um brenzlige Themen geht, mag seinen Grund in ihrer Abstraktion finden. Und trotzdem ist jeder Stein individuell und strahlt etwas aus. Ich selbst habe mit den Steinen nicht gespielt, ich habe als Kind viel mit Legosteinen gespielt, Häuser gebaut und ich hatte kleine Gummifiguren, die ca. 2 cm groß waren, mit denen ich Geschichten gespielt habe. Ein kleiner gelber Hund, ein Eisbär, ein Wiesel. Und andere. Ich glaube, die wären auch interessant für eine Praxis. Tatsächlich habe ich längst alle meine Kinderbücher verschenkt, aber den Legokasten habe ich noch im Keller.
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Wolfram:
„Wer Steine samelt, hält die Welt in Händen“ – das ist es, warum von ihnen sowas Faszinierendes ausgeht! Und sie sind hart und schwer und verlässlich und alt und kommen irgendwo her. Man kann mit ihnen Häuser und Burgen bauen, auch Höhlen. Höhlen sind eigentlich das, was ohne Steine ist – oder sind die Steine das drumherum?
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Martina:
Gerade fällt mir auf, dass Legosteine auch Steine sind, metaphorisch betrachtet. Daran habe ich noch nie gedacht. Insofern ermöglichen Steine die Entfaltung einer eigenen Welt, eine eigene Magie.