Wer ein Buch lesen will, das prima vista als populärwissenschaftliches Sachbuch rüberkommt, wird hier nicht gut bedient – immerhin ist der Autor Philosophieprofessor und setzt ein entsprechendes Niveau an – da muss man an den meisten Sätzen ganz schön herumkurbeln und manches bleibt einem vielleicht ganz verschlossen. Trotzdem liest man mit Gewinn.
Der Autor befasst sich mit den Mechanismen der von ihm so bezeichneten „Erregungsgesellschaft „, von Rezensenten als wesentlicher Beitrag zur heutigen Gesellschaftstheorie so bezeichnet und überwiegend wohlwollend rezipiert.
Ausgehend vom ursprünglichen Begriff der Sensation als einfache Wahrnehmung nimmt er eine Umdefinition vor zur Sensation als zentralem Agens heutiger westlicher Gesellschaften und ihrer Kulturen, in denen ein sensation-seeking, ein beständiges Bedürfnis nach Reizen und nach Wahrgenommenwerden besteht. Esse est percipi als zentraler Satz: Ich bin nur existent, wenn ich wahrgenommen werde und das noch auf möglichst spektakuläre Weise – und die digitalen Medien in ihrer einfachen Handhabung und der Möglichkeit zu vollkommener Anonymität ermöglichen das in beliebig hoher Schlagzahl. Ein weitere Auffächerung der Möglichkeiten bietet noch das Darknet mit vielfältigen Möglichkeiten zum Trollen, Dissen, Haten, Spammen und Doxen in Eigenregie. Hauptsache, es ist was los.
Türcke spricht von suchtartig gebrauchten und „infusionsartig verabreichten audiovisuellen Schocks“, die sich die User mehrmals täglich verabreichen als neuen Fetisch zur Erhaltung ihres levels of arousal. Das virtuelle Spektakuläre als Erregungsquelle ersetzt zunehmend auch die etwas unbequemer zu erringende Erotik- und Sexualbefriedigung – früher machte man sich Sorgen, wenn der 20jährige Sohn noch Jungfrau war, heute findet man sich achselzuckend damit ab, dass er eben ein Nerd ist und die brauchen dergleichen halt nicht mehr – notfalls gibt’s die camwhores und das mühsame und mit Kränkungsgefahr verbundene Mein-schönes-Fräulein-darf-ichs-wagen-Abstrampeln entfällt auch. Enkelkinder gibt’s auf diesem Wege halt dann nicht. Vielleicht dann als virtuelle Hologramme, das kriegen wir doch auch noch hin.
Türcke geht in seiner Analyse zurück in archaische Zeiten, als die Sensation (Traumapsychologen würden hier von einem Durchbrechen des Reizschutzes und Bildung einer Erinnerungsspur sprechen) noch als Epiphanie des Heiligen galt, z. B. ein Blitzschlag, von im Moment vermutlich erzürnten Göttern geschickt und gegen dessen Wiederholung entsprechende Vorsichtsmassnahmen oder Beschwichtigungsrituale getroffen werden mussten. Der Beginn magischen Denkens, eine Vorform des kausalen Denkens, eine erste Vorstellung des Transzendenten und der Beginn von Kultur und Spiritualität. Und natürlich auch übelstem Aberglauben, als unerwünschtes aber nicht zu verscheuchendes Nebenprodukt, das wieder die Frauen abkriegten, die dann in möglichst jungfräulichem Zustand dem Gotte geopfert wurden – was immer der dann auch damit anfing – zuletzt zu bewundern in King Kong (1939).
Einbezogen wird Freuds Kulturtheorie und seine Abhandlungen über den Wiederholungszwang, mithilfe dessen der Mensch versucht, ein Trauma handhabbar zu machen, indem er es ständig wiederholt – die moderne Traumapsychologie geht zu diesen Axiomen deutlich auf Abstand, da kennt man eher das zwanghafte Vermeiden von Traumatriggern. Was dagegen gern wiederholt wird sind Beziehungstraumata, aber das ist eine andere Geschichte.
Überhaupt wartet man auf eine kritische Bewertung von Freuds Konstrukten bei Türcke vergebens, aber der Mann kann ja nicht alles machen und bemüht sich wirklich um ein Einbeziehen von historischen Ansätzen, auch Adorno und Horkheimer kommen zu Wort, so langsam gehören die ja auch zur Historie. Auch neuropsychologische Ansätze werden einbezogen, womit die Hausaufgaben durchaus gemacht wären. Die Entstehung der Erregungsgesellschaft datiert er zurück auf die Etablierung der frühen kapitalistischen Gesellschaftsformen und ihrem Bedürfnis nach einer immer aggressiveren und intrusiveren Werbung für die Absatzmärkte, die sich möglichst zügig ins Unterbewusste bohren sollte, heut nennt man’s branding.
Das klingt schon gefährlich genug, da kommt bei mir immer das Bild eines Kälbchens, das ein Brandzeichen ins Fell verpasst kriegt – ich kann’s nicht ändern, aber vielleicht ist ja auch was dran. Zumindest ist es ein bindungsschaffendes Ritual – Besitz ist ja auch eine Form von Bindung, wenn auch nicht unbedingt von beiden Seiten erwünscht. Zumindest nicht vom Besessenen – oder wie man den passiven Modus dann so nennt.
Gewünscht hätte man sich auch noch eine nähere Betrachtung einer neuen Definition von Identität, wenn der Mensch in verschiedenen Körpern und Avataren als digitaler Hybrid in allen möglichen Parallelwelten unterschiedliche Leben lebt, was letztlich auch ein Produkt einer immer gieriger werdenden Stimulationssuche ist. Wann kommt der Punkt, an dem wir nicht mehr wissen werden, wer wir sind – oder haben es einige schon dahin geschafft, die kritische Menge an digitalem Junkfood zu überschreiten, bis hin zum Quantensprung auf die nächste Umlaufbahn eines ganz neuen Ichs?
Ist eine Zunahme von Erkrankungen mit Störungen des Realitätsbezuges nicht schon erreicht und wenn ja wird das vielleicht dann frischfröhlich als neue Normalität umdefiniert? Dann sitzen die Digitalverweigerer in den Kliniken und die Verrückten rennen draussen herum in ihrem selbstgeschaffenen Gotham City – ein beliebtes Karikaturmotiv der Sechziger, vor allem im damals heissgeliebten Pardon.
Gemäss seinem Thema ist das Buch selbst keine Reiz – aber eine Bit-Überflutung mit entsprechend hoher Informationsdichte, das nicht leicht zu bewältigen ist – liegt natürlich auch daran, dass ich kein Philosophieprofessor bin, sondern ein etwas inferioreres Fach gewählt habe. Da müssen reichlich synaptische Verbindungen neu verlegt werden.