Manafonistas

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2023 18 Nov

We are all boat people

von: Lajla Nizinski Filed under: Blog | TB | 10 Comments

 

Die angekommene Sengalesin war höchstens 14 Jahre alt. Eine kleine rosa Plastiktasche hing ihr um den Hals. An der messinggoldenen Kette hatte sie sich wohl festgehalten, um die harte Fluchtstrecke zu überstehen. Das kleine Täschchen war ihr Survivalkit. Wer hatte es ihr mit auf den ungewissen Zukunftsweg gegeben? Oma, Mutter, Schwestern, Freundinnen? So wie sie den Talisman vor sich hertrug, war mir klar: dieses Mädchen würde es schaffen.

Außer ihr warteten noch etwa 70 sehr junge Migranten im Hafen auf die Überfahrt nach Teneriffa. Während ich mich vom Roten Kreuz als Helferin registrieren ließ, näherte sich ein etwa 8 Jähriger Flüchtling und fragte mich, ob ich seine Mutter sei. War das eine verzweifelte Bitte oder ein Trick? Ich hätte ihm gerne etwas geschenkt. Wenn die Migranten auf Hierro ankommen, erhalten sie Wasser und Decken. Sie werden erstmedizinisch untersucht und dann in Touristenbusse in bereitstehende Unterkünfte gebracht. Dort können sie drei Tage bleiben, schlafen, essen und sich registrieren lassen. El Hierro hat 11000 Einwohner. In diesem Jahr sind bereits 8.800 Migranten aus dem Senegal, Mauritanien und Gambia angekommen. Die Minderjährigen können erstmal auf der Insel bleiben, die anderen werden nach Teneriffa bzw. in die Gegend von Madrid gebracht. Die Insulaner hier helfen gern. Sie kennen die Schwierigkeiten einer Migration. Wenn ein Holzschiff im Hafen von dem 500 Einwohner zählenden Ort einläuft, rennen die Herreños zum Hafen, um zu helfen und auch um 14 Euro die Stunde zu verdienen. Vor zwei Wochen kamen allein in einem Boot 371 Flüchtlinge an. So viel wie noch nie.

 

 

 

 

Warum kommen so viele immer jüngere Menschen über diese Todesroute? Es gibt von der senegalesischen Regierung eingesetzte Videos auf Tik Tok, die Aufnahmen der Fluchtwege zur Abschreckung zeigt. Diese Bilder halten aber die jungen Menschen nicht davon ab, zu fliehen. Es ist der Hunger, der sie in die Boote einsteigen lässt. In diesem Zusammenhang müssen die Grands Marabouts erwähnt werden, die eine entscheidende Rolle spielen. Marabouts sind islamische Lehrer, die großes Ansehen bei der Landbevölkerung im Senegal genießen. Eltern bringen ihre Söhne in die Koranschulen, weil sie sie nicht mehr ernähren können. Die Marabouts unterrichten sie jedoch kaum, sie lassen sie auf ihren Erdnussfeldern 14 Stunden und mehr arbeiten. Auch in den Städten beuten diese Koranlehrer ihre Schüler aus. Diese müssen 5 Stunden täglich betteln gehen. Die Regierung macht nichts dagegen, weil sie viele Wahlstimmen aus deren Umfeld erhält. Oft verschwinden über Nacht junge Männer, ohne sich von der Familie zu verabschieden, um den Fluchtweg über den Atlantik zu riskieren. Es gibt mittlerweile Zentren für trauernde Familien, allen voran für Mütter, die ihre Söhne verloren glauben. Sie versuchen ihre Kinder per Handy zurückzuholen, die meisten gehen noch nicht mal dran. Es ist ein Glück – und kein Luxus – , dass die Migranten ein Mobiltelefon haben, so können sie ihr soziales Netz informieren und zum Teil auch von der Seenotrettung geortet werden. Also ein notwendiges Überlebenswerkzeug.

Während der Pandemie brach die Wirtschaft im Senegal enorm ein. Tourismus, Transport und Dienstleistungen lagen darnieder. Jetzt geht es wieder leicht aufwärts, trotzdem gibt es zu wenige Stellenangebote. Es sind die Zweit- und Drittbrüder, die das Land verlassen, weil nur für den Erstgeborenen genug Arbeit vorhanden ist.

Der Soziologe und Ökonom Gunnar Heinsohn, der leider in diesem Jahr 80 jährig verstorben ist, hat immer wieder vor den Armutszuwanderern aus afrikanischen Staaten gewarnt. „Integration gelingt nur, wenn sie nicht gepredigt werden muss, weil die Neubürger – unter welcher Gottheit und Hautfarbe auch immer – mit der Kompetenz für lebenslanges Lernen kommen. Menschen ihres Könnens werden wegen steigender Anforderungen allerdings weltweit knapper. Drängen weitere Bildungsferne nach, verlieren die für sie Zahlende den Mut und streben in Kompetenzfestungen, die Pässe nur an Asse zu vergeben.“

Wenn Daniel Schreiber, der immerhin eine Susan Sontag Biografie verfasst hat (Susan war mutig im Jugoslawienkrieg in Belgrad aktiv anwesend), in seinem neuen Bestseller Allein beschreibt, wie man durch self care nicht nur überlebt, sondern lebt, dann dreht sich mir angesichts solcher Selbstbepinselei der Magen um. Wenn der rassistische Witzemacher Hamza Raya fragt: Was ist der Unterschied zwischen einer Pizza und einem schwarzen Vater? Und selbst antwortet: Die Pizza kann die Familie ernähren – dann ist das ein größerer ring them bells  als der Ruf nach einer Yogamatte.

 

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10 Comments

  1. Jochen:

    Seltsame Synchronizität: dachte just in diesen Tagen an Gunnar Heinsohn (von dem ich jetzt das Buch Söhne und Weltmacht. Terror im Aufstieg und Fall der Nationen aus dem Regal ziehe) – weil ich ihn nämlich kurzzeitig mit Michael Wolffsohn verwechselte, von dem es einen erhellenden Palästina-Einblick gibt.

  2. Lajla:

    Danke Jochen, auch für die aktuell wichtige Geschichtsstunde.

  3. Alex:

    Wenn Du von dem Hafen sprichst, meinst Du La Restinga? Da kamen wir damals auch mit dem Segelboot an.

  4. Ursula Mayr:

    Schöner Beitrag! Ich hatte schon oft das Bedürfnis zu hören, wie es mit den Alt-Migranten weitergeht, wie es den Leuten selber geht. Meine Story wäre weniger exotisch, genau wie mit den Zigis neulich.

    Der Landbevölkerung sagt man ja gemeinhin nach recht konservativ und engstirnig zu sein, hier im Tal der Tiroler Ache, wo ich lebe, spricht man auch vom Tal der Büffel, womit nicht die Vierbeiner gemeint sind.

    Wir hatten im Ort (2800 Seelen) 60 Migranten aus Eritrea und Syrien, junge Burschen in den Zwanzigern. Es wurde darauf geachtet, im Krieg befindliche Volksgruppen zu trennen und in anderen Gemeinden unterzubringen. Sie wurden dezentral untergebracht in kleinen Ferienwohnungen und den Ein-Mann-Häuschen, die für das Reggae-Festival gebaut wurden, mit Nasszelle und Kochgelegenheit.

    Eine Firma sponserte für jeden ein Fahrrad, sie konnten sich zurückziehen aber auch wieder zusammenkommen nach Lust und Laune. Trafen sich gern auf dem Fussballplatz. Bier mögen sie, aber vertragen nicht viel davon. Als erstes gab es Deutsch- und Schwimmkurs und Kurs in Verkehrsregeln, bitter nötig, die rasten vogelwild durch die Gegend. Spazierten gerne im Pulk durchs Dorf und grüssten freundlich, man merkte dass sie Angst hatten.

    Viele Ehrenamtliche kümmerten sich um sie, Ärzte und Psychotherapeuten behandelten teilweise umsonst – alle hatten Schlafstörungen. Eine Kunsttherapeutin bot Malstunden an. Es kam weder von der einen noch von der anderen Seite zu unguten Vorfällen, was an den Stammtischen gelabert wurde, drang zumindest nicht nach aussen.

    Jetzt sind alle in Lohn und Brot – viele im Handwerk, wobei eher „männliche Berufe“ gewählt wurden – Mechatroniker, Fliesenleger – der Umgang mit Lebensmitteln, Kindern, Stoffen etc war nicht so beliebt. Viele versuchten’s in der Krankenpflege, im Moment im Rollstuhl-Fahrdienst und kutschieren die Patienten im Haus herum und warten auf einen Ausbildungsplatz. 2 versuchen das Abitur. Die musikalisch Begabten spielen in der Blaskapelle. 2 syrische Goldschmiede strichen mir das Haus. 2 Jungs retteten ein Mädchen unter Einsatz des eigenen Lebens vor dem Ertrinken in der Ache.

    Ich frage mich warum das hier so gut klappte und mache die dezentrale Unterbringung, Ruhe, Natur und das Sichzurückziehenkönnen dafür verantwortlich, das ist wohl besser als in unseren kochenden Ankerzentren und Grosstadtbahnhöfen, in denen man sich entsetzlich auf die Nerven geht. Da würde ich in kürzester Zeit verrückt werden.

  5. Lajla:

    @Alex. Ja, sie kommen in La Restinga an. Am Fährhafen Estaca dürfen sie nicht anlegen. Bist du von den Azoren rüber nach Hierro gesegelt?

    @ Uschi. Danke für die endlich auch mal positive Integrationsschilderung.

  6. Olaf Westfeld:

    Die beiden Flüchtlinge aus Syrien, die ich unterrichten durfte, sind auch Handwerker geworden, der eine hat binnen kurzer Zeit seinen Meister gemacht. Und war mit 16 alleine hier angekommen. Ich vermute, dass eine Mehrheit gut integriert sind und deswegen keine Schlagzeilen produzieren … aber das ist leicht dahin getippt, also nur eine These.

  7. Ursula Mayr:

    Die Handwerksbetriebe und die Gastronomie hier sind rasiermesserscharf auf die Migranten – haben ja alle keinen Nachwuchs. Krankenpflege sowieso. Kindergärtner oder Erzieher wollen sie alle nicht werden, aber das wollen die deutschen Jungs auch nicht. Sprechstundenhilfe auch nicht, das wäre ein grosser Markt.

  8. Alex:

    @Lajla, nee wir kamen von La Gomera. Da hatte ich Anfang Januar 1991 einen Typen aus San Francisco in einer mit Kokosmatten ausgelegten Strandbar kennengelernt, der nach zwei oder drei Jahren Weltumsegelung auf dem Rückweg über den Atlantik war. Er suchte nach einem Mitsegler, ich konnte aber nicht mitkommen, weil ich zurück nach Luxemburg arbeiten musste. Wir sind dann für einen Tagestrip mit ein paar anderen nach El Hierro gesegelt. So hat der Amerikaner seine Reisekasse aufgebessert. Es ging über Nacht hin und wir kamen in einen Sturm. Gut, dass wir Tabletten gegen Seekrankheit genommen hatten, die haben gewirkt. Ich war in der Nacht an der Pinne, unten in der Kajüte flog alles drunter und drüber, was nicht festgebunden war. Die Planken des Holzboots – so rund 10 m lang – ächzten und krachten, sie schienen zu splittern, ich dachte, das Boot würde auseinanderbrechen. Die Wellen schlugen über mich. Ich dachte, das war es jetzt, wir saufen ab. Die Pinne war nur schwer zu halten.

    Am nächsten Morgen war das Meer wieder ruhig, der Himmel blau und unschuldig, als hätte es nie ein Unwetter gegeben. Natürlich hatte ich nicht optimal gesteuert, aber wir kamen dann am Morgen in Restinga an, wo wir den Anker im Hafen setzten. Dabei gab es noch ein Problem, weil er sich irgendwie verheddert hatte und nicht bis zum Grund sank. Wir mussten im recht tiefen Hafenbecken tauchen, nicht so mein Ding. Anschließend mieteten wir ein Taxi und ließen uns zu viert über die Insel fahren. La Restinga war noch wüstenartig und sehr sonnig gewesen, aber je höher wir die Straße hochfuhren, desto grüner und nebliger wurde es. Oben war es waldig und es grasten auf den Weiden glaube ich Kühe und ich hatte plötzlich das Gefühl, wir wären in Schottland. Es war wie ein Traum. Der Taxifahrer grüßte alle Leute, die uns entgegenkamen, alle Inselbewohner schienen sich zu kennen. Wir sahen die Bananenplantagen von El Golfo und fuhren wieder zurück, ich glaube am Parador vorbei an der Ostseite. Die Rückfahrt nach La Gomera war unspektakulär. Es war völlige Flaute und wir mussten den Motor anwerfen.

    Den Amerikaner habe ich dann noch öfter in den Hafenbars von Valle Gran Rey getroffen. Er war fast immer total besoffen und torkelte durch die Straßen. Aber sobald er auf seinem Dinghi – dem Beiboot – auf dem Wasser ruderte, z. B. zu dem Aussteigerstrand mit den Höhlen, auch bei totaler Dunkelheit bis auf die Sterne, war er absolut klar im Kopf und hatte die Orientierung, die mir abging. Was aus ihm wohl geworden ist? Wir hörten im Schiffsbauch das erste Album der Eagles auf Cassette, das mir gefiel, obwohl diese Band eigentlich nicht mein Geschmack war, aber in diesem Kontext passte sie. Bei dem Album waren sie noch nicht ganz so kommerziell, es war noch nicht überproduzierter Countryrock, wenn ich recht erinnere.

  9. Lajla:

    Was für ein Abenteuerbericht. Du kannst sicher nachempfinden, welch Dramen sich hier auf dem Atlantik abspielen. Ansonsten beschreibst du den anderen Manas ziemlich gut, wo ich lebe.

  10. Alex:

    Man möchte gar nicht wissen, wieviele dieser Schlauchboote schon untergegangen sind. Wobei mit der Wetterapp sollten sich Stürme eigentlich vorhersagen lassen. Aber die Boote sind ja häufig völlig überfüllt und nicht sehr seetüchtig.


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