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on life, music etc beyond mainstream

2024 13 Apr

Das Gegebene

von: Jochen Siemer Filed under: Blog | TB | 16 Comments

 

Es gibt wohl kaum einen Philosophen, der mir so aus dem Herzen spricht wie Byung-Chul Han. Er nimmt gegenüber vielen Strömungen des auch durch Kapitalismus und westliche Lebensethik bestimmten Zeitgeistes eine kritische Haltung ein: eine betrachtende Distanznahme. Ich selbst wuchs dankbarerweise in einer Zeit und in einem Lebensraum auf, in denen es möglich war, sich auf friedliche Weise zu entfalten und eine reichhaltige Innenwelt von Leidenschaften und Vorstellungen auszubilden: im Bereich der Musik, der Kunst und der Literatur. Deshalb sehe ich mich auch in der Lage, zynischen Haltungen gegenüber Paroli zu bieten und hier Resilienz zu entwickeln. Zynische Grundhaltungen wären beispielsweise blinder und einen grundlegenden Mangel kaschierender Konsum, ferner das Raushauen meiner Meinung zu Irgendetwas, nur um die Gegenmeinung platt zu machen – ein Phänomen, das man als eine Art mentalen Beissreflex massenhaft beobachten kann in Leserkommentaren und Ego-Äusserungen des sozial-medialen Raumes: den shitstorms. Dagegen fordert ein Songtitel des Drummers und Knower-Mitglieds Louis Cole: „Quality over Opinion“.

 
 

 
 

Vor ein paar Tagen reparierte ich meinen dreissig Jahre alten Hifi-Verstärker (erneut ein Erfolgserlebnis: man widmet sich einem Problem und kommt mit etwas Glück, vor allem aber einer den äusseren Realitäten zugewandten Aufmerksamkeit, die wenig zu tun hat mit dem in der Psycho-Szene proklamierten selbstzentrierten Achtsamkeits-Gehabe, zu einer Lösung) und erlebte im Nachgang das, was viele von uns wohl aus der Zeit kennen, als man aufgrund eines neu erworbenen Hifi-Gerätes erstmal die gesamte Plattensammlung durchhörte, weil sie in neuem, frischen Licht erstrahlte. Nun, in meinem Falle ist es so: Gegenwart stellt sich ein und das Gegebene ist gut, so wie es ist. Neben der Musik vollzieht sich dann nämlich immer auch die Sensation des klanglichen Geschehens an sich – egal, ob es sich dabei um Ralph Towners erstes Soloalbum handelt oder um den neuesten hot shit von Vijay Iyer, Tyshawn Sorey und Linda May Han Oh.

 

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16 Comments

  1. Ursula Mayr:

    Da gratuliere ich Dir zu dieser tiefenentspannten Haltung.

    Was die Sache mit der Achtsamkeit betrifft – ich finde die hier erzwungene Dreidimensionalität so nervig, dass ich eher eine Gegenachtsamkeit entwickle, um schnell zu vergessen, was ich tue und damit’s nicht so langweilig ist. Ob das dann ein Mittel zum Erfolg ist steht auf einem anderen Blatt – mein gesamtes Leben lang nannte man mich „zerstreuter Professor“. Was ist das auf dem Bild? Nouvelle cuisine oder eine künstlerische Anordnung von Dir oder knallharte Realität?

  2. Jochen:

    Inside the black box: man sieht das Innenleben meines aufgeschraubten, inspizierten und sorgfältig gereinigten Hifi-Verstärkers, per Fotobearbeitung ästhetisch verfremdet. Auch das ist ja Achtsamkeit: sich dem (auch technisch-funktionellem) Verstehen und der Pflege von Produkten widmen.

  3. Ursula Mayr:

    Also diese Dauerachtsamkeit finde ich furchtbar – mein Rezept wäre ein gepflegtes Abtauchen in bessere Welten, während der Klempner das alles repariert. Dieses Zen-Motorradwarten und Genuss daraus ziehen habe ich nie begriffen. Eine meiner schlimmsten Eigenschaften …

  4. Jochen:

    Le plombier, c’est moi ;)

  5. Olaf Westfeld:

    Tolles Bild!

    Ich bin etwas neidisch, für das Reparieren von Geräten, aber auch das Renovieren und das Bauen fehlt mir irgendwie ein Gen – ich glaube sofort, dass das sehr befriedigend sein kann … ich bekomme nur sofort schlechte Laune, werde ungeduldig, hadere mit meiner Unfähigkeit, usw (*melde mich dann bei dir, wenn die Macken meines Schallplattenspielers zu nervig werden*;) ).

  6. Jochen:

    Danke, Olaf.

    Wenn es wie in meinem Falle nur darum geht, das Krächzen und Kratzen verstaubter Schaltungen zu beseitigen, bringe ich ggf Langhaarpinsel und Druckluftdose gerne in Wennigsen vorbei. Bin allerdings jetzt im Bilde über die Gesamtsituation meines Amps, das nimmt Sorgen aus dem Kopf.

    Zu Pirsigs Zen- und Motorradwartungsbuch fiel mir noch ein, dass dies ja ein reines Männerbuch war. Auch von den dort erwähnten Philosophen war meines Wissens nicht eine einzige Frau. Damals in der Adoleszenz aber eine ganz wichtige und bis heute nachwirkende Orientierung.

    Ich selbst entwickle mich wohl zunehmend zum „älteren Herrn in seinem Bastelkeller“ … ;)

  7. Ursula Mayr:

    Dann bist DU das … ?

  8. Jochen:

    Träum‘ weiter!

    ;)

  9. Ursula Mayr:

    😁

  10. Olaf Westfeld:

    Ach, Du siehst gar nicht so aus?! Da muss ich meine Vorstellungen mal revidieren ;)

    Ja, mal sehen, wenn der Dreher weiter rum zickt melde ich mich gerne mal, danke für das Angebot. Im Moment hat er sich zum Glück beruhigt. Ich finde ja, dass Bastelkeller etwas magisches haben. Und ausserdem sind Basteleien eine sehr gute Beschäftigung – schreibe ich als mittelalter Mann mit Hund.

    Für den Pirsig-Schinken war ich mit 18 in einem 4 wöchigen Familienurlaub noch zu jung&grün, es war zu schwierig.

  11. Jochen:

    Ach, das ist interessant! Ich war auch jung und grün, als ich den Pirsig mit 18 las. Hat mich aber total geflasht. Meine Neugier für Philosophie und ebenso für Jazz waren irgendwie immer schon latent vorhanden. Ich sehe da sogar Gemeinsamkeiten: die Wichtigkeit von Fragestellungen und die Erkundung unbegangener Räume. Das eine im Denken, das andere in der Musik.

  12. Ursula Mayr:

    Mich hat das „Motorrad“ abgeschreckt … nix für Mädels …

  13. Alex:

    Ich habe den Pirsig auch nie gelesen. Das Motorrad hat auch mich abgeschreckt. Mich hat stattdessen das Buch von Heinz Helfgen über seine Weltumradlung Anfang der Fünfziger (von meinem Vater) angefixt und ich habe mich dann selber nach dem Abi auf den Drahtesel geschwungen. Bin aber nur bis Ierapetra gekommen.

  14. Ursula Mayr:

    Na, das langt doch!

  15. Olaf Westfeld:

    Bei uns steht eine zerfledderte Kopie von dem „Motorrad“ rum, mit vielen Unterstreichungen, Anmerkungen, etc. Von meiner Frau, hat sie mit 18 gelesen und hat sie auch geprägt. Aber von der Neugier für Philosophie ist bei ihr nichts übrig geblieben …

  16. Ursula Mayr:

    Es hat’s halt nicht jeder mit der Hirnakrobatik. Wenn man das was ist erklären will, sind die Naturwissenschaften besser geeignet und Frauen sind da oft pragmatischer.


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