Die Glyptothek München ist mittlerweile dafür bekannt, Altes und Neues kreativ zu vermischen oder provokativ gegenüberzustellen – zuletzt mit der Ausstellung Zerklüftete Antike mit den Holzbildnissen von Andreas Kuhnlein. Geschaffen wurde ein visueller Dialog zwischen Zerstörung und Bewahrung, Zeit und Ewigkeit, Zerfall und Unberührbarkeit. Man erlebte ein essentielles Angerührtsein. Die Ausstellung Musa von Luca Pignatelli ist eine weitere Variation dieses Ansatzes. Pignatelli ist ebenfalls ein Künstler, bei dem die Zeit in sein gesamtes Werk verwoben ist – er arbeitet mit Materialien, die bereits weggeworfen wurden, mit Abfällen und Dingen, die keine Zukunft mehr zu haben scheinen und setzt sie in einen neuen Zusammenhang.
Zwischen den antiken Plastiken der Glyptothek hängen deren zweidimensionale Abbildungen der ausgestellten Skulpturen, meist in Blau. Man spaziert durch die vertrauten Gänge, beobachtet von blicklosen Augen, von denen wir gerne wüssten, wie sie uns sehen – und plötzlich sind es viel mehr Augen als gewohnt, denen man standhalten muss. Ein seltsames Beobachtetwerden. Als wären sie aus ihren steinernen Hüllen herausgetreten und betrachteten ihre unsterblichen Körper von aussen. Flächig aufgeteilt, in andere Muster eingebettet leben sie bereits in einem anderen Kontext, stille Wächter ihres Ursprungs.
Warum „Muse“? Schutzgöttinnen der Kunst … heute würden wir sagen: der kreative Anteil eines Künstlers, der sich von Zeit zu Zeit Bahn bricht und nach aussen drängt. In der Antike gefiel offenbar der Gedanke, dann von einer Göttin geküsst worden zu sein besser – eine Art Befruchtungsakt, bei dem etwas zur Welt kommt, eine verlockende Phantasie, besser als ein einsames Gebären, bei dem einem niemand erwartungsvoll über die Schulter schaut. Der Glanz im Auge der Mutter, über den ersten selbstgebauten Turm …. ja, auch Künstler sind nicht gern allein, da greift man gern auf Mythen zurück. Wie heisst dann der gute Geist der Künstlerinnen? Musus?
Sehen die blauen Wesen überhaupt etwas mit ihren blicklosen Augen? Oder sehen sie mehr, weil sie sie geschlossen haben? Man sieht nur mit dem Herzen gut sagte der kleine Prinz – diese Geschichte konnte ich nie leiden, ein hochgejubeltes Kinderbuch mit reichlich Plattitüden, Sentiment und Wortgeklingel, aber die Welt hat offenbar beschlossen, ihn der grossen Literatur zuzuordnen. Und wie oft täuscht sich das Herz in seiner Einschätzung und täte gut daran den Verstand herbeizurufen?
Das Motiv der Doppelaugen finden wir bereits bei Cocteau, der den Dichter gerne als sehend – nichtsehend – mit auf die geschlossenen Lider aufgemalten Augen abbildet. Sie wirken unheimlich – wie alles, wovon wir nicht wissen, ob es tot oder lebendig ist, der Blick ist seelenlos. Vielleicht ist es ja auch kein Sehen – eher ein Drohstarren, das sich den anderen vom Leibe halten will, dergleichen braucht man wohl manchmal auch als Künstler – und wies dahinter aussieht, geht niemand was an. Ein guter Schutz.
Seltsame Wege gehen die Gedanken zwischen blauen Musen, die die Körper betrachten, aus denen sie geschlüpft sind. Wie ist das wohl wenn man sich von aussen sieht? Fühlt man sich wie der Schmetterling vor der Larvenhülle oder möchte man zurück in die Stabilität des Dreidimensionalen? Oder bleibt man einfach – wie der Zuschauer – in dieser dialektischen Spannung und schaut was passiert? Mit zunehmendem Alter sympathisiere ich immer mehr mit dieser Position, sie scheint mir unterhaltsamer … Superposition.
Seltsame Wege …