Welche Faszination übt das Theater aus, so dass ein junger Mensch sich dazu entschliesst, den Schauspielberuf zu erlernen? Die Theaterschauspielerin Brigitte Horn versucht es zu beantworten – es scheint manchen Menschen eingepflanzt, dieses „Ich wusste immer dass ich spielen wollte“ als inhärente Triebfeder eines Menschen, die es letztlich schafft, dass er alle Hindernisse auf diesem dornigen Weg überwindet. Die – wenigen – Schauspieler, die ich auf der Couch hatte, formulierten es ähnlich, eine Art Berufung, wie es auch Priester formulieren, wenn man sie nach Ihrer Berufswahl fragt. „Ich will spielen! Ich hatte nie einen anderen Wunsch! Ich wusste das von Anfang an!“ Etwas anderes kam für sie nicht in Frage – eine Haltung, die mir immer Respekt abnötigte, ich sah einen Menschen, der etwas liebte und dafür Opfer brachte, eine Obsession und eine geheimnisvolle Art von Berufung. Sicher auch ein Fressen für Psychoanalytiker, die ihrem Trüffelschweinmodus nachgehen wollen und sich weigern, den Dingen ihren Zauber zu lassen – so formulierte es dereinst Gandalf und auf dessen Meinung gebe ich viel.
Für diesen Beruf braucht man also eine starke Sprungfeder im Inneren – wie ich beim Lesen einsah. Brigitte Horn schildert ihren Werdegang als junges Mädchen mit einem zuerst naturwissenschaftlichen Beruf, den sie aber nicht ausüben wollte und ihren Weg auf die Theaterbretter – falls ich selbst diesen Weg hätte auch beschreiten wollen, würde mir dieses Buch den Angstschweiss auf die Stirn getrieben haben über die Kämpfe die ich zu bestehen hätte und die Unsicherheiten mit denen ich leben müsste.
Die Filmwelt schien für sie nie eine Option gewesen zu sein, stattdessen zog es sie zum Theater – eine für den Aussenstehenden geheimnisvolle Welt, bestehend aus Vorhängen, einem Schnürboden, Stunden in der Maske, aufwendigen Kostümen und Requisiten, einem Souffleur und vermutlich 1000 Tricks, die Schauspieler anwenden um Pannen verhindern oder überbrücken zu können – falls sie es einem verraten. Recht viel mehr weiss der Laie meistens nicht vom Theater, sicher sind auch Klischees dabei – und das ist schade. Und es stellt sich die Frage, wie lange es diese Welt noch geben wird in unserem digitalen Bilderreichtum und Überflutungswellensalat, bei dem man nie weiss, ob man jetzt mit einem Avatar, einem Bot, einer KI oder anderen blutleeren Zeitgenossen kommuniziert. Theater heisst auch, lebendigen Menschen bei der Arbeit zuzusehen, uns einen anderen Menschen und sein Schicksal nahezubringen. Und wenn sie sich mal verhaspeln oder stolpern – umso besser; Avatare stolpern nicht, lebendige Menschen tun das. Fand ich immer wohltuend – somit eine Welt, die nicht untergehen sollte.
Die Autorin vermittelt noch anderes über ihren dornigen Weg: Konfrontationen mit Menschen, von denen ihr Weiterkommen massgeblich abhängt und deren oft irrealen Wertungsmasstäben, narzisstischen Selbstinszenierungen und anderen intrusiven Kränkungen und Begehrlichkeiten, die junge Frauen so über sich ergehen lassen müssen. Und sich in einer Szene zu bewegen, in der keine exakten Wertmasstäbe existieren – was dem einem gefällt, findet der andere blöd – es scheint schwierig zu sein, hier ein konsistentes Bild von sich und seinen Fähigkeiten aufzubauen. Wie gut bin ich eigentlich? Werde ich das alles können was die Rolle mir abverlangt? Sehr verunsichernd für einen jungen Menschen, der altersentsprechend noch keinen festen Boden unter den Füssen hat. Vielleicht das Schwierigste an dem Ganzen … Selbstwert aufzubauen. Besonders auch noch für eine junge Frau die in der Nachkriegszeit aufwuchs.
Eine Patientin, die Schauspielerin werden wollte, wurde von zahlreichen Schauspielschulen wegen Talentfreiheit abgelehnt, bemühte sich trotzdem um ein Engagement, kam bei einer privaten Schule unter und über Jahrzehnte bis heute kann ich sie alle paar Wochen im Fernsehen beäugen und sie macht ihre Sache wirklich gut.
Dann dazu das Mobbing unter Kollegen, das Schleppentreten – ein Terminus, von Brigitte Horn erfunden und inzwischen wohl in der Szene verankert – so etwas wie Zickenkrieg unter Theaterdamen. Launische Regisseure und neidische Kollegen, aber auch unverhoffte Sympathien, Empathie und Hilfestellungen. Und das berauschende Erlebnis der Verschmelzung mit dem Publikum, wenn man bemerkt, dass es mitgeht und man darauf spielen kann wie auf einem Instrument, dem man die gewünschten Töne entlockt – was ein Moviestar vom Film nie erlebt, weil er nie einen Raum in Gleichzeitigkeit mit dem Publikum teilt und das Gefühl nicht kennt, dass Hunderte von Augen auf einem ruhen. Ein bisschen kenne ich das vom gefürchteten Vorträge halten – den magic moment, in dem man spürt „Ich hab sie! Jetzt geh’n sie mit!“ Ab jetzt könnte ich auch das Telefonbuch vorlesen. Das hat was, echt!
Dann die vielfältigen Möglichkeiten technischer Pannen, die Grenzen, die der eigene Körper setzt, die ständige Wohnungssuche, existenzielle Unsicherheit. Die Autorin geht durch alles hindurch ohne ihr Ziel aufzugeben – gewissermassen reinen Herzens – wie Simplizissimus, der das Schlimme der Welt an sich ablaufen liess und seinen ureigensten Wesenskern bewahrte.
Man hätte gern noch mehr erfahren: Wie erarbeitet man sich eine Rolle, wie fühlt man sich dabei, was bleibt von der dargestellten Person zurück, wenn der letzte Vorhang gefallen ist, besteht die Gefahr sich zu verlieren und nicht mehr zurückzufinden oder bereichern die Rollen die man spielt? Was bleibt? Welche Ängste hat ein Schauspieler? Wie erträgt man das ständige Beobachtet werden – bis in die tiefste Seele? Oder ist es möglich, die tiefste Seele doch zu verbergen und wie macht man das? Wie weiss man welche Rolle zu einem passt? Wie wirkt sich diese Tätigkeit in Partnerschaften aus – und anderes? Ich hätte da auch noch viel profanere Fragen: Wie schafft man es bei der ganzen Auswendiglernerei, nicht verrückt zu werden (deswegen habe ich das Medizinstudium geschmissen, ich wollte mein Hirnvolumen noch für anderes verwenden) und was macht man wenn man während der Vorstellung plötzlich ein menschliches Bedürfnis verspürt? Man mag mich jetzt profan schimpfen, aber ich denke, dass das Aussenstehende schon auch beschäftigt.
Aber vielleicht gibt es ja noch einen Folgeband, der uns noch tiefer ins Innenleben der Mimin / des Mimen führt. Auf jeden Fall: Ein anstrengender Weg, beschrieben mit leichter Feder, erfrischender Spontaneität und einer grossen Liebe für die Welt der darstellenden Kunst und ein Beitrag zur Erhaltung einer jahrtausendealten Kultur. Möge sie noch lange bestehen.