Eine neue Theorie über das Begehren des/r Diversen?
Zunächst: Der Plot ist nicht eben aufregend, der Film kein Nägelkauer und kein Lehnenkraller und der Regisseur Emanuele Crialese verzichtet auch auf die intellektuell-kunstvollen Verschachtelungen eines Almodóvar, obwohl er sich sichtlich an diesem orientiert, dessen Lieblingsthema (Mütter am Rande des Nervenzusammenbruchs oder – wie hier – schon mittendrin) aufgreift und ihm auch sein bewährtes Zugpferd namens Penelope ausspannt. Verortet ebenfalls im Kosmos des Meisters und seiner opulenten 70er-Jahre Ausstattungen. Penelope wuppt den Film wie immer grandios, obwohl man ihr langsam wünschen würde, einmal wieder eine andere Rolle zu kriegen als die der toughen, liebenswerten und vom Leben gebeutelten Mamma. Zuletzt sah ich sie in Ma Ma, einem Film von Medem, als taffe Mamma mit Mammakarzinom. Davor: Mamma mit Nervenzusammenbruch, Mamma mit Hirntumor, Mamma mit krebskrankem Kind, Mamma mit entführtem Kind, Mammas Parallelas, zuletzt noch Almodóvars Mamma in seiner Biografie. Genau wie die schönste Brust ist auch das schönste Gesicht mal ausgelutscht in der Filmwelt, Senora! Mittlerweile kommen mir Warhols Suppendosen in den Sinn – viele Farben, gleicher Inhalt und zum Archetypus mutierend bzw den Fetischcharakter von Waren und Marken verdeutlichend. Aber jeder muss selbst wissen wie er seine Karriere in den Sand setzt.
L‘ Immensita zeigt die Welt vorwiegend aus der Sicht der circa 14-jährigen Adri, die ein Junge sein möchte und sich lieber Andrea nennt. Es ist die eigene Kindheitsgeschichte des Transmanns Crialese unter der Crux seiner Geschlechtsdysphorie.
Eine mittlerweile oft verfilmte Thematik in südlich-leichtem Modus erzählt und in einer römischen Neubaudystopie verortet – abgehandelt ohne den Bierernst deutscher Produktionen zum Thema, wobei Transsexualität sicher kein leichtes Schicksal ist, aber durchaus einmal aus dem Katastrophenmodus herausgehievt werden darf. Die übrigen Figuren sind überraschend platt-eindimensional, mehr Funktionsträger als Menschen, was aber verzeihlich ist, wenn man dem Regisseur zuliebe annimmt, dass das Ganze durch die Lupe der Wahrnehmung eines Teenagers gesehen wird. Da ist’s auch in der Realität mit der Differenziertheit und Brechung der jeweiligen Bezugspersonen einfach noch nicht so weit her, da tanzen noch kindliche Klischees ihren bekannten Reigen, da ist der Vater ein asshole, die Oma eine zickige Spiesserin und die Mama einfach der Oberhammer, schon allein als Gegenbild zum Vater-asshole. Es lebe die Spaltung! Kunstvoll facettenreiche Charaktere können hier nicht erwartet werden. Die Phantasien von Adri über ihre Mutter sind musical-artige Einblendungen, wozu viele bekannte Popsongs bemüht werden, auch von Love Story- und Dr. Schiwago-Hits schreckt man nicht zurück. Dort erträumt Adri phantastische Gesangsauftritte für sich und Mama, mit sich als Celentano-Klon und Mama im Hintergrund als Gogo-Girl in alten Röhrenfernsehern. Ein ironisch verfärbter Blick in Innenwelten, aber auch rührend.
Kritiker nahmen dem Film seine fehlende emotionale Wucht übel – als wäre das eine Grundbedingung für gute Filme – tatsächlich mäandert er eher geruhsam von einem Thema und einem Schauplatz zum anderen – so wie ein Teenager durch den Tag trudelt, der für Tag und Leben noch keine Richtung gefunden hat und mit Neugier und Befremden betrachtet, was es so alles auf dem Planeten gibt. Auch hier bleibt der Film dem kindlichen Lebensgefühl treu. Wie oft vermissen Teenager die Spannung und den Kick in ihrem Leben ebenso, wie der Zuschauer hier hofft, dass jetzt endlich etwas passiert, am besten zum Wohle von Mutter und Kindern, die einem sympathisch sind. So etwas wie Rettung, einen Ritter auf weissem Pferd etwa, womit wir wiederum im Neocortex einer 14-jährigen verbleiben. Auch als die schwelende Depression der Mutter diese endlich in die Klinik führt, passiert nicht viel – sie kommt zurück wie sie hingegangen ist. Inzwischen müssen der widerwärtige Vater und die normentreue Grossmutter eben ertragen werden. Das Leben ist hier porträtiert als ein Warten, ein Noch-nicht, ein Verweilen im Unbestimmten, für Adri auch noch im Unbestimmten abseits der eindeutigen Geschlechtsrolle. Das bringt Crialese gut rüber..
Immensita ist das „Unermessliche“! Was ist hier unermesslich – ausser dass die Neubausiedlung in Rom zufällig so heisst?
Vielleicht die Liebe zwischen Mutter und Kindern und das Bemühen von Adri, ein Junge zu sein, um ein besserer Mann für die Mutter werden zu können und sie endlich so glücklich zu machen, wie wir es ihr alle wünschen und wie sie sie oft in ihren Phantasien sieht: lachend, übermütig und sprühend vor Leben, aber halb erstickt unter der Kruste von Alltagserwartungen und Versorgungsbanalitäten.
Ist hier eine Konstellation beschrieben, die zur Entwicklung von Geschlechtsdiversität führt? Wir wissen, dass der Wunsch eines Elternteils nach einem bestimmten Geschlecht vom Kind erspürt werden kann und das Kind eine Transition zu diesem Geschlecht anstrebt. Eine Transsexuelle mitten im Prozess der operativen Frau-zu-Mann-Transition erzählte mir von ihrem geradezu fanatischen Mutterhass und in mir entstand das Bild, dass hier der eigene weibliche Körper stellvertretend für den der Mutter getötet und zerstückelt werden sollte. Dann wäre Diversität eine Sache einer ungenügenden Ablösung von den Eltern, genauer: der Entwicklung einer eigenen Körperidentität, in der der Körper unwiderruflich als der eigene empfunden wird und – auch wenn er dem der Mutter ähnelt – trotzdem nichts damit zu tun hat. Auch bei der Anorexie gibt es eine ähnliche Dynamik, nur wird hier weniger das andere Geschlecht, sondern eher das totale Verschwinden von Körperlichkeit angestrebt. Aber ich fürchte, Transitionswünsche entstehen auch in Familien ohne dergleichen neurotische und rasch zu entdeckende Blendwerke. Medizin und Psychologie verweigern uns hier noch eine Erklärung zur Genese. Oder es gibt so viele Erklärungen wie es Transsexuelle gibt – aber man soll nicht so viel analysieren, das nimmt der Filmbetrachtung den Drive und das Erfassen von feineren atmosphärischem Nuancen. Ich weiss es ja … – lasst uns noch ein bisschen grooven …
Jedenfalls hat diese Mutter Talent zum Glücklichsein. Bereits in der ersten Einstellung werden wir informiert, dass wir es nicht mit einem Trauerkloss zu tun haben und immer wieder gibt es ein Aufleuchten davon. Und es gibt auch beruhigende Momente die Adris Entwicklung vorzeichnen: sie wendet sich immer wieder nach aussen, bittet um ein Zeichen, steht auf dem Dach, als würde sie nach einem Raumschiff ausschauen, das sie hier wegbringt – sie fühlt sich ja auch wie ein Alien. Sie sucht etwas im Draussen, das auf sie wartet. Sie durchdringt einen Schilfgürtel – wohl auch die Grenze zwischen Bekanntem und Fremdem symbolisierend, dahinter liegt eine Siedlung mit rumänischen Gastarbeitern, wo ihr eines der Mädchen wohlgefällt, man nähert sich an. Sie hat keine Scheu, die Welt zu betreten, aber es ist schwer, eine bedürftige Mutter zu verlassen – nicht nur für Diverse. Der Preis für das Bleiben heisst das Leben eines Lastesels zu führen.
Hier wahrscheinlich nicht: In der Schlusseinstellung sehen wir erneut Adris Zukunftsträume als Fernsehshows: zwei grandiose Gesangsauftritte von Mutter als dramatische Blondine und Adri als singendem jungem Mann, sie schmettern das Leitthema aus Love Story. Davon verstehen sie was.
Aber: Sie singen getrennt, nicht im Chor, jeder hat einen eigenen Auftritt als Mann und Frau. Hier deutet sich an, was Zukunft werden soll: Hoffnung auf einen eigenen Weg für jeden und nicht Beginn beziehungsweise Beibehalten einer Beziehung, in der ein Kind sein individuelles Leben opfern muss, weil die Mutter sich nicht aus einer toxischen Gewohnheitsbindung lösen kann. Eine Geschichte zwischen Hoffen und Bangen, die den Zuschauer mitnimmt und hält. Keine almodovarische Brillanz, kein Blueprint eines der Grossen, aber das Werk eines begabten Regisseurs, der gut daran täte, eine eigene Handschrift und seine eigene filmische Identität zu entwickeln. Mir scheint, er klebt noch am grossen Vorbild wie Adri an der Mama und weiss noch nicht, ob er Weibchen oder Männchen werden will. Let`s hope – man braucht nicht immer den Big Papa, um ein Mann zu werden – leichter ist’s wahrscheinlich schon.
Nachtrag:
Gestern den Film noch einmal mit Freunden gesehen und entdeckt dass ich die Asthmaerkrankung
von Adri völlig verdrängt habe, diese Näheerkrankung…oder der Mythos einer Näheerkrankung….
Der Schlusssong aus Love Story ist in der italienischen Übersetzung ein Abschiedslied, in der
amerikanischen Version ein Lied über einen Anfang. Auch eine schöne abschliessende Dichotomie für
diesen Film, der das Unbestimmte feiert und das Eindeutige meidet..womit wir wieder bei
Schrödingers Katze wären.