Die angekommene Sengalesin war höchstens 14 Jahre alt. Eine kleine rosa Plastiktasche hing ihr um den Hals. An der messinggoldenen Kette hatte sie sich wohl festgehalten, um die harte Fluchtstrecke zu überstehen. Das kleine Täschchen war ihr Survivalkit. Wer hatte es ihr mit auf den ungewissen Zukunftsweg gegeben? Oma, Mutter, Schwestern, Freundinnen? So wie sie den Talisman vor sich hertrug, war mir klar: dieses Mädchen würde es schaffen.
Außer ihr warteten noch etwa 70 sehr junge Migranten im Hafen auf die Überfahrt nach Teneriffa. Während ich mich vom Roten Kreuz als Helferin registrieren ließ, näherte sich ein etwa 8 Jähriger Flüchtling und fragte mich, ob ich seine Mutter sei. War das eine verzweifelte Bitte oder ein Trick? Ich hätte ihm gerne etwas geschenkt. Wenn die Migranten auf Hierro ankommen, erhalten sie Wasser und Decken. Sie werden erstmedizinisch untersucht und dann in Touristenbusse in bereitstehende Unterkünfte gebracht. Dort können sie drei Tage bleiben, schlafen, essen und sich registrieren lassen. El Hierro hat 11000 Einwohner. In diesem Jahr sind bereits 8.800 Migranten aus dem Senegal, Mauritanien und Gambia angekommen. Die Minderjährigen können erstmal auf der Insel bleiben, die anderen werden nach Teneriffa bzw. in die Gegend von Madrid gebracht. Die Insulaner hier helfen gern. Sie kennen die Schwierigkeiten einer Migration. Wenn ein Holzschiff im Hafen von dem 500 Einwohner zählenden Ort einläuft, rennen die Herreños zum Hafen, um zu helfen und auch um 14 Euro die Stunde zu verdienen. Vor zwei Wochen kamen allein in einem Boot 371 Flüchtlinge an. So viel wie noch nie.
Warum kommen so viele immer jüngere Menschen über diese Todesroute? Es gibt von der senegalesischen Regierung eingesetzte Videos auf Tik Tok, die Aufnahmen der Fluchtwege zur Abschreckung zeigt. Diese Bilder halten aber die jungen Menschen nicht davon ab, zu fliehen. Es ist der Hunger, der sie in die Boote einsteigen lässt. In diesem Zusammenhang müssen die Grands Marabouts erwähnt werden, die eine entscheidende Rolle spielen. Marabouts sind islamische Lehrer, die großes Ansehen bei der Landbevölkerung im Senegal genießen. Eltern bringen ihre Söhne in die Koranschulen, weil sie sie nicht mehr ernähren können. Die Marabouts unterrichten sie jedoch kaum, sie lassen sie auf ihren Erdnussfeldern 14 Stunden und mehr arbeiten. Auch in den Städten beuten diese Koranlehrer ihre Schüler aus. Diese müssen 5 Stunden täglich betteln gehen. Die Regierung macht nichts dagegen, weil sie viele Wahlstimmen aus deren Umfeld erhält. Oft verschwinden über Nacht junge Männer, ohne sich von der Familie zu verabschieden, um den Fluchtweg über den Atlantik zu riskieren. Es gibt mittlerweile Zentren für trauernde Familien, allen voran für Mütter, die ihre Söhne verloren glauben. Sie versuchen ihre Kinder per Handy zurückzuholen, die meisten gehen noch nicht mal dran. Es ist ein Glück – und kein Luxus – , dass die Migranten ein Mobiltelefon haben, so können sie ihr soziales Netz informieren und zum Teil auch von der Seenotrettung geortet werden. Also ein notwendiges Überlebenswerkzeug.
Während der Pandemie brach die Wirtschaft im Senegal enorm ein. Tourismus, Transport und Dienstleistungen lagen darnieder. Jetzt geht es wieder leicht aufwärts, trotzdem gibt es zu wenige Stellenangebote. Es sind die Zweit- und Drittbrüder, die das Land verlassen, weil nur für den Erstgeborenen genug Arbeit vorhanden ist.
Der Soziologe und Ökonom Gunnar Heinsohn, der leider in diesem Jahr 80 jährig verstorben ist, hat immer wieder vor den Armutszuwanderern aus afrikanischen Staaten gewarnt. „Integration gelingt nur, wenn sie nicht gepredigt werden muss, weil die Neubürger – unter welcher Gottheit und Hautfarbe auch immer – mit der Kompetenz für lebenslanges Lernen kommen. Menschen ihres Könnens werden wegen steigender Anforderungen allerdings weltweit knapper. Drängen weitere Bildungsferne nach, verlieren die für sie Zahlende den Mut und streben in Kompetenzfestungen, die Pässe nur an Asse zu vergeben.“
Wenn Daniel Schreiber, der immerhin eine Susan Sontag Biografie verfasst hat (Susan war mutig im Jugoslawienkrieg in Belgrad aktiv anwesend), in seinem neuen Bestseller Allein beschreibt, wie man durch self care nicht nur überlebt, sondern lebt, dann dreht sich mir angesichts solcher Selbstbepinselei der Magen um. Wenn der rassistische Witzemacher Hamza Raya fragt: Was ist der Unterschied zwischen einer Pizza und einem schwarzen Vater? Und selbst antwortet: Die Pizza kann die Familie ernähren – dann ist das ein größerer ring them bells als der Ruf nach einer Yogamatte.