Manafonistas

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Archives: März 2024

 

 

 

Jud Süss (1940) von Veit Harlan ist ein antisemitischer Propagandafilm übelster Sorte und ein sogenannter Vorbehaltsfilm – er kann nicht käuflich erworben und darf nicht öffentlich vorgeführt werden, man musste früher ins Filmmuseum nach Berlin reisen und ihn sich dort anschauen. Mittlerweile sind die Vorschriften gelockert worden – er darf zu Lehrzwecken unter „wissenschaftlicher Leitung mit Expertise“ gezeigt werden; aber natürlich grassieren auch Raubkopien im Netz.

Das Ganze ist verständlich, aber andererseits verwunderlich, da ähnlich schlimme und offen hetzerische Machwerke insbesondere in Form von Belletristik fröhlich bei Amazon feilgeboten werden (Hans Heyck, Kuni Treml-Eggert und andere) und auch noch positive Rezensionen bekommen. Kümmert kein Schwein bzw macht sich niemand die Mühe nachzuforschen und einen Index zu erstellen; es wäre recht einfach, da ja die entsprechenden „Dichter“ heute noch bekannt und googlebar sind. Die Neofaschisten sind gut versorgt hierzulande.

Beim Kellerausräumen bei einem Verwandten fand ich einst reichlich Naziliteratur – teilweise mit Originalwidmungen von Rudolf Heß, den Mythos des 20. Jahrhunderts von Rosenberg, ebenfalls mit Originalunterschrift und dergleichen mehr, weiss der Teufel wo er die herhatte, er hatte seinerzeit keinerlei Drähte „nach oben“; er war als einfacher Soldat seinerzeit bei der 6. Armee im Kessel von Stalingrad und wurde als einer der letzten wegen einer schweren Lungenentzündung nach Hause geflogen, das schützte ihn vor der russischen Endlösung. Danach sprach er nie wieder über den Krieg, aber als 1960 die ersten Jungs mit langen Haaren auftauchten, wurde wieder der Adolf als wirksames Gegenmittel gegen derlei Auswüchse angerufen wie ein Säulenheiliger.

Die Bücher hätte ich sicher gut bei Ebay losgekriegt, sie ruhen jetzt wohlverwahrt und neonazisicher im Museum der Gedenkstätte des KZ Buchenwald in Weimar – dafür hab ich jetzt dort lebenslänglich freien Eintritt, falls ich das wollte – hört sich auch gruselig an – freier Eintritt ins KZ. Aber mir reicht der Besuch des KZs Dachau – da mussten wir als 14-jährige Mädels mit der Lehrerin hin … völlig unvorbereitet. Ich kasperte noch beim Herumstreifen auf dem Gelände mit der Freundin – wir verfügten beide noch über eine gut funktionierende Abwehr und fanden sogar hier noch etwas zu giggeln –  in einer offensichtlichen Verweigerung zu realisieren, wo wir waren und wo wir freiwillig niemals hingegangen wären und was uns offensichtlich völlig überforderte – trat durch eine Tür, wollte noch den Witz zu Ende erzählen und kippte fast um – ich stand direkt vor den Verbrennungsöfen, daneben das bekannte lebensgrosse Foto eines Skeletts, das soeben aus dem Ofen geholt wird. Das ging in die ungeschützten Eingeweide. Der Rest des Nachmittags ist im Dunkel der Verdrängung verschwunden.

Auf dem Heimweg wurde einigen Schülerinnen im Bus übel, mir auch – es gab Vorwürfe von der Lehrerin weil „wir uns am Obststand vor dem KZ so überfressen“ hätten. Was stimmte, aber sicher auch seinen Hintergrund hatte – offenbar glaubten wir, uns für das Kommende stärken zu müssen. Die Dame war Olympiasiegerin von 1938, der von Leni Riefenstahl gefilmten Olympiade und selbst alles andere als eine damalige Regimekritikerin. Weiss der Teufel, was sie geritten hat, mit uns dort hinzugehen, sie war immer darauf bedacht uns „hart und widerstandsfähig“ zu machen; im Schullandheim gabs Morgenappelle und erstmal einen ergiebigen Waldlauf vor dem Frühstück. Da gehörte ein KZ-Besuch wohl zum Programm.

 

 

 

 

Dreissig Jahre später hatte ich junge Mädchen gleichen Alters in der Praxis, die den schulisch organisierten Besuch von Schindlers Liste schlecht verkraftet hatten – offensichtlich wegen einer weniger gut funktionierenden Verdrängung und Alpträumen mit Panikattacken.

Vorvorgestern, also passend zum Karfreitag Jud Süss erstmalig gesehen, etwas unter Extrasystolen gelitten hinterher, keine Übelkeit, wenigstens das. Somatische Symptome bedeuten, dass die rationale schützende Abwehr oder andere reifere Bewältigungsmechanismen wie Versprachlichung unterlaufen werden und der Körper die Erregungsabfuhr übernimmt, wie man das von Kindern kennt.

Was soll man sagen? Vor einiger Zeit stellte ich mir die Frage, ob man einen schlecht gemachten, aber gut gemeinten Film schlecht finden darf. Hier geht’s umgekehrt: Übelste antisemitische Propaganda – gekonnt gemacht für die damalige Zeit, so wie ein Maschinengewehr technisch gut gemacht sein kann für einen mörderischen Zweck. Eine solide Leistung von den Schauspielern und Mitläufern Ferdinand Marian als Joseph Süss Oppenheimer und Heinrich George als geldverschlingender Herzog Alexander von Württemberg, der sich Herrn Oppenheimer als Finanzberater hielt und nicht schlecht damit fuhr.

Die Vorlage war der gleichnamige Roman von Lion Feuchtwanger, der sich wiederum an der historischen Figur des Joseph Oppenheimer orientierte. Von beiden Vorlagen weicht der Film propagandabedingt sehr stark ab.

 

 

 

 

Würde er heute noch funktionieren – abgesehen vom schlechten Ton? Ja – auf zweierlei Art, je nachdem wie man gepolt ist: Gegenüber den tumben deutschen Betonköpfen im Film und dem verfressenen Herzog Alexander erschien mir Oppenheimer in seiner mephistophelischen Gerissenheit und Schleimerei fast sympathisch – mit Sicherheit die intelligenteste Figur in diesem Film, auch zumindest die am ehesten männliche Erotik ausstrahlende – da haben wohl Regisseur Veit Harlan und sein Protege Goebbels (Jud Süss war dessen Lieblingsfilm, neben Kolberg) ein Eigentor geschossen. Bei entsprechend anders gepoltem Publikum werden die antisemitischen Vorurteile natürlich bestens bedient, wobei dieses Publikum sich dergleichen alte Schinken sicher nicht ansehen würde, selbst wenn’s auf ihrer Linie läge.

Die schwer erträgliche Frauenfigur (Kristina Söderbaum, Gattin des Regisseurs und seinerzeit als „Deutschlands schönste Wasserleiche“ zu zweifelhaften Ehren gekommen) macht diesem Titel wieder alle Ehre und der Zuschauer ist relativ erleichtert, als sie endlich in den Wellen verschwunden ist und nicht länger die deutsche hirnamputierte Gefühlstussi gibt. Bei Rosenberg – ich hab die Schwarte ja dann doch gelesen – hiess es, der Mann übernehme in der Familie „die Architektonik“, die Frau „die Lyrik“. Vielen Dank!

Wie gesagt – der Film funktioniert heute etwas andersherum – gottlob bzw erzeugt in seiner Übertragungswirkung einige Verwirrung: Man findet den sympathisch, den man nicht sympathisch finden darf , weil es ja ein Verbrecher ist, aber entdeckt dann, dass man ihn ja sympathisch finden darf, weil er ja nur unter dem Naziregime zum Verbrecher gemacht wurde … der Verstand fasst es, das Gefühl tappt etwas im Nebel des Widerstreitenden herum. Darum ist wohl auch der Israel-Palästina-Konflikt so schwer gefühlsmäßig zu verarbeiten, wobei der ja mit dem Judentum gar nichts mehr zu tun hat – was aber immer noch als Konnotation mitschwingt und die politischen Haltungen und rationale Entscheidungen mit beeinflusst – falls in der Politik überhaupt etwas rational sein kann. Es gibt keinen unbelasteten Neuanfang und Geschichte ist zyklisch.

 

 

 

 

Wer sich für nähere Hintergründe interessiert: Es gibt einen Jud-Süss-Making-of-Film:  Jud Süß – Film ohne Gewissen, über das Leben des Schauspielers Ferdinand Marian, der zusehends unter den Druck und Einfluss von Goebbels geriet, der um die jüdische Abstammung von Marians Frau wusste und ihn damit erpresste. Marian fürchtete mit dieser Kotzbrockenrolle alle Sympathien seines Publikums zu verspielen, beugte sich aber dem Druck des Reichspropagandaministers, ähnlich wie Gustaf Gründgens und Heinz Rühmann, der sich von seiner jüdischen Frau scheiden liess um weiterspielen zu können.

 

 

 

 

Ich habe es mir angetan anlässlich des Verfassens eines Buches über deutsche Nachkriegsfilme (einige meiner ersten Posts hier handeln davon), mir die wissenschaftlich kommentierte Ausgabe von  Mein Kampf zu bestellen – mein Briefträger spricht heute noch nicht mit mir, nicht wegen des Inhalts, sondern wegen des Gewichts: 2 Schwarten à 30 x 20 x 10 cm approximativ. Das Durchpflügen hat sich gelohnt – ich entdeckte Neues am Führer – nämlich einen ausgeprägten Autismus, er schien wie in einer Blase zu leben und zu schreiben, Menschen und Begegnungen spielen in den Tagebuchaufzeichnungen über seine Wiener und Münchner Jahre keinerlei Rolle (ausgenommen das Gedankengut herausragender und einschlägiger politischer Persönlichkeiten), war mir vorher nicht so aufgefallen. Nicht unbedingt neu, aber es ist ein Unterschied, ob man nur weiss oder auch spürt. Die Welt durch Hitlers Augen gesehen … wie hinter Milchglas, durch das gelegentlich markige Worte von Gesinnungsbrüdern hindurchdringen und ansonsten Kreisen als der eigene Satellit um das eigene Selbst. Innenansichten – die zeitraubende Lektüre reut mich nicht.

Der von mir ansonsten sehr geliebte Wissenschaftsjournalist Volker Elis Pilgrim – der in den 70ern sehr mit dem Feminismus sympathisierte, in einer Talkshow mit Strickzeug sass und jedem Mann empfahl, sich probehalber einmal anal penetrieren zu lassen, um Frauen besser verstehen zu können – schrieb kurz vor seinem Tod drei Bücher à 400 Seiten, in denen er in Band 1 nachweist, dass Hitler und Eva Braun überhaupt kein Sexleben gepflegt haben, sondern dass – Beobachtungen zufolge – Hitler durch Filme mit Folterungen und sadistischen Handlungen bis zum Höhepunkt erregt wurde, also nicht als Borderline-Patient oder narzisstisch Persönlichkeitsgestörter einzuordnen wäre, sondern als hochgradig sadistisch-psychopathische Serienkillerpersönlichkeit. Ich glaub’s – aber ich fürchte, heutzutage interessiert das keinen mehr. Durch den dritten Band, in welchem Pilgrim seine Serienkillertheorie nochmal akribisch nachweist, muss ich mich noch hindurcharbeiten, aber die Frage ist, ob man zum Beweis dieser These 1200 Seiten aufwenden muss – die Serienkillerei hat Hitler ja schon längst selbst unter Beweis gestellt.

Karfreitagsgedanken …

 

 

Als es noch kein Internet gab, tigerte ich oft am öden Sonntag, nach arbeitsreicher Woche meist völlig ausgelaugt, zu irgendeiner Tankstelle oder Bahnhofsbuchhandlung, um verstohlen in den Hifi-Magazinen die Neuveröffentlichungen und Plattenkritiken rauszupicken. In einer dieser Journale wurde unterteilt in die Bewertungskriterien „Musik“ und „Klangqualität“ der jeweiligen Aufnahme, also in gewisser Weise die altbekannte Zweigestalt aus Inhalt und Form. Gestern beim Hören von Candid des Quintetts Sunny Five dachte ich, es wäre gut, ein weiteres Kriterium hinzuzufügen: inwieweit man angestachelt wird, selbst Musik zu machen, also dem Drang zu folgen, das Rezipierte nachzuahmen. Ahmung war immer ein entscheidender Faktor, schon zu Zeiten von Ten Years After wollte ich Alvin Lee nicht nur hören, sondern es selber sein. Auch die Beatles, das war im Grunde genommen ich. Ein Wunsch wurde nun wahr: das zwei, die mehr sind als nur Gitarristen, nämlich auch Berserker auf ihrem Instrument, Klangmagier und Alchemisten, in der Tradition eines Fred Frith oder Derek Bailey, einmal zusammenspielen würden. Von David Torn und Marc Ducret ist die Rede, zu bestaunen auf Tim Bernes aktueller Neuveröffentlichung. Zu den bereits Genannten gesellen sich dann noch Bassist Devin Hoff und Drummer Ches Smith. Zu hören ist ein furioses Happening, bei dem im Kopf ein Film abläuft. So viele Assoziationen: mal dachte ich, die Möbelpacker kommen. Wohin der Schrank? Dort in die Ecke. Rumms! Eine Tür schlagt zu. Dann eine Fabrikhalle, Machinen, Räderwerk greift ineinander. Bleche fliegen durch die Luft. Da fliegt mir doch da Blech weg. Spliff! Und immer elektronisches Hintergrundgezirbel, zauberhafte Mutationen. Der erdenschwere Bass bringt reichlich Wucht zuweilen, Bill Laswells Massaker kommt in den Sinn. Dann wieder ist es plötzlich still, typisch Berne, diese dynamische Spannbreite. Da lässt der Torn mal kurz die Oud raushängen, dann übernimmt das Saxofon Ducrets E-Gitarre wie im Staffellauf. Das Ganze ist irgendwo zwischen Jazz, experimenteller Musik und Heavy Metal angesiedelt, teilweise rockiger als Rock. Heroisch wurde dies bereits genannt, ja irgendwie steckt Nietzsche drin, der Drang zur Überschreitung. Ich höre gerne Taylor Swift, doch immer wieder auch Fred Frith.

 

 
 

Das letzte Wiedersehen mit Buñuel erlebte ich beim Film Midnight in Paris von Woody Allen. Der Protagonist Gil gerät in das Paris der 20er Jahre, trifft Cocteau, Dalí, und andere Kunstgrössen und Existenzialisten, darunter auch Buñuel, der gerade wieder nach einer Filmidee sucht. Irgendjemand schlägt ihm vor, einen Film über eine Abendgesellschaft zu drehen, die am Ende den Raum nicht mehr verlassen kann. Buñuel schüttelt den Kopf und findet die Idee offensichtlich dämlich, auch nach längerem Grübeln scheint er nicht anderen Sinnes zu werden.

Dem Cineasten fällt an dieser Stelle ein grosses Grinsen ins Gesicht, ist dies doch genau die Handlung eines von Buñuels bizarrsten – man könnte auch sagen surrealsten Filme Der Würgeengel.

Il Angel Exterminador erinnert auch an den Engel mit dem Flammenschwert, der den Eingang des Paradieses bewacht –  womit wir wieder bei Grenzen wären. Insofern ist dieser Film eine vorgezogene Summary seines bisherigen Werkes: Buñuel beschäftigte sich immer mit Menschen und Menschenpopulationen und ihren äusseren, ideologisch-gesellschaftlichen, meistens aber den inneren selbstgezogenen Grenzen, aus denen sie nicht herausfinden und deren Opfer sie schliesslich werden.

Auch sein erster Film Las Hurdes – Land ohne Brot, eine Doku, zeigt das Leben eines hungernden Bergvolkes in Spanien und evoziert Gedanken über die Gründe, die die ausgezehrten Menschen hindern, dieses Land zu verlassen. By the way sind die Hurdes jetzt ein Parco Naturale mit reichlich touristischen Angeboten, heutzutage würde man es als „entzückend bukolisch“ benamsen. Tempi passati.

Nazarin und Viridiana ersticken in ihrem bigotten Katholizismus und werden Opfer derer, für die diese Werte nicht existieren und die Gutherzigkeit dieser reinen Seelen für sich zu nutzen verstehen. Tristana ist Gefangene ihres Mannes und ihres eigenen Rachemodus, Belle de Jour versteht Grenzen nur im Geheimen zu überschreiten. Die Bourgeoisie erstickt in ihren Klassenschranken, Konventionen und Ritualen (von Bunuel in einer neckischen Umkehrung vorgeführt als in Der diskrete Charme der Bourgeoisie die feine Gesellschaft auf Kloschüsseln zu Tisch sass und zum Essen aufs Klo ging, weil’s eben gerade comme il faut war – die Szene wurde ikonisch), und der Protagonist des Obskuren Objekts der Begierde zappelt im Netz seiner  eigenhändig gespaltenen Frauenbilder. Niemand entkommt seiner Haut, seinen Obsessionen, seinem Glauben und anderem festsitzendem Wahnsinn, es bietet sich also an, dergleichen einmal in einem Film zu operationalisieren.

Eine noble Abendgesellschaft – die Familie Nobile, jaja, das auch noch – der Upper Class trifft sich zu einem prätentiösen Abendessen, der Dresscode ist hochgepusht. Das Personal bereitet vor, scheint aber unter einem rätselhaften Druck zu stehen das Haus möglichst bald verlassen zu wollen, jeder hat etwas Eiliges vor und nach dem Servieren sind alle verschwunden; das Abendessen vollzieht sich in üppigem Dekor unter schichtspezifischem small talk, darunter menschelt es jetzt schon zutiefst. Nach dem Essen kippt die Szenerie – ein unerklärlicher Zwang scheint die Gäste zu hindern, den Speisesaal zu verlassen. Sie unterdrücken zunächst erfolgreich ihr Unbehagen, finden rationale Erklärungen für die Situation, nächtigen auf dem Fussboden, ohne sich einzugestehen, dass etwas Beunruhigendes im Busch ist.

Am folgenden Tage greift die Verleugnung zusehends nicht mehr. Krägen werden geöffnet, Krawatten abgelegt, Kleider aufgehakt, der Diskurs entgleitet und mit den Krawatten und Korsetts fallen auch die Konventionen und Contenancen. Es kommt zu Aggressionen und Grenzüberschreitungen, zunehmend zu Verzweiflung, Wasser und Nahrungsmittel gehen zu Ende, ein Gast stirbt und wir finden uns unversehens in Sartres Huis Clos wieder. Eine Sammlung edler Vasen dient zum Verrichten der Notdurft und schon bald existiert nichts mehr, was die upper class noch von denen unterscheidet, von denen sie sich  immer  gerne distanzieren würden.

 
 

      

 
 

Draussen versammeln sich Menschen, um zu helfen, können aber ebenfalls das Haus nicht betreten. Erst als es den Eingeschlossenen nach einigen Tagen gelingt, die gleiche Situation wie bei der Abendgesellschaft wiederherzustellen, öffnet sich das Tor zur Hölle wieder. Am nächsten Tag versammeln sich alle bei einem Dankgottesdienst, aber hinterher zeigen sich wiederum erste Schwierigkeiten die Kirche zu verlassen.

Buñuel hat sich lebenslang gegen eine Deutung seiner surrealen Symbole gewehrt, ein Vogel Strauss im Schlafzimmer sei eben ein Strauss im Schlafzimmer (Die Milchstrasse) – ein zugegebenermaßen skurriles Bild, aber nichts an dem weiter herumzudeuteln wäre. Offenbar hat sich niemand an dieses Dictum gehalten – die Interpretationen und Seminararbeiten blühten.

Nun wäre es sehr wohlfeil, das ganze Werk mit allen subtilen surrealistischen Einsprengseln im Ordner Buñuelsche Gesellschaftskritik abzulegen, auch das mental aufgeploppte Fenster „Kirchenkritik“ greift nicht – obwohl eine Horde Schafe am Schluss die Kirche stürmt und dann vermutlich auch nicht mehr aus dieser herausfinden oder auf den Topos des unschuldigen Opfers zur Befreiung der in ihren Sünden Eingeschlossenen hinzuweisen – hier ist für findige Interpretatoren nochmal eine Menge zu holen, whatever.

Filme von Bunuel sollten nicht interpretiert, sondern in ihrem Fliessen betrachtet werden – hier in ihrem Spiel mit der Dialektik von Grenzen: Das Ziehen einer so unsichtbaren wie irrealen Aussengrenze führt zwangsläufig zum Fallen der inneren Grenzen, die die Eingeschlossenen sonst voreinander und ihren wechselseitigen Aggressionen schützen und deren Aufhebung zunehmend ins Neandertal führt und man kann weiterphantasieren, ob sie sich nach längerer Zeit vielleicht gegenseitig verspeist hätten – bei einem Flugzeugabsturz 1972 in den Anden haben die Überlebenden zu diesem letzten Mittel gegriffen – der Film dazu kam relativ spät (Die Schneegesellschaft, 2023), bei anderen Katastrophen geht das schneller, es gab auch zwei Oscarnominierungen dafür, ansonsten schien er nicht viel Interesse zu wecken.

Von der Kriegsgeneration wurde auch immer dieses Grenzphänomen zitiert, wenn man als Mädchen auf dem Nachhauseweg zu späterer Stunde unangenehme Erlebnisse hatte: „Beim Adolf hätt’s das nicht gegeben!“ Klar – da tobte sich die Aggression an den Grenzen aus und innen rückte man zusammen – zumindest die, die glaubten, zu den Guten zu gehören, auch hier entstanden neue Grenzziehungen.

Die Umkehrung des sicheren Drinnens und des gefährlichen Draussens in das Gegenteil ist hier ebenfalls eine reizvolle Denkfigur; gefährlich ist das worin wir uns sicher fühlen. Und wenn etwas ausgeschlossen wird, kommt etwas anderes herein – in der Physik nennt man das eine semipermeable Membran. Und wenn ein Mensch eingeschlossen wird, kommt aus ihm etwas anderes heraus, von dem man gar nicht wusste, dass es drin war – offenbar sind Grenzen in ständiger Verlagerung und höchst dynamische Gebilde, etwa wie bei einem Labyrinth, in dem Durchgänge plötzlich gesperrt werden können und dafür andere geöffnet – auf dem Oktoberfest gibt’s dergleichen und treibt ängstliche Menschen in Heulanfälle – ich weiss wovon ich spreche.

Im Gegensatz zum Film Die Wand nach dem Roman von Marlen Haushofer, ein Film der als „Zustandsbild einer Depression“ interpretiert und gefeiert wurde, mit einer durchgehend sauertöpfischen Hauptdarstellerin – so deutsch, tiefernst, brav, ohne jegliche pfiffige Idee und Distanzierung heruntergekurbelt, dass man das Kino dann wirklich im Zustand depressiver Sauertöpfigkeit verliess und sich wünschte, man wäre ins Paris des Existenzialismus versetzt, am besten ins Café de Flore, wo alle hocken die etwas zu erzählen haben und Bunuel immer über noch über dem oben gegebenen Ratschlag brütet. Irgendwo muss es doch eine Zeitmaschine geben, in Dreisartresnamen …

 

2024 26 Mrz

Der Mittelweg

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In den letzten Tagen und Wochen war ich immer wieder damit beschäftigt, an meinen Fahrrädern herumzubasteln. Teils waren es notwendige Reparaturen, teils waren es Verschönerungsarbeiten. Kleine Rückblende: wir erinnern uns an jenen Disput zweier Motorradfahrer in Robert M. Pirsigs Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten. Beim Autor des Buches hatte sich der Lenker gelockert – in the middle of a road trip. Was tun in der Pampa? Er schnitt einen Alustreifen aus einer leeren Coladose, unterfütterte damit die Halterung und der Schaden war behoben. Nicht so für seinen Harley fahrenden Freund: der würde nur Originalteile an seiner Kultmachine dulden und zur Not meilenweit zur nächsten Werkstatt schieben. Hier zeigte sich jene Dichotomie zwischen romantischer (hip) und klassischer (square) Weltanschauung: während die einen den Fokus auf Ästhetik legen, geht es den anderen um Funktionalität. If it works it’s good enough. Zurück zur Fahrrad-Wartung: bei mir geht beides, ich achte allerdings darauf, mich nicht zu sehr in optische Idealismen zu versteigen, denn das ist erstens kostspielig und kann zweitens zu lästigen Optimierungszwängen führen. Deshalb, so platt es klingt, ist auch hier der Mittelweg der beste.

 

 
 

Fellinis Stadt der Frauen von Frederico Fellini (Frankreich / Italien 1980)

 

Niemand anderer als Sartre führte in Das Sein und das Nichts auch die Definition der Aufgabe und Rolle des Blicks ein: Der Blick kann den anderen zum Objekt machen, das betrachtet wird, er kann den Betrachter zum Objekt machen, der betrachtet wird oder sich selbst betrachtet. Somit ist der Blick ein mächtiges, weil formendes, definierendes und in hohem Masse bestimmendes Agens in der gesamten Phänomenologie.

Im narrativen Kino des 20. Jahrhunderts – so die Filmtheoretikerin Laura Mulvey – ist der Blick überwiegend ein Male Gaze, ein omnipräsenter männlicher Blick, der Frauen als sexuell begehrenswerte Objekte einem männlichen heterosexuellen Publikum zu eben diesem Genuss präpariert und vorführt. Die gleichzeitig mitguckenden Frauen waren seinerzeit in einer Form sozialisiert, dass sie diese Sichtweise mit übernahmen, in sexueller, kultureller und ästhetischer Hinsicht und identifikatorisch schön fanden, was die Männer schön fanden und sich auch bezüglich der eigenen Erscheinung daran orientierten. Davon leben ganze Industrien.

 
 

 
 

Fellini – generell eine verspielte Natur – spielt in  Stadt der Frauen  furios mit diesem Genre und seinen Klischees, dem Bild des Mannes als solchem und seinen Ängsten, seinem Narzissmus und den sich daraus ergebenden Skurrilitäten.

Snaporaz, ein nicht mehr ganz junger Herr (Marcello Mastroianni, wer sonst, ohne den gehts ja nicht) wird auf einer Bahnfahrt von einer üppigen Dame (Fellinis Kragenweite) – die Kamera tastet sie ab wie ein männlicher Blick – aus dem Zug und über eine Wiese gelockt wie von Charon über den Styx oder von der Hexe ins Lebkuchenhaus.

Der Spiess wird umgedreht – die Dame fotografiert ihn und fordert ihn auf die Augen zu schliessen – eine symbolische Inbesitznahme des Mannes und Umkehrung des Betrachtens ins Betrachtetwerden. Von da an ist er nicht mehr aktiv Handelnder, er muss die Dinge geschehen lassen und es geschehen eine Menge davon.

Statt ein Abenteuer zu erleben wird S. zu einer Villa gelockt, in dem offenbar ein Feministinnenkongress vom Feinsten stattfindet. Die Frauen machen Yoga, halten flammende Vorträge gegen Machismus, spielen satirisches Theater und fahren mit MGs bewaffnet durch die Gegend, vermutlich um ihr Unternehmen zu schützen, vielleicht auch noch Schlimmeres. Die Stimmung kippt ins Paranoide.

 
 

 
 

Die Aktivität der Feministinnen in diesem Haus ähnelt der Aktivität jeder lebendigen Bewegung in der Realität: Spaltungen, Bildung von sich befehdenden Untergruppen, unterschiedliche Strömungen und Schwerpunkte, Anführerinnen, die die Bewegung diversifizieren oder schwächen – all in one hier unter einem Dach in buntem Reigen.

Snaporaz versucht zunächst mit Charme in diesem Pandämonium klarzukommen, scheitert natürlich und wird zusehends verängstigter, irgendwann fürchtet er geradezu um sein Leben. Er findet seine Rettungsinsel schliesslich in der belagerten Villa von Dr. Cazzone, einem Edelmacho mit einem Haus voll von Fetischen, die das Männerherz erfreuen, aber auch ständig umschlichen von den patrouillierenden Frauen. Die letzte Bastion eines Kotzbrockens.

Aber die Frauen sind nicht nur wegen ihrer Überzahl, geballten wütenden Power und ihrer Waffen gefährlich, der Film zitiert auch andere Bildgebungen wie etwa in Form der püppchenhaften Verlobten Cazzones den Mythos der verschlingenden Vagina (sie kann mit derselben einen Sog ausüben und kleinere Gegenstände hineinziehen), ein machtvolles Organ, bei dem sich Mann jahrtausendelang nie ganz sicher war, ob im Inneren nicht doch ein Fallbeil wartet –  und was mit der Büchse der Pandora wirklich gemeint war, haben wir mittlerweile auch verstanden.

Wenn hier im Dorf irgendwo ein Mädchen zur Welt kommt, steht vor der Gartentür ein Storch und darunter steht Bixnmacherei (Büchsenmacherei), wenn nicht überhaupt ein paar leere Konservendosen gut sichtbar aufgehängt werden. By the way – wenn ein Sohn geboren wurde wird ein Weisertwecken gebacken – ein möglichst langes Stangenweissbrot (1 m Brot pro Pfund Geburtsgewicht) und an die Hauswand gelehnt mit Umzug, Blasmusik und allerlei Festivitäten. Phallisch-Nahrhaftes contra Blechmüll ohne Festivitäten. Ich sage nichts weiter.

 
 

        

 
 

Fellini war auch begeisterter Jungianer – im Keller des Hexenhauses – also unten, wo’s in der Regel heiss wird – wartet die Heizerin, eine monströse unbefriedigte Frau, die Snaporaz bei ihren Annäherungsversuchen fast erdrückt – die begierige phallische Frau. Damit wäre die Archetypologie weiblicher Schrecknisse komplett.

Aber Fellini zeigt nicht nur den Male Gaze, sondern auch den Female Gaze – die durch Frauen vorgenommenen Verzerrungen des Männerbildes – wiederum im Spiegel des männlichen Blicks – beispielsweise, wenn von einer Theatergruppe im Hexenhaus eine Szene geprobt wird, in der eine Frau mit Frankensteinmaske eine andere Frau a tergo bespringt, während diese am Herd im Topf rührt. Das penetrierende und unterdrückende männliche Monster aus der weiblichen Perspektive, hier vom Mann gesehen – damit auch ein Blick des Mannes auf die Feministinnen und ihre eigenen Zerrbilder und deren Blick auf den Mann.

Ein raffiniertes Vexierspiel mit vielfältigen Brechungen, man wähnt sich zuzeiten im Spiegelsaal von Versailles (oder in Schloss Herrenchiemsee im Land der Bixn und überlangen Baguettes), in welchem Spiegel Spiegel spiegeln, bis nichts mehr zuzuordnen ist und die Realität sich in Bildern auflöst.

 
 

 
 

Snaporaz gerät als nächstes vor ein Frauengericht und wird zu seiner Verwunderung freigesprochen, vermutlich kommen die Frauen zu dem Schluss, dass dieses Würstchen ohnehin nicht mehr viel Unheil anrichten kann, insbesondere nicht nach dieser Reise.

Zum Ende hin wird es vollends surreal – symbolistisch: Snaporaz durchbricht eine rotsamtenes, einer Vulva ähnelndes Tor, landet auf einer Rutschbahn die ins Dunkel führt und rettet sich in einen Ballonkorb, der Fesselballon hat die Form einer riesenhaften, knappst bekleideten Frau mit Brautschleier, die die Seile hält als würde sie Strippen ziehen: Der Mythos der heiligen Hure und ihrer Anziehungskraft auf entsprechend gepolte südosteuropäische und  aussereuropäische Männlichkeit. Diese Ballonfigur ähnelt Donatella, seiner hilfreichen Begleiterin durch Dantes Inferno. Die reale Donatella greift aber alsbald zum Gewehr und schiesst auf ihren eigenen Mythos, von dem sie offensichtlich genug hat, bis er platzt – e basta così – damit der Schmarrn endlich ein Ende hat.

Nach diesem pompe funèbre eines gebeutelten Machos erwacht Snaporaz wieder im Zugabteil, die üppige Dame lächelt ihn wieder vielsagend an, zwei zusteigende kichernde Studentinnen, eine davon Donatella, werfen ihm Blicke zu. Seine Brille, die ihm im Hexenhaus zerbrach, erweist sich immer noch als zerbrochen – Traum- und Realitätsebene sind damit als gleichberechtigt konfiguriert – das Unbewusste kennt weder Zeit noch Unterscheidung zwischen Dreidimensionalem und Fantasmagorischem, beides ist lebensbestimmend.

 
 

 
 

Was ist das Besondere an diesem Film? Er ist weder feministisch noch feiert oder geisselt er den Machismus, er ist keine blutleere Satire und der Regisseur geht milde mit seinen Darstellern um, ebenso wie das Frauengericht mit dem Eindringling. Die tragende Gefühlsspur des Filmes ist die überschäumende Lebensfreude und letztlich Gutartigkeit der Frauen in allen Formen der Schönheit und Hässlichkeit, mit Körpern die nicht perfekt, aber anziehend sind. Die vom Regisseur (seine leicht masochistische Komponente ist allenthalben zu spüren, dominante Frauen erschrecken Fellini durchaus nicht, ich darf an Amarcord und die Zigarettenverkäuferin erinnern) niemals blossgestellt, entlarvt oder intellektuell definiert und damit entfremdet werden, sondern in ihrer einfachen Menschlichkeit gezeigt. Man kann sich im Rachemodus in die jeweiligen Zerrbilder des anderen Geschlechts verbeissen – und die eigenen dabei natürlich unangetastet lassen – man kann sich aber auch in einer Position der Augenhöhe und Wertschätzung darüber austauschen, und seinen Spass dabei haben, insbesondere bei Fellini’schen Darstellungsweisen. Humor versteht so manches zu transzendieren. Italienische Frauenverbände haben sich wütend von diesem Film distanziert, aber es kommt auch bei Frauen manchmal vor, dass sie den Schuss nicht gehört haben.

 

2024 21 Mrz

fender calls

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„sanftes gleiten“

 
 

[… da mir diese kleine homegrown-impro nach tagen immer noch gefällt, stelle ich sie wieder rein. gitarrespielen ist ja immer auch eine seltsame mischung aus (mangelnder) fingerfertigkeit und dem versuch, favorisierte klangvorstellungen nachzuahmen. ich kann nur das spielen, was ich kenne – aus dem grand portfolio angewachsener erinnerungen. apropos gewachsen: mit neu gewachster fahrradkette (vorher gründlich entfettet) lässt es sich sanfter und stiller durch die landschaft gleiten als je zuvor. wieder mal stellt sich die altbekannte frage: warum so spät, warum erst jetzt? …]

 

 
 

Es gibt tatsächlich das Genre der Mindfucking-Filme, die sich gerade im Sci-Fi-Genre explosionsartig vermehren. Der Zuschauer muss eine Menge Konzentration aufwenden, um sich orientieren zu können, auf welcher zeitlichen oder räumlichen Ebene das Filmgeschehen gerade abrollt und hat auf jeden Fall sehr viel corticale Arbeit. In einen Flow zu kommen oder gar etwas zu geniessen ist schwierig bis unmöglich – und by the way: Ich mag diese Gespinste überhaupt nicht.

Begonnen hatte es 1999 noch relativ charmant mit der Matrix: ein Film, der sich der schon in der Antike aufgeworfenen Frage über die Authentizität unserer wahrgenommenen Realität widmet. Woher wissen wir, dass wir nicht nur träumen und alles uns Umgebende nur ein Spuk ist? Ein durchaus anspruchsvoller neuer Ansatz für Sci-Fi und seine bekannten Techno-Orgien, die inzwischen ausgereizt waren, sich hier aber gottlob in Grenzen hielten (dafür gabs eher Martial-Arts-Kampfszenen, in denen die Kämpfer die Schwerkraft aufzuheben verstanden wie die Ninjas) zugunsten der Faszination von Überwindung der Zeit- und Raumgrenzen.

Also: Woher wissen wir, dass wir nicht verkabelt in einer Nährlösung unter Dauerchemiebeschuss vor uns hinträumen – vielleicht noch gleichgeschaltet mit unseren Nachbarn den gleichen Traum träumen und mit ihnen im Traum interagieren? Fragen – so alt wie der Homo sapiens oder höchstens ein bisschen jünger.

Oder ob es vielleicht dem neuen Leonardo (nicht da Vinci sondern DiCaprio) gelungen ist, einen vorher in seinem Traumlabor designten Traum in unser Unbewusstes einzuschleusen und selbst drin mitzuspielen – in Inception von Christopher Nolan wohlerprobt dargeboten.

 
 

 
 

Leo DiCaprio klagte später darüber, dass selbst die Schauspieler bei den Dreharbeiten die Orientierung verloren und nicht mehr wussten, in wessen Gehirn sie da gerade mit wem zu welchem Zwecke herumturnten; der Zuschauer wusste es meistens auch nicht, sondern schaltete auf „flow“ und genoss die effects und den neuartigen Ansatz dieses Genres. Oder verliess das Kino mit Kopfschmerzen.

Das in Inception vorgeführte „dream-creating“ liess sich natürlich von Regierungen und Konzernen prächtig für ihre Zwecke einsetzen. Da entstanden spannende Machwerke wie Timeline, Source Code, Looper und vieles mehr. Hirngymnastik sozusagen, für manche lustvoll.

Oder in Blade Runner (1986) – eine Frühgeburt des Genres und dieser Zeit voraus – das ständige Rätselraten, ob man es nun mit einem Menschen oder einem künstlich gezüchteten Replikanten zu tun hat, dem darüber hinaus künstliche Erinnerungen eingepflanzt wurden, so dass er selbst nicht weiss, ob er ein Mensch ist oder ein funktionalisiertes Menschenwerk, am Schluss wusste keiner mehr irgendwas und bis heute wird im Netz diskutiert, ob Harrison Ford nicht doch ein Replikant war und wie das zu beweisen wäre. Nämlich durch ein papierenes Origami-Eichhorn in einem Traum, also alles gar nicht so einfach. Die Sache kam also an. Wie gesagt – nix für mich – ich liebe es nicht, ständig von neuen Raum- und Zeitebenen überrannt zu werden, mir fällt dabei immer nur der gallebittere Witz ein, dass es auch Vorteile bringe, an Demenz zu erkranken: Man ist jeden Tag woanders und lernt neue Leute kennen.

Nun ist das Designing des Unbewussten und des Gefühlslebens nichts Neues und wird in Werbung und politischer Berichterstattung und dem Arbeiten mit versteckten Botschaften und subliminaler Wahrnehmung angewendet, seit es Medien gibt. In Inception wird es noch einmal auf den Punkt gebracht, worauf wir zusteuern könnten, die prophetische Funktion des Kinos, die ich wiederum sehr schätze – spätestens seit dem Tage als ich nach Hause kam, die brennenden Twin Towers auf dem Bildschirm sah und mich wunderte, warum mein Mann schon mittags Independence Day guckte.

Von da ab nahmen die Aliens wieder Züge des politischen Feindes an, nur waren’s diesmal nicht die Russen, sondern die IS und die 3. und 4. Welt und ihr Hunger die sich auf die westliche Zivilisation stürzten.

So wie in Inception die Gehirne als Schauplatz ständig wechselten, sind es in den Zeitreisefilmen die Zeitebenen mit ihren logischen Verwerfungen und Hyperloops, über die sich der Zuschauer den Kopf zerbrechen muss, anstatt Liebesszenen zu geniessen und sich zu freuen, wenn sich zwei endlich kriegen, bei denen man schon vorher wusste, dass sie sich kriegen.

Also: Es kommt jemand aus der Zukunft zurück in die Gegenwart, die ja für ihn dann eigentlich Vergangenheit ist, um etwas hinzubiegen, das ihm in der Zukunft das Überleben möglich macht oder seine Befindlichkeiten anderweitig verbessert, beispielsweise jemanden in der Gegenwart, die aber für ihn Vergangenheit ist, aus dem Weg zu räumen, damit selbiger ihn nicht in der ferneren Zukunft im Futurum 2 um die Ecke bringt, wo er sich dann ja auch wieder hinbegeben muss. Life-Designing sozusagen – vor eine schwierige Situation gestellt geht man kurz in das Plusquamperfekt und geht dem an die Gurgel, der einem gerade in der Gegenwart Schwierigkeiten bereitet. Das hat was!

Das setzt dem dream-designing noch einiges drauf und die Terminator-Tetralogie oder -quintologie war ja auch durchaus unterhaltsam.

Gestern abend dann voller guten Willens Predestination (2014) herbei gestreamt, das die ganze Sache noch toppte: Eine auf Zeitreisen spezialisierte Firma schickt Agenten in die Vergangenheit, um in der Gegenwart geplante Verbrechen zu verhindern, zumindest habe ich es so verstanden – und dann schon sehr bald nicht mehr durchgeblickt. Designing des gesellschaftlichen Zusammenlebens und sehr praktisch anmutend – ein bisschen die Vergangenheit aufräumen und schon läufts – steckt da nicht ein urmenschlicher Wunsch dahinter? Wer möchte nicht den Weltkrieg aus der Geschichte tilgen?

Eine relativ schonende Form des Selbstmordes wäre es dann, einfach zu verhindern, dass sich die eigenen Eltern in der Vergangenheit gar nicht kennengelernt hätten – oder wenn doch, ein Kondom benutzt hätten und man sich selbst sodann zurück in der Gegenwart in Nichts auflösen könnte beziehungsweise schon als Nichts in diese zurückkäme. Auf diese Weise könnte man ganz legal auch unerwünschte Partner oder andere unangenehme Zeitgenossen eliminieren. Aber das führt jetzt zu Gedankenabschweifungen … wann ist gleich nochmal Putin gezeugt worden?

Wie kann man sich nun vergewissern, ob man sich in der Traumwelt oder der dreidimensionalen Realität befindet? Dazu hat Nolan den Kreisel erfunden beziehungsweise einen McGuffin in Form eines Metallkreisels als Indikator zur Orientierung über den eigenen Standort: In unserer dreidimensional fixierten und gravitationsgebeutelten Welt tut dieser, was ein Kreisel nun mal tut, nämlich kreiseln und irgendwann damit aufhören. In einer immateriellen virtuellen Realität dreht er sich in extenso weiter oder fliegt durchs Fenster davon oder … oder …

Am Ende von Inception lässt der Leo wieder den Kreisel kreiseln, gemeinerweise wird aber rechtzeitig abgeblendet, so dass wir nie erfahren, ob Leo nun in der irdischen Realität seine in einer anderen Realität ermordeten Kinder wieder in die Arme schliesst oder wiederum nur davon träumt. Nachdem er sich vom Kreisel abwendet und ihn allein weitertrudeln lässt, signalisiert er auch, dass es ihm schlicht egal ist – er bleibt in der für ihn attraktivsten Realität. So geht’s auch. Jeder Junkie würde ihm da beipflichten.

Somit trat der Sci-Fi in eine neue und bisher letzte Phase ein.

Nachdem zuerst die paranoide Angst vor dem politischen Gegner in der Zeit des kalten Krieges das Genre der Invasionsfilme prägte und es in den aufgelockerteren Zeiten der Sechziger und Siebzigerjahre bis in die frühen Achtziger zum Kuschelkurs mit den Aliens kam (E.T., Alf, die Kleinen aus Close Encounter und andere nette Nachbarn) geht es nun anders weiter.

 
 

 
 

 
 

Bis die selben dann in den Neunzigern wieder oral-aggressiv aus Gründen der Ressourcenverknappung auf den Heimatplaneten sich auf die Menschheit stürzten (das Jahrzehnt in dem wir langsam begriffen dass uns auch in der 1. und 2. Welt der Saft ausgehen könnte) herrscht nun die Phase der völligen Grenzüberschreitung und Orientierungslosigkeit, indem der Mensch nicht mehr weiss, wo und wann und nicht mal wer er überhaupt ist und ob der jeweils andere nicht nur ein Gespinst des eigenen Gehirns ist. Ein unerschöpflicher Fundus für anstrengende Verwicklungs-Plots, in denen nun alles möglich scheint. Das mag wie Freiheit anmuten – ich definiere mir meine Welt selbst und bewege mich darin. Das Unbehagen der Protagonisten und ihr Suchen nach Halt und Orientierung drückt aber das tiefe Bedürfnis des Menschen aus nach einer für alle verbindlichen und teilbaren Realität, die Vereinsamung verhindert – auch hier wieder der Sci-Fi als Spiegel kollektiver Bedürfnisse in einer Anything-goes-Welt in der jeder in sein eigenes virtuelles Reich versinkt.

Diesem Bedürfnis gerecht werden die gängigen Formen von social media, die die Illusion und die Scheinsicherheit erzeugen mit allen zu jeder Zeit verbunden zu sein; ein haltendes Netz – bei dem man aber andererseits genausowenig sicher sein kann, ob man nicht mit einem Bot, einer KI, einem Love-Scammer oder einem Algorithmus kommuniziert oder gar mit dem bayrischen Ministerpräsidenten. Und auch nicht, ob der irgendwo sitzende fleischliche Like- oder Klick-Freund sich im Bedarfsfall wirklich als Freund erweisen wird wenn man ihn dreidimensional braucht.

So bleibt zumindest die Illusion permanenter Verbundenheit in einem immer unübersichtlicher werdenden Kosmos, in dem langsam alle Grenzen verschwimmen.
Noch dreht sich Leo’s Kreisel … ob er umkippt?

 
 

2024 19 Mrz

do you know knower?

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Either way …

 

„The Goverment Knows“

 

Knower is a duo with drummer Louis Cole and vocalist Genevieve Artadi. The following clip also features bass player Tim Lefebvre, well known from works with David Bowie and Uri Caine (Bedrock). Notice the incredible drum programming and the beautiful singing here. I must confess, I’m a bit obsessed by Knower. They call it „full blast“, I call it great pop.

 

„Lady Gaga“

 

2024 18 Mrz

Langer Atem

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Ich kann nicht anders, aber ich muss ein Loblied auf diese Duoarbeit singen. Harmen Fraanje am Klavier und Arve Henriksen an der Trompete. Understatement, Zurückgenommenheit pur. Der Sound von Henriksens Trompetenspiel, so klein, so nebelverhangen, so schilfig. Ich sah ihn im Pierre Boulez Saal mit Jakob Bro vor knapp 2 Jahren. Wir trugen alle schwarze Masken. Für mich war er der Star des Abends.

Harmen Fraanje kannte ich noch nicht. Er spielt ein sehr „nordisches“, auf das Wesentliche reduziertes Piano. Kein Schnickschnack, kein Ton zuviel. Sehr lyrisch und impressionistisch, er hat seinen Bill Evans inhaliert. Die beiden ergänzen sich perfekt, die diskreten Klavieranschläge und der stetig verlaufende, nasale Trompetenton. Dazu gelegentlich elektronische Zuspielungen von Henriksen. Ätherisch, schwebend, traumwandlerisch. Jon Hassell hätte seine Freude daran gehabt. Eine Hochzeit im Himmel. Glaubt es ruhig, dieses Mal stimmt es.

 

2024 13 Mrz

Hören & Fahren

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Frauen sollten ein Verhältnis zur Wirklichkeit pflegen, schreibt Virginia Woolf 1929 in „Ein Zimmer für sich allein“, ich horche auf die Stimme von Erika Pluhar, die mir den viel zitierten Aufsatz nahebringt. Mit dieser Aufforderung zu eigenständigem Denken schließt die Autorin, nachdem sie zuvor ausführt, was zu- und was abträglich ist für einen freien Geist.

Später fällt mir auf, dass Weltfrauentag ist, während ich dem Vortrag lausche und mein Automobil in Richtung Süden steuere, unablässig streift der Blick den grauen Bandwurm von Autobahn entlang. Fast 100 Jahre ist es her, dass Frau Woolf gute Literatur daran misst, ob sie ein Feuerwerk an Gedanken auslöst oder weitere Einfälle erstickt: Mit solchen in eine Erzählung eingebundenen Hinsichten ist es eine wirklich muntere Fahrt geworden.

 


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