Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

2017 29 Apr

„The darling buds of May“, and other wonders of reappearance

von: Michael Engelbrecht Filed under: Blog | TB | Tags:  | 4 Comments

1 – TIME TRAVELS WITH RAY

 

Ich fragte mich schon, ob ich mich in Träumen verausgabe, die Nackenmuskeln sendeten kleine Schmerzimpulse, aber Daphne, Fan von Borussia Mönchengladbach und spezialisiert auf Tiefseetauchen vor Ägypten, bereitete den Verspannungen ein Ende und renkte mir den vierten Halswirbel ein. Jetzt ist auch das Schreiben wieder eine körperliche Freude, zumal die Zeitmaschine angeworfen wird. Daran besteht ja wohl kein Zweifel, wenn Sie so gut sind und einen Blick werfen auf die besonderen Empfehlungen für den Mai. Danke.

Einige von uns erinnern sich noch an die Zeit, als es, in den Sechzigern, in den Siebzigern, keine so leichte Sache war, an rasche Informationen zu aufregenden neuen Schallplatten zu gelangen. Jeder hatte seine Kanäle, von der Europawelle Saar bis zu den frühen Ausgaben der „Sounds“, von „jazz by post“ bis zum Plattenladen des Vertrauens, aber es gab nicht viele Seelenverwandte, die im Radio die heisse Ware aus den USA, aus England, aus Norwegen und Germanien auflegten. Die Lobbyisten der Klassischen Musik erklärten ihre Ware zur einzig wahren und seligmachenden – diese Idiotenelite!

Ich weiss noch, wie sich über Nacht eine ferne, nahe Welt sperrangelweit öffnete, als ich „All Day And All Of The Night“ oder gar „Mr. Pleasant“ hörte, aufsaugte, verschlang, keine Sekunde verpassen wollte! Die Kinks waren und blieben meine No. 1-Band in jener Zeit, die Beatles waren genauso unschlagbar.

Die Stimme von Ray Davies verankerte sich tief in allen Bereichen des Bewussten und Unbewussten – „Ahnungen all inclusive“. Das Reich der Ahnungen nennt man in der Tiefenpsychologie das „Vorbewusste“, und für Teenager sind diese (nie ganz ausgegorenen) Intuitionen und Träumereien eine besondere Zone der Horizonterweiterung. Wie Rays Gesang Soziales und Sexuelles, Existenzielles und Abgründe, verschwindende Grünzonen und Fünf-Uhr-Tee wahlweise zelebrierte, ironisierte oder filettierte, war einzigartig, und er wurde zu meinem Lieblingssänger der frühen Jahre.

Ich folgte seiner Stimme nicht nur durch die Ära der Hits, sondern auch durch die verschlungen Pfade der Konzeptalben. Jetzt erzählen Sie mir nicht, die „Village Green Preservation Society“ sei an Ihnen vorüber gegangen!? Dann besorgen Sie sich am besten – als Einstieg – das kluge Buch zur Platte, aus dem Verlag „33 1/3“, und versinken in eine Songstudie drohender und fortgesetzter Verluste der Arbeiterklasse und anderer Illusionen. Das Tröstliche im Untröstlichen zu finden, ist eine Tugend, der geschliffene Witz eine Waffe von Mr. Davies.

Jetzt ist Ray 72, seine Stimme in bravouröser Verfassung, und er liefert mit „Americana“ ein weiteres Konzeptalbum ab, das noch besser ist als die weitgehend positiven und respektablen Kritiken. Ich höre das Album rauf und runter, die Favoriten wechseln täglich, für einen Song wie „A Place In Your Heart“ würde ich barfuss zum Pokalfinale nach Berlin wandern. Drei Songalben sind mir in diesem Jahr so nah wie keine anderen gegangen, „Common As Light And Love Are Valleys Of Blood“ von Sun Kil Moon, „Pure Comedy“ von Father John Misty, und eben „Americana“. Ich hoffe, im Monat Mai gesellen sich noch The Mountain Goats und Paul Weller hinzu.

 

2 – ABBEY ROAD MYSTERIES

 

„Missed the sixties? Then grab a copy of William Shaws superb A Song From Dead Lips. This is a terrific mystery novel that moves at the speed of a sixties‘ three minute single and has the best female character this side of Salander in many a year. You can literally hear the Beatles as this andrenalined narrative jets along.

 

Das sind die lobenden Worte eines „Lautsprechers“ der englischen Kriminalliteratur, Ken Bruen, aber sie rauschen etwas zu knallig an der Erzählweise der Romane von William Shaw vorbei. Die bislang vier Bücher mit dem Ermittlerteam Breen & Dozer rufen tatsächlich das alte England der „Swinging Sixties“ wach, aber sie sind allesamt ruhig inzensiert, ohne die Knalleffekte literarischer Pop-Art. Und es macht Sinn, sie in Reihenfolge zu lesen. Die ersten Drei, vorschnell zur Trilogie ausgerufen, gibt es auch in deutscher Übersetzung von Conny Lösch (immer ein Gütezeichen), mit den anglisierten Titeln „Abbey Road Murder Song“, „Kings of London“, und „History of Murder“. Der vierte Thriller erscheint am 8. Mai in England.

William Shaw entmystifiziert jene Ära, in der Rassismus, Frauenfeindlichkeit und eine menschenverachtende Aussenpolitik (Nigeria/Biafra) an der Tagesordnung sind, und die aufkommende „Gegenkultur“ permanent attackiert wird. Wiliam Shaw verfügt nicht über den trockenen, schwarzen Humor der Sean Duffy-Kriminalromane aus nordirischen Bürgerkriegszeiten, aber dafür über gleich zwei faszinierende Ermittler. Breen: der Distanzierte, der  sich schwertut mit dem aufkommenden Freigeist, Tozer, die Sensible und Aufbegehrende: zu Beginn ihres Polizeidienstes steht sie eher auf die frühen Beatles, die betörend einfachen, profunden Liebeslieder. All My Lovin‘ – ahhhh!

 

3 – RESHAPE, REMODEL

 

All My Lovin‘ – ahhhh! Wieder 19 sein, aber die Lebenserfahrung und das Selbstbewusstsein von heute in das jüngere Ich transportieren, und dann sicher anders vorgehen, hier und da, willkommen, ihr alten Scheidewege! Wäre das nicht ein Heidenspass, ein Thrill ohne Ende, und manchmal eine ziemlich verstörende Angelegenheit?! In seinem Zeitreiseromanklassiker „Replay“ geht Ken Grimwood alternativen Lebensoptionen nach, und hat damit im alten Jahrtausend einen Kultklassiker dieses alles andere als zeitlosen Themas geschrieben. Anbei finden Sie Brad Meltzers Liebeserklärung an „Replay“! Und seien sich sicher: das ist alles andere als ein komödiantischer Vorläufer vom täglich grüssenden Murmeltier! Bittere Ironie: Grimwood abeitete gerade am Nachfolgeroman, da kam ihm die Zeit dazwischen. Die gnadenlose Spielart der Zeit, die keine Geschenke bringt.

 

4 – SOMETHING WENT TERRIBLY WRONG

 

Das gnadenlose Wirken der Zeit, das keine Geschenke bereithält, Variation. Die Eröffnungssequenz ist fantastisch: das Kind im Arm, das Handy am Ohr, die Waschtrommel, die kleinen Widrigkeiten, der Gang zum Auto, es kann kaum alltäglicher sein, doch von einem Laut bis zur folgenden Lautlosigkeit vollzieht sich ein Break, und die Frau in der Szene braucht zehn Sekunden, etwas zu realisieren, und dann sind es auf einmal drei Jahre, und immer noch ist der Schock, dass etwas Schreckliches passiert ist, tiefenwirksam, und keiner weiss, was genau, wie und warum. Aus solch einem Mystery-Szenario liessen sich fürchterliche Filme machen, aber bei Damon Lindelofs erstem grossen Opus seit „Lost“ darf man, zurecht, höchste Qualität erwarten.

Hier stranden und scheitern die Menschen in Scharen, die Zurückgebliebenen sind wahlweise tief verstörte Einzelkämpfer, um Reste von Würde und Versöhnung bemüht, oder verbitterte Zyniker, in Lebensverachtung und dunklen Riten vereint. Bewegend, wie das Geschehen oft von Stille unterwandert wird, alle Dialoge unhörbar, und die Musik aus dem Off zur zweiten Erzählstimme wird, und aller Erstarrung wenigstens ein Zeitmass, eine Melodie an die Hand gibt. Die kurzen Zeitreisen hier sind gesammelter Schmerz. „The Leftovers“ (Staffel 1) ist grosses, düsteres, unfassbar spannendes Kino für die eigenen vier Wände. Und, ich verspreche Ihnen: das ist erst der Anfang. (Joeys Liste wird bald ein neues Update benötigen.)

 

5 – FIXING A HOLE

 

Erinnerungsseligkeit ist den Menschen von „The Leftovers“ völlig fremd, „the past is a different country“, bei epochalen Werken der jüngeren Musukgeschichte ist Verklärung leicht zu haben, und verstellt den klaren Blick. Wer braucht schon eine Vitrine? Nach wie vor ist dieses Album (das ich in allen Fassungen besitze, derzeit läuft das 2009 erschienene, remasterte „Mono-Vinyl“) eine sprudelnde Quelle, überreich, unerschöpflich.

Schon das Foto, wenn man das Album aufklappt, und die Beatles einem direkt in die Augen schauen, in dem wunderlichen Outfit als „Lonely Hearts Club Band“, eine Schau, kaum weniger faszinierend wie das legendäre Cover selbst. Man wurde, durch den Blickkontakt allein, Teil des Clubs und all seiner Schwingungen zwischen Fernost und Liverpooler Kindheit, zwischen Meditation, britischer Burkeske, surrealer Träumerei, und all den Orten, zu denen dich das Album transportierte.

Die Platte verbreitete sich wie ein Lauffeuer. In einem klugen Aufsatz über die Wirkungsgeschichte von „Sgt. Pepper“ las ich vor Jahren, wie in der Stadt, in der alle Blumen in den Haaren tragen sollten, über Wochen, die Musik von drei Platten gleichzeitig aus vielen Fenstern drang, und eine spezielle Symphonie der Grossstadt erzeugte, „A Love Supreme“, „Bringing It All Back Home“ – und „Sgt. Pepper“.

Die nun anstehende grosse Neudarbietung, in der Deluxe-Fassung, enthält alles, Outtakes und Mono (für die Beatles „the real thing“), erstmalig Surround, und verwandeltes Stereo. Beim seinerzeit ohnehin wenig beachteten Stereo-Mix schlichen sich bekanntlich gravierende Fehler ein (die wir beim Hören ausblendeten, gar nicht wahrnahmen, weil der Rausch des Hörens uns nicht in kleinliche Tonfrickler verwandelte). Der Sohn von George Martin wusste, wie sein Vater tickte, und leistet nun wohl ganze Arbeit. Man darf gespannt sein, wie radikal der neue Stereo-Remix die Wahrnehmung aushebelt, die Tim Sommer vor einem Jahr im „Observer“ auf den Punkt brachte:

 

„In mono, Sgt. Peppers’ sounds like an urgent, anxious and sometimes alarming statement; it’s not the over-large bouquet of sickeningly sweet aromatic flowers it appears to be in stereo. Rather then seeming like a fanciful, welcoming LSD dreamscape, the mono version comes across as an almost cynical reflection of its time. The mono Sgt. Pepper’s often sounds skeptical, mocking and it’s altogether more thoroughly rocking.“

 

Das englische Magazin „Mojo“ (Juni 2017j widmet der neuen Edition von Sgt. Pepper allerlei aussagekräftige Beiträge. Paul McCartney kommt zu Wort, Giles Martin, andere Gestalten aus dem Hintergrund, berühmte Zeitzeugen. Jon Savage blickt hinter die Oberflächen jedes einzelnen Songs. „Fixing A Hole“ etwa erzähle von Einsamkeit und köperlicher Arbeit, meilenweit entfernt von den alten Zeiten und dem üblichen Pop-Irrsinn. Die Beatles hatten vor der Produktion des Albums eine längere Auszeit genommen, und waren bereit für Veränderungen. So gehe es in dem Song auch um die Mühen, die jeder Weg zur Erleuchtung mitbringt, und nichts ist im „summer of love“ skurriler als die Reparaturarbeiten an einem Loch zu schildern, durch das Regenwasser dringt. „I’m painting my room in the colourful way / And when my mind is wandering / There I will go / Ooh ooh ooh ah ah / Hey, hey, hey, hey“. Ich sagte ja: nichts für die Vitrine und den Staub im Regal.

 

There you will go, dear listener, ooh ohh ohh ah ah!

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4 Comments

  1. ijb:

    Dank dir für den Hinweis auf MOJO. Muss ich direkt mal schauen, wo ich das Heft finde, für meinen Vater (geb. 1950), wenn ich demnächst mal wieder zu Besuch fahre, auf dem Weg von Berlin nach Cannes. Auf mich als Kind im Hause von Eltern, die Kinder der 50er/60er waren, war „Sgt Pepper“ natürlich ein wesentlich prägender Einfluss, so dass ich wahrscheinlich kaum ein Album früher auswendig mitsingen konnte.

    Bin gerade von meinen ausgedehnten Fahrten durch den Osten der USA zurückgekommen; die letzten zehn Tage waren dicht gepackt mit im Wechsel langen Strecken von ganz im Norden, aus den letzten Resten des Winters zwischen Burlington (Vermont) und Portland (Maine) bis in den bereist hochsommerlichen Spätapril in Miami (von wo aus mich EuroWings wieder zurück nach Deutschland brachten) und spanenden Gesprächen mit diversen Hardcore-Konservativen und weltoffenen Liberalen. Da findet man wirklich eine zweigeteilte Welt vor, wo man sich fragt, wie diese unvereinbaren Weltsichten irgendwie zusammengeführt werden sollen. Fast alle scheinen sich danach zu sehnen, nach einer verbündenden Stimme, aber beide sind doch sehr in ihren jeweiligen Prioritäten und „Bubbles“, die einen in ihrer vollkommenen Überzeugung, dass die USA mehr Waffen und mehr militärische Macht braucht und sich mit dem Streichen von business-feindlichen Regulations und mit Tax Cuts wieder zur wirtschaftlichen Weltmacht aufschwingen soll (anders als die „pansies“ in Europa), die anderen mit ihrem Wunsch, dass sich die Politik doch mal wieder auf die einfachen Menschen einlassen möge und weltoffener denken solle. Ist wahrscheinlich klar, welche Seite derzeit die Oberhand hat…

    Auf den Fahrten habe ich die Klanghorizonte gehört, teils mehrfach, und mir gestern direkt das Album von Sun Kil Moon geordert, in Unkenntnis der übrigen Songs. Worin liegt denn die „Kontroverse“ bei dem Album? Das (bzw. eine Kontroverse) ist irgendwie vollkommen an mir vorbeigegangen. Jeb Loy steht nun auch noch auf meiner Liste. Bei Timbre Timber bin ich mir nicht so recht sicher…

    In Burlington kaufte ich (neben Rhiannon Giddens neuster CD) Kendrick Lamars aktuelles Album und hörte es unablässig entlang der Strecke bis in ganz den Süden. Auch Valerie Junes beide Alben und mehrere von Laura Marling hatte ich dabei, und sie passen ganz wunderbar zu Fahrten durch die Staaten. Ach ja, apropos Dylan: Bei WalMart in North Carolina stieß ich auf das 4-CD-Set „Chimes of Freedom“, für gerade mal 9 Dollar. Hat das jemand von euch gehört? Passte sehr angenehm zur Fahrt durchs ländliche North Carolina…

  2. Michael:

    Das gefällt mir natürlich, meine Stimme auf amerikanischen Highways! Bei den Frauenstimmen bin ich ganz auf deiner Seite! Ich hätte noch Ray Davies dabei gehabt, zweimal Jayhawks, einmal Lucinda Williams, und fünfmal Neil Young (After The Goldrush, Psychedlic Pill, Comes A Time, und On The Beach).

  3. ijb:

    „Psychedelic Pill“ und „Americana“ hatte ich auch dabei. Auch Van Morrison („Philosopher’s Stone“ ist mein Favorit von ihm; „It’s too late to stop now“) und Wilco.
    Und besonders in Städten gerne The Roots, Danny Brown und Kendrick Lamar. Kanye West ist daheim geblieben ;-)

  4. MHQ:

    theguardian.com / the-kinks-ray-davies-brexit-is-bigger-than-the-berlin-wall …


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