Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

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Archives: Juni 2024

 
 

Vermutlich hat diesen „Film des Jahres“ und Oscar-Abräumer schon jeder gesehen und für sich bewertet – also Folgendes nur noch der Ordnung halber: wert ist es der Film allemal und man soll mir nicht nachsagen, ich hätte einen Blockbuster schmählich ignoriert.

Vorab: Lanthimos hatte bisher eine Schwäche für eine Art von Parabeln. Ich mochte weder Lanthimos noch Parabeln und ich habe mich trotzdem tapfer durch den furztrockenen Dogtooth, den etwas nichtssagenden The Lobster und den leidlich spannenden Killing of a Sacred Deer hindurchgeglotzt und dann skeptisch zu Poor Things gegriffen – ignorieren kann man das ganze Getöse um die Oscars ja ohnehin schlecht. Der neueste Film vom Regisseur Kinds of Kindness wird in den nächsten Wochen in Deutschland starten, da sehen wir dann schon wie die Entwicklung des Lord of Weird Stories weiterläuft.

Und siehe da – der gern intellektualisierende Herr, der aussieht wie unser netter Getränkelieferant, der problemfrei drei Kisten auf einmal schleppt, entwickelt eine intelligente Story mit Charme, Tiefgang und sogar einem Schuss augenzwinkernder Satire und nimmt sich an keiner Stelle tierisch ernst –  wenn das mal nix ist.

Den Plot darf ich als bekannt voraussetzen:

Zunächst agiert eine Art Dr. Frankenstein – hier der zu vielem brauchbare Willem Dafoe – der aussieht wie sein eigenes Monster, (eine nette Verschmelzung cineastisch-personalisierter, aber noch nicht pensionierter und mittlerweile archetypischer Mythen, hier der des Mad Scientist mit seinem künstlichen Geschöpf). Weiter gibt es Reminiszenzen an Pygmalion und seine Galathea und Prof. Henry Higgins und die wehrhafte Eliza. My Poor Lady sozusagen).

 
 

 
 

Der Mad Scientist (ein Begriff von Siegfried Kracauer) erschafft sich eine Frau mit einem Babygehirn, die sich allerdings sehr rasch zur Erwachsenen entwickelt, ausufernde Sexualität pflegt und auch ein emanzipatives Geistesleben entwickelt. Der steinerne Galatheakopf wird demgemäss auch einige Male eingeblendet, damit wir wissen, wo wir uns mythologisch verankern dürfen.

Das Ganze neckisch aus der Froschaugenperspektive gefilmt – die Frau und ihr Verhalten unter einem distanzschaffenden Mikroskop beäugt: Ein Puffärmel-Teepüppchen (früher sassen die in weiten Rüschenröckchen hinter der Heckscheibe im Auto und tarnten geflissentlich eine Klorolle) in einem gemischten Barbie -, Lego – , Disneyland- Dekor – hier schafft Lanthimos eine ganz individuelle Ästhetik die sich sicher zur Ikonographie (eine Rezension ohne dieses Wort ist mittlerweile keine mehr, das wär also hiermit schon mal erledigt) auswachsen wird – und begleitet von einem mal wummernden, mal schreienden aber immer gut akzentuierenden und die Story untermalenden Soundtrack.

Bei diesen ganzen Accessoires vergisst man förmlich, dass das Thema im Grunde ein uralter Hut ist – sexuell und intellektuell erwachende Frauen umgeben von begehrlichen, aber überforderten Männern, (schnarch!) wachsen in der westlichen Welt natürlich überall am Wegesrand, aber meistens nur in Form von vorhersehbaren Beziehungsdramoletten oder gar -komödien, bei denen sich nur noch die ganz schlichten Gemüter schlapplachen können (die Frau macht flott und mühelos Karriere, der Mann stellt sich daheim im Haushalt blöd an, ja mei, is des lustig, jetzt haben wirs den Mackern wieder so richtig gesagt! Oder so oder ähnlich! Allerdings haben letztere schon längst abgeschaltet oder sind mit der Fernbedienung im Klammergriff weggepennt).

Viele Kritiker überschlugen sich, viele User reagierten verhalten, wohl angesichts der überbordenden Phantastik, ist ja auch nicht jedermanns Sache. Ein Rezensent nannte den Film eine weinerliche Abhandlung über Männlichkeit, ich würde eher von einer Abhandlung über weinerliche Männlichkeit sprechen. Ein skurriles Märchen und eines der schrägsten Emanzipationssatiren seit 1964, als Eliza Doolittle ihrem narzisstischen Professor die Hausschlappen nachfeuerte und die antike Galathea, solchermassen erweckt, hoffentlich Pygmalions Bett verliess und sich ihre Liebhaber von da ab selbst aussuchte – vor diesem feministisch befriedigenden Schluss der Geschichte hat sich Ovid, seinerseits antiker Macho, schlicht rumgedrückt, dabei hatte der auch drei Ehefrauen die ihm etwas hätten beibringen können. Womit dieser alte Mythos nun auch noch etwas aufgepushed wäre. Ein freches Märchen und eine amüsante Mythenverquirlungsorgie – damit wollen wir uns bescheiden sprach Heinz Rühmann und warf die Flinte in die Feuerzangenbowle.

Es wäre dem Regisseur zu wünschen, dass er in der Fahrt verbleibt, in die er langsam zu kommen scheint – ähnlich wie das furiose Teepüppchen das er geschaffen hat und das mit ihren überbordenden Puffärmelchen (ein Seitenhieb auf den male gaze in der Filmwelt der die Frauen vor allem für das männliche Wohlgefallen optisch drapierte) sicher noch eines Tages abhebt – to some other town, wo sie in Ruhe Medizin studieren, ihren Lüsten frönen und sicher verortet ihre Metamorphose vollenden kann.

Stay hungry, Black Barbie, and see you later im Sequel – die Schlusseinstellung war doch sicher nur ein Cliffhanger? Bin gespannt wer Dich rebootet, Tarantino hat zur Zeit eh nix zu tun …

 

2024 23 Jun

R.I.P.

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Man nannte sie die DIVA, ein Parfüm gleichen Namens wurde für sie kreiert und die Nouvelle Vague wäre ohne sie nur das halbe Vergnügen gewesen.

 

zu Jean-Philippe Toussaint, „Das Badezimmer“, btb 2007 (Original: Paris 1985), 111 Seiten, aus dem Französischen und mit einem Nachwort von Joachim Unseld

 
 

 
 

Dem namenlosen Helden begegnen wir sogleich in der Badewanne: „Ich verlebte angenehme Stunden da“, heißt es, die Lebensgefährtin Edmondsson findet ihn „ausgeglichener“, die Mutter bringt Eclairs und schließlich kommt ein Brief von der österreichischen Botschaft, der wohl ein Irrtum sein müsse, befindet der Held, da er „weder Diplomaten noch Österreicher kenne“. Weil es aber „möglicherweise nicht sehr gesund (sei), im Alter von siebenundzwanzig, bald neunundzwanzig Jahren“ (ich lese mehrmals, aber es steht wirklich so da) „mehr oder weniger zurückgezogen in einer Badewanne zu leben“ müsse er „das Wagnis eingehen (…) die Seelenruhe (seines) abstrakten Lebens auf Spiel zu setzen“: Er verlässt die Badewanne.

In der übrigen Wohnung kann der Held aber nicht auf Ungestörtheit bauen: In der Küche harren zwei polnische Künstler aus, Edmondsson hat sie bestellt, um dort zu streichen, aber mangels Farbe (die Edmondsson offenbar nie vor hatte zu besorgen) häuten die beiden mitgebrachte Tintenfische.

Ein Umzug findet statt, aber es bleibt ungemütlich, ungeheizt, und es gibt nur einen einzigen warmen Pullover für den Helden und seine Freundin, der auch noch viel zu klein ist – dazu die Begegnung mit den Vormietern und auch der Besuch zur Wohnungs-Einweihung, die Toussaint in einer kühl-ironischen Haltung als eine Abfolge von Peinlich- und Zudringlichkeiten schildert.

So endet der erste von drei Teilen, das Buch ist in kürzere und längere, durchnummerierte Absätze gefasst. Zu Beginn des Mittelteils unternimmt der Held dann einen weiteren Versuch, seinen inneren Frieden wiederzufinden: „Ich war überstürzt aufgebrochen“.

Ich suche nach einem Hinweis, wohin die Reise führt – dieser zweite Abschnitt ist mit „die Hypotenuse“ betitelt – und reibe mir die Augen: Geht es hier um Mathematik? Um das Lösen einer komplexeren Aufgabe? Oder schlicht um die Sehnsucht nach der Emotionslosigkeit mathematischer Vorgänge – „einem abstrakten Leben“ – Meine Neugier und mein Spürsinn sind geweckt: Nach und nach stellt sich heraus, dass der Held nach Venedig gefahren ist, in ein Hotel, das Toussaint, als wollte er einen Museumsbesuch beschreiben, in karger Sprache als barocke Tableaus entfaltet. Was unser Held dort mit sich anfangen soll, bleibt ihm offenbar ebenso rätselhaft wie uns LeserInnen selbst, diesem Held, der sich schließlich im letzten Teil des Buches einer „Nebenhöhlenvereiterung im Anfangsstadium“ ergibt und in ein Krankenhaus reklamiert. Von wo aus er sich mit dem behandelnden Arzt anfreundet, der ihn zum Abendessen (Nieren) und Tennisspielen einlädt. Man könnte nun meinen, in diesem letzten Teil habe der Held seine Bestimmung gefunden, da er sich schon seit der Ankunft in Venedig nach einem Tennis-Match sehnt, so sehr, dass er sich unter anderem darüber mit seiner ihm nachgereisten Gefährten Edmondsson entzweit.

Edmondsson versucht, ihn dazu zu überreden, zu ihr nach Paris zurückzukehren – in ihrer Gegenwart profiliert sich unser scheuer Held am deutlichsten: Gegen ihre „ruhige Entschlossenheit“ kommt er nicht an, lässt sich von ihr durch die Stadt, die Museen, die Kirchen führen, statt dass sie mit ihm zum Tennisplatz käme, wo er sich doch schon in aller Früh, noch vor Öffnung des örtlichen Kaufhauses, um den Kauf von Bällen bemüht hat. Zum wiederholten Mal verführt sie ihn, und die auf der Bettdecke platzierte Schachtel fällt zu Boden: „alle Tennisbälle kullerten über das Parkett“, ein Sinnbild für den Helden, der immer wieder und bis zur Selbstverleugnung versucht, „ihr zu Gefallen zu sein“ – „Nein, sie hörte mir nicht zu“, heißt es wenig später, und: „Wir hatten uns alles gesagt, wir waren uns nicht einig. (…) Angesichts soviel bösen Willens blieb mir nichts mehr zu sagen: nein, ich sagte nichts mehr.“ Die Situation spitzt sich zu: Er bleibt auf dem Zimmer, tröstet sich mit einem Wurfspiel, im gleichen Kaufhaus erstanden, sie findet ihn „beklemmend“, bittet ihn aufzuhören: „Mit aller Kraft warf ich einen Pfeil, der in ihrer Stirn steckenblieb.“ Wenig später quält den Helden selbst „ein stechender Schmerz in der Stirn.“

Ist das wirklich so geschehen? Beim Lesen lässt mich das Gefühl nicht los, einem Tagtraum beizuwohnen, denn schließlich kehrt der Protagonist doch nach Paris zurück, in die Badewanne, in exakt gleichen Sätzen und Formulierungen, so dass man sich fragt: Hat er sie jemals verlassen?

Das schmale Bändchen hat mehrere Böden, Falltüren, durch die man von einer Symbolik zur nächster rutscht, wiederkehrend, von der Dame Blanche (Vanilleeis mit heißer Schokolade), die gleich zu Beginn auftaucht als „Kombination (…) der Vollkommenheit schlechthin“ bis zu Mondrian als Maler der „Bewegungslosigkeit“.

Ich staune angesichts der Bestimmtheit, mit der Toussaint seine Szenen entfaltet: Die Absurdität stört angesichts der subtil-eleganten Situationskomik kein bisschen, die geschilderten Unannehmlichkeiten erscheinen einem auf unheimliche Weise nur allzu bekannt: Hat man sie schon gehört? Irgendwo gelesen? Gar selbst erlebt und schnell im Gedächtnis vergraben?

Toussaint legt seinen Helden auf kein Gefühl fest – in welcher Bedrängnis er sich jedoch gerade befindet oder welche Neugier ihn umtreibt, erschließt sich geradezu natürlich, ergibt sich wie das Ergebnis einer Rechenaufgabe aus der Konstellation des Helden zu seiner Umgebung: Eine Mathematik des Hingeworfenseins? Ist hier auch das fehlende achtundzwanzigste Jahr „aufzufinden“, ein verbotenerweise ausgestrichenes Jahr, ein nach Möglichkeit verdrängtes?

Leidenschaft entfalten beim Helden Spiel und Sport: Intensiv fiebert er beim Fußballmatch zwischen Inter Mailand und den Glasgow Rangers mit, das im Aufenthaltsraum des Hotels per Fernsehen übertragen wird, hier entsteht menschliche Verbundenheit mit den Männern des Hotelpersonals. „Ich begann mich mit dem Barmann anzufreunden (…) Dass uns eine gemeinsame Sprache fehlte, entmutigte uns nicht“, die Unterhaltung besteht aus Kopfnicken im Treppenhaus und in der abwechselnden Nennung der Namen von Radrennfahrern: „Was zum Beispiel Radsport betrifft, waren wir nicht zu bremsen.“

Imponierend, wie es Toussaint gelingt, die Innenwelt des Helden anhand von äußeren Vorgängen darzustellen, die nüchtern-schnörkellose Erzählweise lädt die Fantasie der LeserIn ein. Kitzelt die Sehnsucht, sich ebenfalls mal „Urlaub vom Leben“ zu nehmen, wie Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“, auf den Toussaint ganz offensichtlich anspielt: Unser Held malt sich in einem lebhaften Tagtraum aus, den österreichischen Botschafter zu treffen, den der Autor ganz ohne Umschweife „Eigenschaften“ nennt.

 
 

Wer ein Buch lesen will, das prima vista als populärwissenschaftliches Sachbuch rüberkommt, wird hier nicht gut bedient – immerhin ist der Autor Philosophieprofessor und setzt ein entsprechendes Niveau an – da muss man an den meisten Sätzen ganz schön herumkurbeln und manches bleibt einem vielleicht ganz verschlossen. Trotzdem liest man mit Gewinn.

 
 

 
 

Der Autor befasst sich mit den Mechanismen der von ihm so bezeichneten „Erregungsgesellschaft „, von Rezensenten als wesentlicher Beitrag zur heutigen Gesellschaftstheorie so bezeichnet und überwiegend wohlwollend rezipiert.

Ausgehend vom ursprünglichen Begriff der Sensation als einfache Wahrnehmung nimmt er eine Umdefinition vor zur Sensation als zentralem Agens heutiger westlicher Gesellschaften und ihrer Kulturen, in denen ein sensation-seeking, ein beständiges Bedürfnis nach Reizen und nach Wahrgenommenwerden besteht. Esse est percipi als zentraler Satz: Ich bin nur existent, wenn ich wahrgenommen werde und das noch auf möglichst spektakuläre Weise – und die digitalen Medien in ihrer einfachen Handhabung und der Möglichkeit zu vollkommener Anonymität ermöglichen das in beliebig hoher Schlagzahl. Ein weitere Auffächerung der Möglichkeiten bietet noch das Darknet mit vielfältigen Möglichkeiten zum Trollen, Dissen, Haten, Spammen und Doxen in Eigenregie. Hauptsache, es ist was los.

Türcke spricht von suchtartig gebrauchten und „infusionsartig verabreichten audiovisuellen Schocks“, die sich die User mehrmals täglich verabreichen als neuen Fetisch zur Erhaltung ihres levels of arousal. Das virtuelle Spektakuläre als Erregungsquelle ersetzt zunehmend auch die etwas unbequemer zu erringende Erotik- und Sexualbefriedigung – früher machte man sich Sorgen, wenn der 20jährige Sohn noch Jungfrau war, heute findet man sich achselzuckend damit ab, dass er eben ein Nerd ist und die brauchen dergleichen halt nicht mehr – notfalls gibt’s die camwhores und das mühsame und mit Kränkungsgefahr verbundene Mein-schönes-Fräulein-darf-ichs-wagen-Abstrampeln entfällt auch. Enkelkinder gibt’s auf diesem Wege halt dann nicht. Vielleicht dann als virtuelle Hologramme, das kriegen wir doch auch noch hin.

Türcke geht in seiner Analyse zurück in archaische Zeiten, als die Sensation (Traumapsychologen würden hier von einem Durchbrechen des Reizschutzes und Bildung einer Erinnerungsspur sprechen) noch als Epiphanie des Heiligen galt, z. B. ein Blitzschlag, von im Moment vermutlich erzürnten Göttern geschickt und gegen dessen Wiederholung entsprechende Vorsichtsmassnahmen oder Beschwichtigungsrituale getroffen werden mussten. Der Beginn magischen Denkens, eine Vorform des kausalen Denkens, eine erste Vorstellung des Transzendenten und der Beginn von Kultur und Spiritualität. Und natürlich auch übelstem Aberglauben, als unerwünschtes aber nicht zu verscheuchendes Nebenprodukt, das wieder die Frauen abkriegten, die dann in möglichst jungfräulichem Zustand dem Gotte geopfert wurden – was immer der dann auch damit anfing – zuletzt zu bewundern in King Kong (1939).

Einbezogen wird Freuds Kulturtheorie und seine Abhandlungen über den Wiederholungszwang, mithilfe dessen der Mensch versucht, ein Trauma handhabbar zu machen, indem er es ständig wiederholt – die moderne Traumapsychologie geht zu diesen Axiomen deutlich auf Abstand, da kennt man eher das zwanghafte Vermeiden von Traumatriggern. Was dagegen gern wiederholt wird sind Beziehungstraumata, aber das ist eine andere Geschichte.

Überhaupt wartet man auf eine kritische Bewertung von Freuds Konstrukten bei Türcke vergebens, aber der Mann kann ja nicht alles machen und bemüht sich wirklich um ein Einbeziehen von historischen Ansätzen, auch Adorno und Horkheimer kommen zu Wort, so langsam gehören die ja auch zur Historie. Auch neuropsychologische Ansätze werden einbezogen, womit die Hausaufgaben durchaus gemacht wären. Die Entstehung der Erregungsgesellschaft datiert er zurück auf die Etablierung der frühen kapitalistischen Gesellschaftsformen und ihrem Bedürfnis nach einer immer aggressiveren und intrusiveren Werbung für die Absatzmärkte, die sich möglichst zügig ins Unterbewusste bohren sollte, heut nennt man’s branding.

Das klingt schon gefährlich genug, da kommt bei mir immer das Bild eines Kälbchens, das ein Brandzeichen ins Fell verpasst kriegt – ich kann’s nicht ändern, aber vielleicht ist ja auch was dran. Zumindest ist es ein bindungsschaffendes Ritual – Besitz ist ja auch eine Form von Bindung, wenn auch nicht unbedingt von beiden Seiten erwünscht. Zumindest nicht vom Besessenen – oder wie man den passiven Modus dann so nennt.

Gewünscht hätte man sich auch noch eine nähere Betrachtung einer neuen Definition von Identität, wenn der Mensch in verschiedenen Körpern und Avataren als digitaler Hybrid in allen möglichen Parallelwelten unterschiedliche Leben lebt, was letztlich auch ein Produkt einer immer gieriger werdenden Stimulationssuche ist. Wann kommt der Punkt, an dem wir nicht mehr wissen werden, wer wir sind – oder haben es einige schon dahin geschafft, die kritische Menge an digitalem Junkfood zu überschreiten, bis hin zum Quantensprung auf die nächste Umlaufbahn eines ganz neuen Ichs?

Ist eine Zunahme von Erkrankungen mit Störungen des Realitätsbezuges nicht schon erreicht und wenn ja wird das vielleicht dann frischfröhlich als neue Normalität umdefiniert? Dann sitzen die Digitalverweigerer in den Kliniken und die Verrückten rennen draussen herum in ihrem selbstgeschaffenen Gotham City – ein beliebtes Karikaturmotiv der Sechziger, vor allem im damals heissgeliebten Pardon.

Gemäss seinem Thema ist das Buch selbst keine Reiz – aber eine Bit-Überflutung mit entsprechend hoher Informationsdichte, das nicht leicht zu bewältigen ist – liegt natürlich auch daran, dass ich kein Philosophieprofessor bin, sondern ein etwas inferioreres Fach gewählt habe. Da müssen reichlich synaptische Verbindungen neu verlegt werden.

 

2024 14 Jun

Ökografien seit 2010

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„Mannsbild“ 2014
24,5 x 31 cm
SW-Fotografie koloriert, gepresste Trockenpflanzen

 
 

„Weibsbild“ 2014
24,5 x 31 cm
SW-Fotografie koloriert, gepresste Trockenpflanzen

 
 

Die den Ökografien zu Grunde liegenden Bilder müssen zu aller erst einmal mein Interesse erregen: das kann das Spezielle einer abgebildeten Situation sein, deren (druck)spezifische Ästhetik, eine bestimmte Stimmung, oder schlicht eine Geste. Diese Bilder finde ich am „Zweiten Bilderweg“, d.h. im Altpapier genau so wie in kunsthistorischen Wälzern, alten Bilderrahmen, oder Tageszeitungen und Zeitschriften. Ich kaschiere sie auf Karton, Schwarz-Weiß Abbildungen koloriere ich meist zart im Zentrum des Geschehens. Die Blüten und Stängel sammle ich zu Hause und auf Reisen, sie werden klassisch zwischen Buchseiten und Löschpapier getrocknet und gepresst. Meist ist es erst die Form oder der Schwung eines Pflanzenteiles, die mir den Weg der Bildgestaltung weisen – sie ist eigentlich nie von vornherein klar. Es ist ein wenig wie Zeichnen (oder Malen) mit Pflanzen. Die Rahmung mache ich selber. In dem reichen Fundus, den ich seit Jahren zusammen trage, findet sich für jede Bildaussage der passende Rahmen, und für jeden Rahmen -früher oder später- eine neue (Be)Stimmung.

 

Ein Gastbeitrag von Uwe Bressnik

uwe-bressnik.info/best/oekografien

 
 

Der schlimmste Mensch der Welt (Norwegen, 2021) von Joachim Trier –
ein etwas seltsamer Titel und zahlreiche Nominierungen zeichnen ihn aus.

 

„Wer wird denn weinen, wenn man auseinandergeht, wenn an der nächsten Ecke schon ein andrer steht …“ sang Marlene Dietrich dermaleinst: das Hohelied der Bindungsunfähigen oder -unwilligen, die uns ihr Defizit als Lebenskünstlertum verkaufen wollten. Der Protagonistin des Films, Julie, fehlt es an solcherart Zynismus, trotzdem wartet für sie das Glück immer hinter der nächsten Ecke und will sich in der Gegenwart nur bruchstückhaft und wenig glaubhaft manifestieren.

Als Endzwanzigerin der vielgeschmähten Gen Z angehörend und von der Natur mit allen guten Gaben ausgestattet, schlängelt sie sich durch ihr Leben wie eine Forelle durch einen Bach, mal geruhsam mäandernd, mal sich treiben lassend, aber immer seltsam ziellos, mit einem ebenso hohen wie diffusen und schwer zu versprachlichenden Glücksanspruch. Sie weiss nicht, was sie will, aber durchaus, was sie nicht will und in der Regel ist es meistens das, was sie gerade hat, und dieses versteht sie sich trefflich schlechtzureden.

Das Medizinstudium wird geschmissen, ein Psychologiestudium ebenso, eine fotografische Ausbildung ist auch nicht das, was sie zu sein versprach. Auch das Kind, das sie schliesslich doch erwartet, ist offenbar klug und verlässt ihren Körper sehr frühzeitig auf dem Wege, auf dem es hereingekommen ist und hinterlässt zumindest so etwas wie Erleichterung als dauerhafte Erinnerungsspur. Die Partner passen sowieso immer nicht.

Dieses Leben ist beherrscht von einem grossen Jetzt-noch-nicht als permanente Erwartungshaltung, bezogen auf ein in der Zukunft wartendes Etwas, welches man nicht versäumen darf, denn wenn man es hat, kommt das Glück. Somit wird nichts angepackt, kein Sich-Einlassen, keine verbindliche Bezogenheit hergestellt, immer wieder ein neuer Aufbruch zu verlockenderen Gestaden, bis die durchaus sympathische Protagonistin erleben muss, dass Züge nicht endlos warten, sondern durchaus auch manchmal schon abgefahren sind.

Wird sie die Kurve noch kriegen? Man erfährt es nicht, ertappt sich aber – und das ist die Stärke des Filmes (wenn im Kopf mehr passiert als auf der Leinwand, deshalb schätze ich Blair Witch Project, was immer keiner versteht) bei der Reflexion, ob ein dergestaltiges Leben ohne Richtung und Ziel nicht auch Wert und Genuss bietet. Schliesslich sprachen die Existenzialisten auch von einem permanenten Transzendieren und Sich-neu-in-die-Zukunft- Entwerfen als grundsätzliches Lebenskonzept. Wobei die Existenzialisten ihre Philosophie auch nur für die Oberschicht entwickelt zu haben scheinen – ob sich eine kinderreiche Mutter oder ein ausgepowerter Bauarbeiter ständig neu in die Zukunft entwerfen und transzendieren können bezweifle ich ja schon.

Und Beauvoir tönte auch immer über weibliche Lebensentwürfe, als wäre jede Frau mit Geistesgaben und finanziellen Mitteln ausgestattet, die problemlos den Besuch der Sorbonne ermöglichen und liess sich dann brav für den Rest ihres Lebens vom Hotelpersonal das Zimmer putzen und die Wäsche machen und hat vermutlich nie eines der Mädels gefragt, wie es ihr geht und wie sie sich ihre Zukunft wünscht. Marxisten ja … aber trotzdem eine Philosophie für die Grosskopferten.

Mit der Formulierung der Entwürfe hapert’s dann noch etwas bei Julie, der Dampfplauderin.

 
 

 
 

Oder führt sie ein buddhistisch geprägtes Leben im Sinne eines Gone, gone, gone beyond? Oder trudelt sie nur durch die Gegend, von unbewussten Kräften getrieben (bzw eher Kräften die sie von etwas abhalten), die wir nicht kennen und von denen sie nicht weiss, wie sie sie ergründen soll? Ihr Vater scheint wenig an ihr interessiert, erfahren wir by the way. Auch so ein Motor für eine ewige Suche.

Immerhin lernen wir etwas über das Lebensgefühl einer Generation, der so viele Möglichkeiten offenstehen, dass sie sich immer schwerer entscheiden kann. Oder die nur meinen, dass diese Möglichkeiten bestehen und dann vor verschlossenen Türen stehen. Ein kleiner, stiller, ereignisarmer Film, der das Kopfkino anzuwerfen versteht und auch das eigene Leben einmal kritisch auf Nicht-genug-Gelebtes abklopfen lässt.

Danach der Sprung in die Realität: Ich will zum Arzt, Rezept holen. Für Musik- und insbesondere James-Last-Freunde: Einfach einen beliebigen Arzt anrufen, dann gibt’s beruhigende Musik in beliebig langer Dauerschleife. Also hinfahren. Arzt im neugegründeten MVZ sitzt schwitzend selbst an der Rezeption und druckt Rezepte – man bekommt keine Sprechstundenhilfen mehr. „Heut machen’s ja alle was mit Medien!“ Apotheke hat nachmittags heute zu, kein Personal. „Heut wolln’s ja alle Influencer werden!“ grummelt ein erschöpfter Apotheker. Das hiesige Altenheim hat freie Betten, aber kein Personal, trotz verbesserter Bezahlung. Einen Elektriker tät ich auch brauchen … längere Wartezeiten wie ein Starpsychoanalytiker.

Ein schwebender Film, eine schmerzhafte Wirklichkeit.

 

 
 

Ein Titel wie bestellt, weil doch Schlaf und Träume so wichtig sind für eine gesunde Gehirn- und Erinnerungsleistung und neben anderen wichtigen Faktoren auch dazu beitragen können, dass wir selbst in höherem Alter noch neue Synapsen bilden können – zudem Vorbedingung, um überhaupt kreative Entscheidungen zu treffen. Sie sind ja auch grossartige Geschichtenerzähler und man wundert sich oft, in welchen Schichten da so gegraben wird und was zutage kommt. Vom Zentrum der Träume geradewegs zum Thema dieses Textes: Der Pianist John Escreet hat im Zusammenspiel mit dem Saxofonisten Mark Turner, dem Bassisten Eric Revis und dem Drummer Damion Reid ein enorm kraftvolles Album vorgelegt. Mir gefällt der markige Anschlag: das volle Pfund. Die Unisono-Passagen von Saxofon und Klavier sind ein Hochgenuss. Das ganze Album bietet diese geniale Spannbreite zwischen Jazzrock (obwohl dies kein Jazzrock ist) und dem freieren Spiel eines Cecil Taylor etwa. Diese Art Musik ist auch ein triftiger Grund, warum ich überhaupt Jazz höre (davon wird hier noch zu schreiben sein). Was mich freut, ist die momentane Neugier, sowohl auf Neuerscheinungen als auch auf das Wiederhören von Bekanntem. Denn man hört eigentlich auch immer anders, wenn man sich selbst verändert. Ein gutes Qualitätsmerkmal ist ja das Vorhaben, etwas noch einmal hören zu wollen (und bei TV-Serien den Staffellauf zu wiederholen). Zum Epicenter der Träume kehre ich garantiert zurück. „Richtig geile Mucke“, wie wir in Hannover sagen (nicht nur die Stadt im Grünen, sondern auch der Grünen, wie der gestrige Wahlausgang zeigt).

 

 

1950!

Die Trümmer waren verräumt, der Hungerwinter von 1946 durchgestanden, die Währung stabilisiert, das Grundgesetz festgeklopft und das gestrauchelte Kind Deutschland (ein Euphemismus, ich weiss, aber so sah man sich damals) begann mithilfe der amerikanischen Militärregierung wieder auf eigenen Beinen zu stehen und die Wirtschaft und Infrastruktur zu stabilisieren. Man konnte sich wieder sattessen. Erst kommt das Fressen und dann … Wünsche begannen wie Luftblasen an die Oberfläche zu steigen – ein bisschen Schönheit, Sonne, Abenteuer, Erotik, Romantik und vor allem Freiheit und Mobilität, ein bisschen schamhaft, aber neugierig mal über den Zaun peilen. Aber wie erfüllbar, wenn die umgebenden Länder jahrelang als Feindes – und Besatzungsland umdefiniert waren und deren Bevölkerung als minderwertige Rassen – und man dort ohnehin persona non grata war?

Das braucht eine grössere Portion an mindchanging, um wieder angstfrei ein Bein auf fremden Boden setzen zu können, ein bisschen Schönfärberei, ein bisschen Exotisieren, den einen oder anderen Euphemismus, ein bisschen Stereotypisieren und schon stellt sich der Sehnsuchtsmodus ein und die Fliehkräfte siegen über die Kohäsion – aber gleichzeitig und heimtückischerweise gebiert das eine wiederum distanzschaffende Abwehroperation: Wir wollen uns unsere Bilder vom Fremden selbst machen und nicht vom wirklich Fremden überrannt werden, wir wollen zumindest die Deutungshoheit behalten über das, was vor kurzem noch verpönt war. Zigeunerinnen galten als fragwürdig, aber schön und sexy, Indianer leben im Feindesland, aber sind, keine Sorge, gutaussehend und von edler Gesinnung – eine Art geistige Kolonisierung fremder Länder durch ein Volk, das immer noch genau bestimmen wollte, wie die Welt zu sein hat und sie sich nach seinem Bilde schuf und Bedingungen stellte, um sie wieder für sich begehbar zu machen. Und Hulamädchen sind prima – Erotik hilft immer bei dergleichen Umformungen, das ist ein prima Gleitmittel.

 
 

 
 

 
 

 
 

 
 

 
 

 
 

Jedenfalls kriegte man damals fast Augenkrebs bei soviel Alibibuntheit.

Und bei Karl May, der in diesen Jahren filmisch reüssierte, reiste der schwer deutschtümelnde Old Shatterhand zu den Indianern, um alles auszumerzen, was nicht seinen teutonischen Idealen entsprach – eine Old-Shatterhand-look- alike-Neukolonisation sozusagen, da gings dann schon wieder los mit der wohltönenden Weltverbesserung und dem ganzen Mief. Und nur der nahezu perfekte und ihm am ähnlichste Winnetou wurde von ihm adoptiert, der hatte ja auch einen deutschen Lehrer – ebenso wie Old Shatterhand aus Sachsen stammend – da fremdelts sich gleich viel weniger und sogar die Indigenen konnten jetzt mit einem weiteren Sachsen persönlich wachsen und am deutschen Wesen genesen – als ob sie vorher krank gewesen wären. Ob das ganze dann als pädagogisch wertvoll gesehen werden kann, möge jeder selbst für sich entscheiden – über die massiv-unterschwelligen homoerotischen Sexual-Messages hat sich ja Arno Schmidt bereits ausgelassen, eines der amüsantesten Bücher die ich je gelesen habe. Hitler war jedenfalls bekennender Karl-May-Fan. Friedrich Wilhelm auch. Wen wunderts?

 
 

 
 

Und wieder formte man sich die Welt nach seinem Bilde …

Warum erinnert mich die diesjährige gutgemeinte Biennale (Foreigners everywhere) hier jetzt bloss an diese Zeit? Übertreib ich mal wieder? Wäre ja eine meiner besten Eigenschaften …

 
 

 
 

 
 

 
 

 

 
 

Ein jeder solle nach seiner Fasson selig werden, meinte der Alte Fritz. Gestern wieder so ein seliger Hörmoment, ganz nach meiner Fasson. Ein Album zum Sich Wundern, Genießen und Wegdriften. Eine schwebend nebulöse Grundstimmung herrscht vor, sozusagen als Grundierung, in die dann „allerhögscht (Jogi Löw) erdige, verdichtete Klangcluster hineindrängen. Der Gitarrist Christian Fennesz sorgt für beides. Im Zusammenklang seiner fuzzytones mit den klaren, kräftigen Piano-Tinkturen von Sylvie Courvoisier ergeben sich erstaunliche Effekte. Wieder so eine Musik, die Lust macht, selbst zu spielen. Das mag auch daran liegen, dass es hier weniger um Virtuosität geht (die vielzitierte „Athletik des Bebob“) als vielmehr um das Erzeugen von Atmosphären. Aber auch afrikanisch angehauchte, obercoole und, sorry: richtig geile Groove-Ansätze schleichen sich ein. Chimaera heisst das Album und um sicher zu gehen, dass ich hier nichts Falsches sage, googele ich vorsichtshalber mal „Chimäre“. Aha, also doch etwas ganz anderes als das gedachte „schemenhaft“. Beides passt, denn gemeint ist ein Organismus, der aus unterschiedlichen Geweben aufgebaut ist. Zwei Trompeten sind dabei, wunderlich genug, doch es macht Sinn. Eine davon spielt Wadada Leo Smith. Die rhythmsection kommt aus dem Umfeld von John Zorn: die erstklassigen Drew Gress am Bass und Kenny Wollesen am Schlagzeug. Eine klare Hörempfehlung! In meiner schemenhaft visualisierten Jahresbestenliste jetzt schon auf den vorderen Plätzen angesiedelt.

 

 

The Zone of Interest (D, 2023) von Jonathan Glazer

 

Der Film beginnt mit einer Art Ouvertüre, einem permanenten sphärischen Rauschen und Dröhnen bei dunkler Leinwand, minutenlang, bis Vogelstimmen ertönen und einem bösen Traum, in den man unversehens gefallen ist, zunächst ein Ende machen.

Dann ein gepflegter Garten, abgegrenzt von einer Mauer hinter der wir Wachttürme und Schornsteine sehen und das Hintergrundrauschen der Krematorien dort verorten können. Dann Familienleben, getrennt in Frauenwelten (weisse Wäsche, Babys die an Blumen schnuppern), gegeneinandergehalten zu Männerwelten, in denen über die Kapazität von Verbrennungsöfen und deren „Ladungen“ – womit Menschen gemeint sind – diskutiert wird.

Bedrückend düsteres spiessiges Mobiliar für ein spiessiges Familienleben, die Protagonisten irren in permanenten Halbtotalen durchs Haus und die angrenzende Umgebung, eine merkwürdig indifferente fahle Natur. Der Film verzichtet auf Handlung (bewusst?), ist nicht interessiert an seinen Figuren. Wozu man bei diesem darstellerischen Minimalprogramm eine Sandra Hüller anheuern musste, bleibt verborgen, da hätte eine Schauspielschülerin auch genügt – einzig die Farblosigkeit von Christian Friedel vermittelt etwas vom Topos der „Banalität des Bösen“, aber vermutlich eher unabsichtlich vermittelt als hinein – und wieder herausgearbeitet. Immerhin übergibt er sich zum Ende des Filmes als erste und auch letzte menschliche Regung – warum auch immer, aber zuviel Verdrängung bringt eben den Körper zum Somatisieren, wenn er etwas loswerden muss. Immerhin bekommt der Commandante das Kotzen.

Eine Aneinanderreihung von Alltagsbanalitäten vor den Toren von Auschwitz, das als permanentes Hintergrunddröhnen der Krematorien, Schreie, Schüsse und Hundegebell anwesend ist. Das Kopfkino wird angeworfen beim Zuschauer, das ist das Verdienst des Filmes und ein geschicktes Stilmittel, um das Nebeneinander von Grauen und bräsigem Bürgeralltag zu zeigen. Leider bleibt es das einzige, was für fast 2 Stunden dargestellt wird – das Grauen kommt nicht näher und bleibt hinter den Mauern, die Figuren zeigen weder Bewegung noch Entwicklung noch Mimik und verraten auch nichts über ihr Gewordensein – wobei viele Dialoge durch das permanente Grundrauschen auch schwer verständlich und vernuschelt sind, was bei deren Banalität aber dann auch wieder vernachlässigbar ist. Das rührt nicht an und erweckt kein Gefühl, eher eine Art Duldungsstarre.

Die Funktion des polnischen Mädchens, das Lebensmittel für die Lagerinsassen im Gelände versteckt, wird nicht deutlich und bleibt fremdkörperlich – der Einbruch des Guten in das Gleichgültig – Böse, optisch im Negativmodus dargestellt oder ähnliches, aber irgendwie aussen vor und deplaciert wirkend (parallel dazu liest Höß seinen Kindern im Bett vor, wie die Hexe im Ofen verbrennt und verknuspert – unsere romantischen deutschen Waldesrauschmärchen eben, von denen die Psychoanalytiker heute noch nicht lassen können und in regelmässigen Abständen verkünden, wie gut diese den Kindern tun – wie habe ich die gehasst). Aber hier passts!

Danach die Schlussszenen mit dem Sprung in die heutige Realität der Gedenkstätte von Auschwitz mit Bergen von Schuhen hinter Schaufenstern und einer Hilfskraft die ein Krematorium reinigt (oder eine Gaskammer?)  – wie eine Flucht vor den Figuren, denen man anders nicht entkommen zu können scheint als sie einfach so zu verlassen, wie sie nun mal eben sind und eine andere Realitäts – und Zeitebene zu betreten. Auch diese Szenen stellen keinen wirklichen Bezug her und bleiben etwas beliebig hineingeflickt oder hintangereiht.

So verbleibt der einzige Lerneffekt dieses Filmes, dass man sieht, wie Verdrängung funktioniert und wie man selbst lernt das Hintergrundrauschen der Tötungsmaschinen soweit auszublenden, dass man hinterher behaupten kann, man habe nichts gehört und gesehen.

Ein Film mit einem künstlerisch guten und humanen Ansatz, der leider aber fast alle sich bietenden und ihm innewohnenden Gestaltungsmöglichkeiten verschenkt und lieblos heruntergekurbelt wirkt. Aber es gibt ja bekanntlich auch Oscars für die Kategorie „Gut gemeint“ und niemand würde sich erlauben, einen Film, der den Holocaust anprangert, nicht zu bepreisen.

Und über den Konflikt zwischen Kunst und Moral habe ich mich ja schon vor einigen Monaten geäussert, das sind halt doch zwei sehr verschiedene Paar Stiefel …

 


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