So nannte Raffalt sein Essay über das Leben des Fürsten von Venosa, Carlo Gesualdo, der dessen getriebene und psychopathische Existenz, aber auch seine Genialität eindrucksvoll beschrieb. Vor ein paar Tagen erzählte ich, dass mich als Sohn einer Musiklehrerin Musik von Kindheit an begleitet hat. Aber das war, zum Leidwesen meiner Mutter, nicht unbedingt die klassische Musik, bis auf eine Ausnahme: die alte Musik der Renaissance. Eine Musik, die noch keine Temperierung und keinen klassischen Regelkanon kannte. Dowland, Lasso, Tallis, Byrd, Dufay, Ockeghem und viele mehr berührten mich bereits als Jugendlicher tief und ich liebte diese Musik, selbst wenn ich mit ihren oft sakralen Inhalten zeitlebens nicht viel anfangen konnte. Aber all das war nichts gegen die abgründige Faszination, die mich vor allem mit dem Spätwerk Carlo Gesualdo’s verbindet.
Dieser hochgebildete Sonderling, der zeitlebens nur wenige Freunde fand und in der Abgeschiedenheit seines Schlosses wie ein Getriebener arbeitete und komponierte und gegen die Qualen seines Gewissens ankämpfte und zugleich einer der wenigen Virtuosen im Spielen des Archicembalos, eines mehrmanualigen, mikrototal gestimmten Großcembalos gewesen sein soll. Kaum zu tragfähigen zwischenmenschlichen Beziehungen fähig war es kaum verwunderlich, dass seine erste, recht attraktive Frau bald anfing fremdzugehen, was sie mit dem Leben bezahlen sollte. Gesualdo blieb aber dank bester Beziehungen zum Klerus und als Großneffe des Papstes Pius IV und Neffe des Kardinals Borromeo von einer Strafe verschont und musste lediglich den Orten des Geschehens für ein Weilchen fernbleiben. Aber in ihm scheint diese Tat ein Leben lang weiter an seiner Seele gezehrt zu haben, was künstlerisch in selbst für die damalige Zeit extremsten Spannungsbögen und dissonantester Dramaturgie seinen Ausdruck fand, die in ihrer kompositorischen Gewagtheit erst Jahrhunderte später wieder aufgegriffen werden sollten. In seiner Affinität für Exzentriker widmete sich auch Werner Herzog in seiner ungewöhnlichen Dokumentation Gesualdo – Death for five Voices dieser düsteren Persönlichkeit.
Gesualdo entwickelte dabei einen so eigenen Stil, dass Watkins in seiner Monografie über ihn schreiben kann, dass er, gemessen an der Quantität späterer Musik, die nach ihm klinge, einer der einflusslosesten Komponisten der Geschichte gewesen sei. Aus postmoderner Perspektive ist aber vielleicht gerade die kreative Originalität ein Prädikat und weniger die Frage nach der prinzipiellen Kopierbarkeit. Weiter schreibt Watkins dass die Schmerzlichkeit seiner Musik nicht nur der kühnen Chromatik sondern auch den prägnanten und unverhofft eingesetzten Dissonanzen, gesäumt von dunklen Akkorden entspringe. Und schließlich entspreche das Gefühl aufgehobener Tonalität und totaler Ergebnislosigkeit dem Charakter des Unbegrenzten, die besonders in seinen Responsorienzyklen Ausdruck findet. Genau diese wurden vom Hilliard Ensemble 1991 eingespielt und begleiten mich seit Jahren in dieser Zeit, ohne je etwas von ihrem Reiz eingebüßt zu haben. Anders als die viel bekannteren späten Madrigale Gesualdos, die mir viel offensiver und schärfer erscheinen, verbreiten die Responsorien trotz allen musikalischen Wagemuts eine fast sakrale Ruhe. Ein Wohlgefühl für eine kurze Weile einmal in einer ganz anderen, geborgten, fremden Zeit leben zu dürfen, in der die Aufbruchstimmung der Spätrenaissance genauso spürbar wird, wie die simple Tatsache, dass damals die Erfahrung von Stille oft nur wenige Schritte vor der eigenen Haustüre beginnen konnte.