Manafonistas

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2024 28 Mai

Die Rückkehr der Namen

von: Ursula Mayr Filed under: Blog | TB | 2 Comments

 

 

 

 

Ein Eintauchen in einen dunklen Hohlraum ist immer ein Erlebnis von Regression, begleitet von wahlweise Geborgenheit oder Beklemmung und Unheimlichkeit. Die Wände weisen eine seltsame Textur auf, eine Art Landschaft, wie Städte auf Hügeln oder Dünen. Bei näherem Besehen sind es Ahnentafeln, Stammbäume, Namen – untereinander verbunden, ein Netz gegenseitiger Bezogenheit, das den Eindringling umspannt und umzingelt, plötzlich scheinen die Tafeln ihn anzublicken. Es ist ein Raum der Toten, den wir betreten – was haben wir hier zu suchen?

Es sind die Namen von Tausenden von Aborigines – in jahrelanger Kleinarbeit vom indigenen Künstler Archie Moore – mit dem eigenen Stammbaum beginnend – den Archiven entnommen und an die Wand gemalt. Nun umgeben sie den Zuschauer wie ein aufgespanntes Netz, schauen ihn ihrerseits an, ziehen sich über die Decke wie ein Sternenhimmel. In der Mitte ein Teich, stehendes Wasser, der Betrachter spiegelt sich darin, wird Teil des Systems. In der Mitte des Teichs ein Tisch mit Gerichtsurteilen, Behördenvorgängen, Dokumenten, Todesurteilen an Indigenen, systematische Ausmerzung einer 60 000 Jahre alten Kultur.

Auch wenn anhand der Fülle der Namen der Verdacht entsteht, dass der Künstler hier einiges gefaked hat (schliesslich wird’s kaum einer nachzählen), wirkt die Installation – man fühlt sich wie auf einer Anklagebank, von Tausenden von Augen beobachtet, ähnlich wie beim Herumirren zwischen den Stelen der Berliner Holocaust-Gedenkstätte. „Totemisch“ nannte es ein Rezensent – ein Wort das auf magische Praktiken und Symbolisierungen zurückweist, trotzdem seltsam fremd bleibt, so wie der Betrachter fremd bleibt in diesem Netz von Zugehörigkeiten, das für ihn nicht begehbar ist. Eine reizvolle Umkehrung des Biennale-Themas „Foreigners everywhere“.

Ein kurzer Anflug von Paranoia, dem Gefühl von Bedrohtsein durch rächende Untote, in den Stein gebannte Seelen. Man verlässt den Raum wieder, er ist schwer zu ertragen. Opfer müssen Gesichter bekommen – oder zumindest Namen – wie bei der Kundgebung „Die Rückkehr der Namen“ in München.

 

 

 

 

Ein Lehrer, der in der Schule einem Amokschützen gegenüberstand, sagte zu ihm: Erschiess mich, aber sieh mir dabei in die Augen! Er hat überlebt.

 

Quelle: Kith and Kin von Archie Moore, Biennale Venedig 2024.

 

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2 Comments

  1. Gerd L.:

    Das Holocaustdenkmal fand ich beklemmender. Ein Gehen zwischen Sarkophagen, die sich jeden Moment öffnen können.

  2. Jörg R.:

    Habe die Sendung aus München gesehen – sehr eindrucksvoll.


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