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2024 12 Juni

Fundstück 3 – Die Generation Jetzt-noch-nicht

von: Ursula Mayr Filed under: Blog | TB | 13 Comments

 
 

Der schlimmste Mensch der Welt (Norwegen, 2021) von Joachim Trier –
ein etwas seltsamer Titel und zahlreiche Nominierungen zeichnen ihn aus.

 

„Wer wird denn weinen, wenn man auseinandergeht, wenn an der nächsten Ecke schon ein andrer steht …“ sang Marlene Dietrich dermaleinst: das Hohelied der Bindungsunfähigen oder -unwilligen, die uns ihr Defizit als Lebenskünstlertum verkaufen wollten. Der Protagonistin des Films, Julie, fehlt es an solcherart Zynismus, trotzdem wartet für sie das Glück immer hinter der nächsten Ecke und will sich in der Gegenwart nur bruchstückhaft und wenig glaubhaft manifestieren.

Als Endzwanzigerin der vielgeschmähten Gen Z angehörend und von der Natur mit allen guten Gaben ausgestattet, schlängelt sie sich durch ihr Leben wie eine Forelle durch einen Bach, mal geruhsam mäandernd, mal sich treiben lassend, aber immer seltsam ziellos, mit einem ebenso hohen wie diffusen und schwer zu versprachlichenden Glücksanspruch. Sie weiss nicht, was sie will, aber durchaus, was sie nicht will und in der Regel ist es meistens das, was sie gerade hat, und dieses versteht sie sich trefflich schlechtzureden.

Das Medizinstudium wird geschmissen, ein Psychologiestudium ebenso, eine fotografische Ausbildung ist auch nicht das, was sie zu sein versprach. Auch das Kind, das sie schliesslich doch erwartet, ist offenbar klug und verlässt ihren Körper sehr frühzeitig auf dem Wege, auf dem es hereingekommen ist und hinterlässt zumindest so etwas wie Erleichterung als dauerhafte Erinnerungsspur. Die Partner passen sowieso immer nicht.

Dieses Leben ist beherrscht von einem grossen Jetzt-noch-nicht als permanente Erwartungshaltung, bezogen auf ein in der Zukunft wartendes Etwas, welches man nicht versäumen darf, denn wenn man es hat, kommt das Glück. Somit wird nichts angepackt, kein Sich-Einlassen, keine verbindliche Bezogenheit hergestellt, immer wieder ein neuer Aufbruch zu verlockenderen Gestaden, bis die durchaus sympathische Protagonistin erleben muss, dass Züge nicht endlos warten, sondern durchaus auch manchmal schon abgefahren sind.

Wird sie die Kurve noch kriegen? Man erfährt es nicht, ertappt sich aber – und das ist die Stärke des Filmes (wenn im Kopf mehr passiert als auf der Leinwand, deshalb schätze ich Blair Witch Project, was immer keiner versteht) bei der Reflexion, ob ein dergestaltiges Leben ohne Richtung und Ziel nicht auch Wert und Genuss bietet. Schliesslich sprachen die Existenzialisten auch von einem permanenten Transzendieren und Sich-neu-in-die-Zukunft- Entwerfen als grundsätzliches Lebenskonzept. Wobei die Existenzialisten ihre Philosophie auch nur für die Oberschicht entwickelt zu haben scheinen – ob sich eine kinderreiche Mutter oder ein ausgepowerter Bauarbeiter ständig neu in die Zukunft entwerfen und transzendieren können bezweifle ich ja schon.

Und Beauvoir tönte auch immer über weibliche Lebensentwürfe, als wäre jede Frau mit Geistesgaben und finanziellen Mitteln ausgestattet, die problemlos den Besuch der Sorbonne ermöglichen und liess sich dann brav für den Rest ihres Lebens vom Hotelpersonal das Zimmer putzen und die Wäsche machen und hat vermutlich nie eines der Mädels gefragt, wie es ihr geht und wie sie sich ihre Zukunft wünscht. Marxisten ja … aber trotzdem eine Philosophie für die Grosskopferten.

Mit der Formulierung der Entwürfe hapert’s dann noch etwas bei Julie, der Dampfplauderin.

 
 

 
 

Oder führt sie ein buddhistisch geprägtes Leben im Sinne eines Gone, gone, gone beyond? Oder trudelt sie nur durch die Gegend, von unbewussten Kräften getrieben (bzw eher Kräften die sie von etwas abhalten), die wir nicht kennen und von denen sie nicht weiss, wie sie sie ergründen soll? Ihr Vater scheint wenig an ihr interessiert, erfahren wir by the way. Auch so ein Motor für eine ewige Suche.

Immerhin lernen wir etwas über das Lebensgefühl einer Generation, der so viele Möglichkeiten offenstehen, dass sie sich immer schwerer entscheiden kann. Oder die nur meinen, dass diese Möglichkeiten bestehen und dann vor verschlossenen Türen stehen. Ein kleiner, stiller, ereignisarmer Film, der das Kopfkino anzuwerfen versteht und auch das eigene Leben einmal kritisch auf Nicht-genug-Gelebtes abklopfen lässt.

Danach der Sprung in die Realität: Ich will zum Arzt, Rezept holen. Für Musik- und insbesondere James-Last-Freunde: Einfach einen beliebigen Arzt anrufen, dann gibt’s beruhigende Musik in beliebig langer Dauerschleife. Also hinfahren. Arzt im neugegründeten MVZ sitzt schwitzend selbst an der Rezeption und druckt Rezepte – man bekommt keine Sprechstundenhilfen mehr. „Heut machen’s ja alle was mit Medien!“ Apotheke hat nachmittags heute zu, kein Personal. „Heut wolln’s ja alle Influencer werden!“ grummelt ein erschöpfter Apotheker. Das hiesige Altenheim hat freie Betten, aber kein Personal, trotz verbesserter Bezahlung. Einen Elektriker tät ich auch brauchen … längere Wartezeiten wie ein Starpsychoanalytiker.

Ein schwebender Film, eine schmerzhafte Wirklichkeit.

 

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13 Comments

  1. Anonym:

    GenZ sind die Millennials, oder? Ich habe viel Verständnis für diese Generation. Ich habe als erstes einen handwerklichen Beruf gelernt, das ist schon eine ganz andere Plackerei. Auf eine bestimmte Weise auch befriedigend. Aber anders.

  2. Jochen:

    Früher sind die Menschen 30 Kilometer täglich gelaufen, um sich Nahrung zu beschaffen. Heute diesselbe Strecke, um der Selbstverwirklichung zu genügen. Fortschritt oder Rückschritt? Die Protagonistin deines Textes: Borderlinerin, femmes fatale – alles möglich in solchem Lebensentwurf.

    Dem eigenen Anspruch nachhecheln wie einem Schatten (Don Quixotte), den man nie einholt. Was fehlt in solcher Lebensweise, ist die Kunst zu lieben (Erich Fromm) und die glückbringende Flow-Erfahrung, wenn man mühsam Stein auf Stein setzt (Sisyphos).

    Schon wieder schlau dahergeredet, was? ;)

  3. Ursula Mayr:

    Echt schlau, Jo!

    Borderline – würd‘ ich jetzt nicht so mitgehn, da fehlen die Impulsdurchbrüche und die Spaltungen, das Mädel ist eher verhalten, diffus schwurbelig, wirkt noch sehr teeniehaft – da passt das klinische Diagnoseschema nicht. Kunst zu lieben – würde ich hier eher als durch Bindungsangst verhindert sehen. Und das mit dem Flow beim Stein-auf-Stein- setzen geht mir selber ab, bei sowas bin ich auch ungeduldig und will immer alles fertig haben.

    Hast Du den Film gesehen?

  4. Jochen:

    Nein, Ursula.

    Schau ich mir mal an, versprochen … :)

  5. Ursula Mayr:

    Muss nicht sein, Jo, vielleicht langweilst Du Dich dann, der ist auch recht lang. Aber mir wars wichtig, weil ich viel mit den GenZlern zu tun habe. Die nächste Psychotherapeutengeneration will auch grossgezogen werden. Und die sind schon SEHR anders.

  6. Jochen:

    Inwiefern?

  7. Ursula Mayr:

    Das ist nicht nur ein Generations-, sondern auch ein Schichtproblem, weil ich ja auch von einer Berufsgruppe spreche, also eine doppelt spezifizierte Kohorte. Allgemein behüteter aufgewachsen und gefördert, oft behelikoptert, wenig grenzgebende Erziehung, Eltern, die eher ängstlich sind, Traumata zu setzen und von daher inkonsequenter und eher nachgiebig, geben sich grosse Mühe den Kindern Unbill zu ersparen – woran sie wachsen könnten.

    An der Uni stark auf den Beruf konzentriert, lernen nur das, was sie unbedingt brauchen, darüber hinaus wenig Interesse an Metaebenen, Auseinandersetzungen mit Gesellschaftspolitischem nicht interessiert. Immer ’ne Wasserflasche im Rucksack – ich frage mich, wie wir es seinerzeit geschafft haben, nicht zu verdursten. Sehr hoher Liebes- und Glücksanspruch, wenig Fähigkeit, auch mal was einzustecken.

    Können eine Gedichtanalyse in vier Sprachen schreiben, aber keinen Lohnsteuerjahresausgleich beantragen bzw erstmal wissen, was das überhaupt ist. Berufswünsche eher diffus – irgendwas mit Medien, körperliche Anstrengung oder langes Stehen nicht erwünscht. Alte Damen im Bus stehen lassen geht, aber andererseits gut, die sehn’se halt einfach nicht beim Daddeln.‘

  8. Jochen:

    Danke Uschi – hochinteressant und amüsant :)

    Hab’s geahnt, wollte schon was anmerken zu Smartphone-Symbiosen und Verlorenheiten in Digitalwüsten. Aber gut, Hauptsache es gibt noch Kräfte, die mich pflegen, wenn ich Neunzig bin.

  9. Ursula Mayr:

    Bei letzterem wär ich nicht so sicher – für dergleichen am besten eine jüngere Freundin suchen.

  10. Jochen:

    War auch mein Gedanke ;)

    Ich neunzig, sie sechzig – das wär schon okay.

  11. Alex:

    da fühle ich mich jetzt ertappt, richtig festlegen wollte ich mich auch nie und habe es auch durchgehalten bis immerhin sechzig, wobei so ganz stimmt das nicht. der film interessiert mich, ich glaube den existenzialismus hast du ziemlich gut getroffen, wobei es natürlich stimmt, dass die existenz der essenz vorausgeht, erst sind wir da, dann bekommen wir eigenschaften. im grunde banal. ich genieße deinen stil, die wortwahl, den flow des textes. ganz wunderbar, danke ursula! ich wusste nach dem ersten satz, dass der beitrag von dir war.

  12. Ursula Mayr:

    Danke, Alex! Bei was hast Du Dich erwischt – beim Nichtfestlegen? Dann bist Du ein Prä – GenZler.

  13. Anonym:

    Ja, richtig. Das Leben immer offenlassen. Im Grunde läuft es auf eins hinaus. Keine eigene Familie „gründen“.


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