Die Chiemgauer Künstlerin Maria Sigl geht künstlerisch so ganz ihren eigenen Weg: Sie gestaltet nicht Materie, sie räumt der Materie die Möglichkeit ein, sich nach ihrer Eigengesetzlichkeit selbst zu gestalten, sowohl malerisch als auch durch Wahrnehmung am und im Stein. Bei ihr entwickelt die Materie ein Eigenleben – das erfordert eine Haltung des Sich-Zurück-nehmens, des Loslassens, des Zulassens und des Einlassens der Künstlerin, frei vom Anspruch ästhetischer Normansprüche oder irgendeiner Zielsetzung im Resultat der Arbeit. Man könnte hier von einer autopoietischen Kunst sprechen. Abwarten, Einfühlen, sich in den Dialog mit dem Material einschwingen: es wird was sich zeigt, ein eingehendes Zulassen des kreativen Prozesses und der Respekt vor den Kräften der Natur – eine Form von Demut. Sie arbeitet mit Sanden, Naturpigmenten, selbst gewonnenen Pigmenten aus den abfallenden Raspel- und Feilresten des von ihr behauenen afrikanischen Steines aus Simbabwe. Dick und breitflächig aufgetragener Sumpfkalk, viele Schüttungen, immer sich wiederholende Trocknungsprozesse, die eine neue Modifikation bewirken; das Material lädt die Spannung über Risse, Spalten ab, es bricht, zieht sich zusammen, splittert, platzt. Annehmen was ist. Beim erneuten Betrachten werden neue Anmutungen und Assoziationen erzeugt, Veränderung, Vergänglichkeit, Neubeginn. Ein neuer Gestaltungsprozess wird geriert, in dem Natur und gestaltende Kultur weiter zusammen arbeiten. Beizen, Tuschen, Ölfarben, Pigmente gestalten mit. So ein Bild dauert oft Wochen, bis es von der Künstlerin als fertig angesehen wird und vermittelt eine Vorstellung davon, wie Natur Leben gestaltet. Es werden Lösungen im Dialog mit dem Material gefunden, um einen weiteren experimentellen Weg mit der oft archaisch anmutenden Arbeit zu beginnen. Abschied und Neubeginn. Dem Unbewußten wird hier wichtiger Raum für diesen kreativen Prozess gegeben und ist auch kunsttherapeutisch so gewollt.
Ähnlich ist es mit den Skulpturen: archaisch-steinzeitlich anmutende Figuren, die nicht in den 2,6 Millarden alten afrikanischen Stein gehauen, sondern aus ihm herauszuwachsen scheinen und damit von einem Wandlungsprozess erzählen, ähnlich den Nachkommen des Paares Deukalion und Pyrrha aus der griechischen Mythologie, die Steine auf das Feld warfen, die sich in Menschen verwandelten, ein in der bildenden Kunst oft verwendetes Motiv. Das Versteinern und wieder Verlebendigen war ja auch Thema von Michelangelo in der Darstellung seiner „Sklaven“. Auch hier gehen die Figuren fliessend vom bearbeiteten in den unbearbeiteten Teil über und vermitteln ein Bild vom Kampf des Menschen mit der belastenden Materie, die er überwinden möchte und die ihn letztlich zwingt, besiegt wieder in sie zurückzukehren. Verlebendigung ist ebenso Thema von Maria Sigl, die viele Jahre als Kunsttherapeutin – unter anderem auch mit Flüchtlingskindern gearbeitet hat, wobei es auch oft galt, traumabedingte Erstarrungen zu lösen und den Menschen wieder ins Fliessen zurück zu führen. Sie arbeitete dabei gerne großformatig mit Papierrollen, Kreiden, Fingerfarben, Acryl, wobei sie leider einen Beuys-Effekt erleben mußte, weil die Reinigungsfrau die gesammelten aufgerollten Arbeiten für Abfall hielt und diese kurzerhand entsorgte. Ein geplanter Vortragsabend bei mir vor einer Schar interessierter und vorfreudiger Kinderpsychotherapeuten fiel dann mangels Material im Wortsinne ins Wasser bzw in die Papiertonne.
Es ist ein Arbeiten frei von ästhetischen Ansprüchen und ohne ein vorgeformtes Ergebnis, ein Loslassen, ein Zulassen, ein Einlassen – das Material arbeitet mit. Professor Dr. Elmar Zorn hat diese Aussage von der Künstlerin in seinem Begleittext für das Buch noch einmal hervorgehoben.
„In unserer auf Effektivität getrimmten Epoche vermittelt es eine wohltuend entspannte und geradezu heilsame Kooperation zwischen Mensch und Natur, von der wir nur profitieren könnten, wenn wir nur bereit wären sie zu erlernen.“
Somit wäre die autopoietische Kunst auch geeignet, gesellschaftliche Veränderungsprozesse anzustoßen und zu begleiten und beweist erneut, wie wichtig Kunst generell zur Weiterentwicklung menschlichen Bewußtseins hilfreich sein kann.
Im Zeitalter digitaler – also nicht mehr anfassbarer, fluider und haptisch nicht mehr fühlbarer Kunst erlebt man die archaische Schwere dieser Objekte als wohltuend und erdend. Man entwickelt wieder Vertrauen zu den Fähigkeiten der Natur und zu sich selbst, die Dinge zu etwas Lebensfreundlichem zu wenden, wenn wir sie nur lassen würden.