Manafonistas

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Archives: Oktober 2023

2023 18 Okt

Bye bye …

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… Carla Bley.

 
 


 
 
 

Im Kunstmuseum in Lindau am Bodensee war eine feine kleine Andy Warhol Ausstellung. Finissage war am Sonntag. Sie zeigte Leihgaben aus Privatbesitz und Museen. Zum 100 jährigen Jubiläum von Walt Disney‘s „Traumfabrik“ poste ich hier mal seine wichtigste, berühmteste Figur. Ich nutzte eine kurze Abwesenheit der Museumswärterin, um Mickey Mouse einzufangen. Warhol arbeitete bei diesem Werk mit Diamandstaub, er mischte ihn mit der Farbe, das gibt diesen Glitzereffekt. Neben dieser Serigrafie hängt Joseph Beuys, diese Hängung hätte den Meister schmunzeln lassen. Neben den bekannteren Werken werden auch die Handzeichnungen aus dem Skizzenbuch „House of Hearts“ gezeigt. Es waren sehr viele junge Leute in der Ausstellung vom King of the Pop-Art. Und natürlich die Husch-Husch Asiaten.

 

2023 16 Okt

Homestory mit Haim

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Ein Film, eine Frau, eine Gegend. Bin ein bisschen verliebt in alle drei. Licorice Pizza heisst der Film mit Kultpotential („Lakritz-Pizza“ ist eine Umschreibung für die Vinylschallplatte). Die brünette junge Lady heisst Alana und man möchte ihr folgen, so wie der 15-jährige dickliche Schuljunge es tut auf einem Schulhof im Fernando Valley, unweit von Hollywood, in den Siebzigern. „Wie alt bist du, zwölf?“ „Geh mit mir essen, wir sind füreinander bestimmt.“ „Ganz gewiss nicht, du bist ein Kind!“ Sie kommt dann doch in die von ihm vorgeschlagene Location, setzt sich am Bartresen neben ihn, den Blick starr nach vorne gerichtet. Ihr Körper explosiv, mit dem Ausdruck Was-um-Himmelswillen-tue-ich-hier-überhaupt. „Starr mich nicht so an, hör auf zu atmen …“. Grinsend, locker und milchgesichtig bestellt er zwei Coke. Befürchte, ich werde mir diese Szene noch zigmal reinziehen, so gut ist das gespielt. Alana kommt mir merkwürdig bekannt vor, ein leichtes deja-vu. Freute mich nach dem Film, den ich in drei abendlichen Etappen auf Amazon Prime genossen hatte, auf die Hintergrund-Recherche, wie so oft. Zunächst hier auf dem Blog, wo er ja schon besprochen wurde, dann im Netz. Wollte alles wissen, dabei kommt es raus: die Attraktive ist Teil einer Band, mit ihren zwei Schwestern, die im Film eine Familie spielen, mit deren leibhaftigen Eltern. Vielleicht wirkt vieles deshalb so frisch, weil es aus dem echten Leben gegriffen ist. Das gesamte persönliche Umfeld der Darsteller und des Regisseurs Paul Thomas Anderson ist involviert: Freunde, Nachbarn, der kalifornische Lokal-Kolorit. Die Band jedenfalls heisst Haim, wie der Nachname der drei jewish siblings. Sie ist gerade mit Taylor Swift auf Welttournee und ein Video der Band auf Youtube verzeichnete mal eben 22 Millionen Klicks. Vor ein paar Jahren entdeckte ich ihren Song „Gasoline“, spielte auf Gitarre mit, weil er mir gefiel. Die Mädchen wirkten very tough. Daher also die Vertrautheit. Tief im Hippocampus war es abgespeichert: im Jahre 2012 haute mich kurz nach Mitternacht in der geliebten Harald Schmidt Show eine Frauenband vom Hocker, mit Alana an den Keyboards und der Gitarre. Den Film Licorice Pizza schaute ich nun nochmals an und von Haim ein paar Videos dazu. Old Sugardaddy auf Nabokovs Spuren? Vielleicht, aber die Musik ist wirklich gut, mit ganz viel Herzblut. Und wenn ich solche Filme sehe, dann bin ich gerne wieder zwanzig.“

 

2023 15 Okt

I once was lost

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Ist es noch ein Fall von Synchronizität, dass ich in meinem Blogbeitrag über The Analog Sea Review vor knapp zwei Wochen über die Kulturtechnik des Umherschweifens schrieb und gerade einen Kurzfilm sah, in dem jemand davon erzählt, wie er sich mit dem Auto verirrte? Im Anschluss spricht die Regisseurin Emma Limon unter anderem darüber,  inwieweit sie von der Ästhetik aus David Lynchs Twin Peaks beeinflusst war, besonders von Szenen im Diner. „I once was lost“ changiert zwischen Arthouse, Dokumentation und Spielfilm, dauert knapp elf Minuten, lief in der Sendung Kurzschluss auf ARTE und ist bis 5.12.2024 in der Mediathek verfügbar.

 

 

In den letzten Tagen habe ich viel herumgelungert, zwei Bücher verschlungen, bis dann der Mittag rief.

 

 

 

 

Der Mittag ist ein Berg bei Sonthofen.

 

 

Dorthin – w i l l ich und ich traue

mir fortan und meinem Griff.


Offen liegt das Messer, ins Blaue, ins Blaue

treibt mein Genueser Schiff.

Alles glänzt mir neu und neuer,

Mittag schläft auf Raum und Zeit -:

Nur d e i n Auge – ungeheuer

Blickt mich’s an, Unendlichkeit!

Friedrich Nietzsche

 

 

Auf den Mittag wollte ich nicht hinauf. Ich genoss das entspannende Schwimmen in den stillen Bergseen, bald würde mich der unruhige Atlantik wieder umherschaukeln. Und dann schickte mir Apollo gen Mittag auf einem Weg eine Frau vorbei.  Sie erzählte, dass die Bergbahnen um uns herum ihr Vater gebaut hätte und dass sie sehr stolz auf ihn sei. Bei einem Frühstück mit ihrem alten Vater hätte sie zu ihm gesagt, dass jetzt die Werkstatt nicht stillgelegt werden müsste, dass da doch auch andere Klänge hineingezaubert werden könnten. Ihr Vater hätte darauf gesagt: “Wenn du meinscht.“ Das sei das grüne Licht für ihren lang gehegten Wunsch gewesen, einen Musikclub zu eröffnen. Sie hätte ihn – zu Ehren ihres Vaters – KULTUR WERKSTATT genannt. Das klang wie ein Märchen. Ich besuchte die Location und mittlerweile habe ich dort schon vier ausgezeichnete Konzerte gehört.

Gestern Abend nahm ich Abschied von Frau Bestle, die diesen Club seit 1997 alleine führt. Davor hörten wir gemeinsam die eingeladene Band, die sich schlicht Allgäu-Jazz-Quintett nennt. Das Programm war den aktuellen Dramen der Zeit gewidmet – intelligent und sensibel hatten die Musiker eine Komposition zusammengestellt, die es in sich hatte. Das Konzert begann mit PEACE, einem Stück von dem amerikanischen Jazzpianist und Saxophonist Horace Silver. Es folgte eine Coverversion von Lars Danielsson, einem schwedischen Jazzbassist, das Stück heißt ORANGE MARKET, es beschreibt den Markt in Haifa. Die Zugabe war erstaunlich. Der Jazzsänger brachte eine groovige Version von „Der Mond ist aufgegangen“ – was für ein kluger, einfühlsamer Konzertabschluss.

 


Verschon uns Gott mit Strafe

und lass uns ruhig schlafen

und unsern kranken Nachbarn auch

 

 

Aus einem Feldweg kommt ein Mädchen
mit Fahrrad und Schimmel. Leichthändig

schiebt sie den Griff, hält sie die Zügel
hinter ihr das tänzelnde Pferd. Das flache
Licht aus den Niederungen, die weißen Wolken.
Ein Sekundenbild und mir fällt die Skulptur
Cloud Gate in Chicago ein, der gespiegelte Himmel,
unter dem ich mir beim Fotografieren
zuschaue, gleichzeitig oben und unten bin,
mich aber nicht wirklich sehe.
Dies alles hat nichts mit dem Mädchen zu tun,
nicht die Gedanken an Vermeer. Nur der Wunsch,
den Tag auf den Kopf zu stellen, ist real.
Pferd und Mädchen werden kleiner,
nach der Kurve habe ich sie verloren.
Bleibt der Moment. Splitter unter der Haut.
Der Gedanke, vieles wäre heute möglich, wäre leicht.

 

Aus: Barbara Zeizinger – Schon morgen wird alles gewesen sein. Gedichte. Pop Verlag Ludwigsburg 2023

 
 
 

 
 
 

Martina Weber: Dein Gedicht „Aus einem Feldweg kommt ein Mädchen“ ist mein Lieblingsgedicht aus deinem neuen Gedichtband. Schon das erste Bild mit dem Mädchen, die auf einem Feldweg unterwegs ist und mit einer Hand ihr Rad schiebt und mit dem anderen ein Pferd führt, löst viel bei mir aus. Ich finde es gar nicht so einfach, ein Rad mit einer Hand zu schieben, ich denke sofort an einen Freund von mir, der sein rotes Rennrad mit der linken Hand, die er in der Mitte des Lenkers hielt, durch Freiburg schob. Dann skizzierst du knapp die Umgebung und gelangst zur Cloud Gate Skulptur in Chicago, führst das etwas aus und bemerkst, dass es nichts mit dem Mädchen zu tun hat. Dass du dabei auch Vermeer erwähnst, lässt mich sofort an die Dienstmagd mit dem Milchkrug am Fenster denken und ich übertrage die Stimmung und das Licht aus diesem Bild in das Bild vom Mädchen mit Fahrrad und Pferd, obwohl es im Gedicht heißt, es gäbe keinen Zusammenhang mit Vermeer. Das ist ja der Trick der Verneinung: Etwas, was verneint wird, wird benannt und ist daher präsent. Im restlichen Teil des Gedichts folgen weitere Gedanken, die vom Eingangsbild gelöst sind, dann wird das Bild des Mädchens wieder aufgenommen, wie es verschwindet. Ein starkes Bild sind die Splitter unter der Haut. Die Wirkung der Begegnung ist geradezu körperlich. Ein Handlungsdruck. Der Schlusssatz setzt fort, dass Möglichkeiten spürbar sind. Das Mädchen mit dem Rad und dem Pferd hat Energie ausgelöst und etwas in Bewegung gebracht.

Barbara Zeizinger: Ich finde sehr schön, wie du das Gedicht analysierst. Ich kann jetzt nachträglich gar nicht sagen, wie ich auf diese ganzen Zusammenhänge gekommen bin. Jedenfalls nicht bewusst. Ich weiß nur noch, dass ich ähnlich wie du die Geschicklichkeit des Mädchens, es war ein eher zierliches Mädchen und ein großes Pferd, bewundert habe.

Martina Weber: Ausgangspunkt für deine Gedichte sind meist äußere Eindrücke oder Erfahrungen, die du dann mit Überlegungen, Gedanken oder Erinnerungen kombinierst, die nur teilweise mit den äußeren Eindrücken zu tun haben und wodurch die Gedichte ihre Tiefe entfalten und im Lesenden weiterwirken. In deinem Gedichtband „Morgen wird alles gewesen sein“ sind Anlässe deiner Gedichte beispielsweise eine Landstraße, auf der du sehr oft unterwegs bist, die L 3111), Ausstellungsstücke im Hessischen Landesmuseum und eine Reise in die USA. Für mich sieht es so aus, als ob dir die Themen geradezu zufallen und nie ausgehen.

Barbara Zeizinger: Das ist sehr schmeichelhaft, aber nicht ganz zutreffend. Manchmal habe ich den Eindruck, mir fällt überhaupt nichts ein. In Bezug auf viele Gedicht in dem neuen Lyrikband hast du allerdings recht. Bei den Gedichten über die Straße L 3111 habe ich geradezu Ausschau nach Ereignissen, Landschaften usw. gehalten, nach einer Werbetafel, einem Krötenzaun, einem Kreuz an der Böschung usw. Bei diesen Gedichten fiel es mir leicht, sie assoziativ weiterzuspinnen.

Martina Weber: Am 4. Oktober hast du in der Kunsthalle Darmstadt aus deinem Gedichtband gelesen und im Gespräch mit Kurt Drawert gesagt, dass du einen Ort veränderst, indem du darüber schreibst. Von Autorinnen und Autoren ist man eher die Aussage gewohnt, dass sie sich selbst durch das Schreiben verändern, aber einen Ort …? Wie meinst du das?

Barbara Zeizinger: Das bezog sich auf die Frage von Kurt Drawert, ob ich durch mein Schreiben einen Ort „töte“. Der Ort ist ja objektiv da. Aber wie ich oder jemand anders ihn wahrnimmt, kann sehr unterschiedlich sein. Das meinte ich mit verändern. Aber das muss keine feste Wahrnehmung sein, man kann Orte, je nach eigener Verfassung unterschiedlich empfinden. Jedenfalls ist es sehr subjektiv. Bin ich glücklich, kann mir ein objektiv hässlicher Ort gefallen und umgekehrt. Und natürlich verändere auch ich mich durch diese Begegnungen und Wahrnehmungen. Das schreibe ich in dem einen Gedicht: „Wenn der Mais geerntet sein wird, / die Dunkelheit wieder früher einsetzt, / werde auch ich mich verändert haben.“

Martina Weber: In einem Gedicht, das du einer verstorbenen Freundin gewidmet hast, zählst du prägende Lektüreerfahrungen auf: Marx, Erich Fromm und „Der Tod des Märchenprinzen“, einen autobiographischer Roman, der 1980 erschien. (Ich kenne das Buch, habe es aber später gelesen.) In diesem Gedicht erwähnst du auch die Leichtigkeit jener Jahre. Würdest du sagen, dass es die 70er Jahre waren, in der auch deine Studienzeit lag, die dich am meisten geprägt haben, was deine Lebenshaltung betrifft?

Barbara Zeizinger: Das ist ein sehr komplexes Thema. Von der englischen Schriftstellerin Hilary Mantel gibt es das Zitat „jede Generation hat ihre eigenen Leidenschaften“ und ja, natürlich haben mich die 70er Jahre geprägt, ich war jung, habe studiert, viel Neues entdeckt. Das war eine Zeit, in der wir optimistisch waren, dachten, wir könnten die Welt verändern. Heute denke ich darüber viel differenzierter. Das Gedicht ist in erster Linie eine Hommage an meine Freundin, mit der ich damals alle diese Gedanken geteilt hatte. Aber auf einer anderen Ebene erzählt es auch davon, dass wir in gewisser Weise typisch für die 70er Jahre waren, also nicht so einmalig, wofür wir uns hielten. Alle in unserer Umgebung lasen Marx, Erich Fromm, Mitscherlich, alle hatten Enzensbergers „Kursbuch“ abonniert. Wobei der „Tod eines Märchenprinzen“ eher mit Augenzwinkern erwähnt wird.

Martina Weber: Ich könnte mir auch vorstellen, dass du in den 70ern Gedichtbände gelesen hast, die für dich – jedenfalls zunächst – prägend waren, und zwar auch US-amerikanische Lyrik und vielleicht auch die Übersetzungen ins Deutsche, die damals auf den Markt kamen, beispielsweise Rolf Dieter Brinkmanns Herausgabeband „Silverscreen“ von 1969. Ein Gedicht aus einem anderen deiner Gedichtbände ist im Café der berühmten City Lights Buchhandlung in San Francisco angesiedelt.

Barbara Zeizinger: Brinkmann war ein Muss. Dazu kamen viele Lyriker und Lyrikerinnen, da würde ich vor allem Hans Magnus Enzensberger erwähnen, Erich Fried, Wolf Wondratschek, aber auch Hilde Domin und Rose Ausländer. Außerdem amerikanische Autoren der Beat Generation wie Allen Ginsberg mit seinem „Howl“. Jahre später habe ich bei einer USA Reise mit meiner Tochter „City Lights Books“ besucht und daneben das Lokal „Vesuvio“, in dem viele Fotos an die damalige Zeit erinnern. Da ist das von dir erwähnte Gedicht entstanden. Zuletzt habe ich übrigens die gesammelten Gedichte von Wisława Szymborska gelesen. Wunderbar!

Martina Weber: Du hast auch einige Romane veröffentlicht. Es würde mich nicht wundern, wenn du bereits an einem neuen Schreibprojekt arbeiten würdest.

Barbara Zeizinger: Das stimmt. Ich schreibe an einem Roman, der zur Hälfte fertig ist. Wie alle meine Romane erzählt er eine Familiengeschichte, diesmal über mehrere Generationen. Wie ich schon in der von dir erwähnten Lesung gesagt habe, beschäftigt mich in letzter Zeit (wahrscheinlich, weil ich inzwischen älter bin) die Frage, wie frühere Generationen gelebt haben, ob und inwiefern sie eine Wahl hatten, wie sie ihr Leben gestalten konnten. Gleichzeitig frage ich mich, inwiefern unser Leben durch gesellschaftliche Gegebenheiten geprägt und beeinflusst ist. Also die fast philosophische Frage nach Möglichkeiten und Einschränkungen der Selbstbestimmung. Das wollte ich auch oben bei den Ausführungen zu dem Gedicht über meine verstorbene Freundin ausdrücken.

 

Martina Weber: Vielen Dank, liebe Barbara, für die Einblicke in dein Schreiben und Leben!

Website von Barbara Zeizinger:
http://www.barbarazeizinger.de/

Anlässlich ihres Gedichtbands „Wenn ich geblieben wäre“ (2017) habe ich mit Barbara hier auf Manafonistas bereits ein Interview geführt.

 

 

In Lichter des Toren schrieb Botho Strauss eindrücklich über die Vorzüge des Dummbleibens. Kleine prosaische Vignetten, die nicht lyrisch sind und doch etwas freischwebend Assoziatives beim Leser auslösen, das Interpretationen offen lässt. Auch hinsichtlich des Gebrauchs der Dienste Google und Wikipedia könnte dies eine Rolle spielen, weil nämlich die Gefahr besteht, dass sie einen aseptischen, sterilen Bildungshorizont eröffnen, der in ortloser, wegloser und geschichtsloser Weise darauf verzichtet, sich Wissen durch das Machen von Fehlern (eine aktive Handlung, kein Befingern auf der Screen) und das Sammeln von Erfahrung anzueignen. Niemals möchte ich auf all die szenischen Erinnerungen verzichten, wann und unter welchen Lebensumständen mir Entdeckungen oder Erkenntnisse zuflossen. Stattdessen steht nun ständig alles zur Verfügung, wie Billigramsch in einer Grabbelkiste, lädt ein zum Overload. Is the Internet a storykiller? Laut Rilke, um noch einen zweiten Dichter herbei zu zitieren, hat ein Jedes seine Zeit. Der digitale Kosmos hingegen eröffnet eine Unzeit, die Dinge zu Undingen (Byung-Chul Han) degradiert und durch die Aussparung von zeitgemässem Erfahrungswissen eine massive Indifferenz schafft. Alles ist gleich: Bomben schlagen in der Ukraine ein, Flüchtlingsboote kentern im Mittelmeer, während benachbarte Titelzeilen verkünden, dass Frau Krause aus Berlin ihren Hund abgöttisch liebt, oder dass man Nudeln am besten bissfest kocht. Der brandaktuelle Blogeintrag von gestern ist schon heute kalte Suppe und auf dem grossen Müllberg Instagram stapeln sich millionenfach die Fotos. Neulich googelte ich den mir unbekannten Begriff Abgleich, der bislang kein Bestandteil meines Wortschatzes war. Wenn beispielsweise jemand einen Kommentar oder eine Mail schreibt, dann findet kaum Abgleich statt: Klarstellungen und Korrekturen wie im persönlichen Gespräch, auch das instinktive Abtasten des Gesprächspartners fehlen. Was kann man sagen, was sollte man verschweigen? Die Worte kommen beim Gegenüber nicht eindeutig an, oft herrscht das Flaschenpost-Prinzip. Missverständnisse und Fehlinterpretationen wuchern, das Gesagte versinkt in einer wagen Zwischenwelt, einem Geisterraum oder um ein biblisches Motiv zu bemühen: im medialen Fegefeuer. Ein Strohfeuer, das sich zum Flächenbrand ausbreitet. Es wundert nicht, wenn einen zuweilen die Lust befällt, ins analog gesicherte Diesseits zu entfliehen, diese neue Gartenzwerg-Idylle. Wer erinnert sich noch an diesen erlösenden Ort, wo wir einen Körper haben und von Natur aus fehlbar sind? Wo wir basteln und sortieren, uns zusammenraufen, streiten, lieben. „Stolpern und Stottern“ – dies sei die dem Menschen angemessene Daseinsform, schrieb der Soziologe Dietmar Kamper. In der Welt von Null und Eins ist so etwas schwerlich abzubilden, dort machen Musk und Porno die Musik. Ein Mädchen geht an mir vorbei, hält ihr Smartphone vor die Nase, schaut in ihr eigenes Gesicht. Was sucht sie dort? Ich nehme ein Buch zur Hand, schon bin ich bei mir.

 

2023 11 Okt

Do you know me now?

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And if you think you knew me then
You don’t know me now …

 

 

Als Blemish 2003 erschien war ich völlig unzureichend darauf vorbereitet, was mich erwarten würde. Verzerrte Sounds, eine weitgehende Dekonstruktion denkbarer Songstrukturen, ein Auseinanderfallen vertrauter musikalischer Muster nur noch durch die Stimme David Sylvians zusammengehalten. Ein Befreiungsschlag und Signatur des Schmerzes einer Trennung in einem, eine zaghafte Suche einen nicht mehr durch die Vorgaben der Musikindustrie geprägten Klangraum zu finden, ein sperriges und verstörendes Werk, zu dem ich erst langsam Zugang fand und es inzwischen wirklich immer wieder gerne höre. Jetzt sind alle 10 Alben, die David Sylvian zwischen 2003 und 2014 auf seinem eigenen Label Samadhisounds veröffentlicht hat in einer Box mit neuer Gestaltung und einem umfangreichen Begleittext wiederveröffentlicht worden: Do You Know Me Now?

 

 

 

 

    1. Blemish (****)
    2. The Good Son vs. the Only Daughter (Blemish Remixes) (***)
    3. Snow Bone Sorrow (Nine Horses) (*****)
    4. Do you know me now? (Sakamoto/Nine Horses/Solo) (****)
    5. When loud Weather Buffeted Naoshima (*)
    6. Manafon (*****)
    7. Died in the Wool (*****)
    8. When We Return You Won’t Recognize Us (***)
    9. Uncommon Deities (w. Jan Bang/Erik Honoré) (**)
    10. There’s A Light That Enters Houses With No Other House In Sight (Sylvian/Fennesz/Wright) (**)

 

 

Die Veröffentlichung von Manafon war ja nun konstituierend für unseren Blog und nicht zuletzt der Namensgeber. Über die Zusammenführung von verschiedensten Sessionfragmenten, die jede bisherige Hörgewohnheit (selbst wenn man sie an Scott Walker geschult hat) in einen permanenten Orientierungsmodus kippte und etwas konsequent Neues schuf, das dennoch auf befremdliche Weise, wenn man sich mal darauf eingelassen hat, sich als ausgesprochen hörbar erwies, schuf Sylvian einen Meilenstein im Songwriting. Wahrscheinlich ist kein Album hier häufiger aus den verschiedensten Blickwinkeln betrachtet und gewürdigt worden, ist oft wieder- und umbewertet worden, übermäßig gehört, überhört oder nach Probehören abgelehnt worden oder durch die Perspektive der weiteren musikalischen Entwicklung Sylvians neu eingeordnet worden. Dem kann ich kaum einen neuen Blickwinkel hinzufügen. Leider brach das kreative Schaffen David Sylvians nach Died In The Wool – Manafon Variations deutlich ein, man hörte immer weniger Eigenes, noch ein paar kleinere Kooperationen von ihm und dann, seit 2014: Schweigen. Zugegeben wüsste ich auch nicht, wohin es nach einem Album wie Manafon musikalisch weitergehen könnte, aber es bleibt mir ein leises Warten.

Seit meiner Pubertät waren zuerst Japan und dann die vielen Soloalben, auch seiner Japan-Bandkollegen, wichtiger emotionaler Bestandteil meiner Musiksozialisation. Sylvian war bei mir immer synchron, seine musikalischen Aussagen, auch wenn sie fremder und eigenwilliger wurden, fühlten sich relevant an, bedeuteten mir etwas. Ausser den ganz alten Alben von Japan, sagen wir ab Quiet Life höre ich sie auch immer wieder, teils durchaus mit nicht zu verleugnender Melancholie, die dieser Musik ja auch immanent ist, irgendwo präsent ist, selbst bei den Kooperationen mit Robert Fripp und auf Dead Bees On A Cake. Auch die Ambientalben mit Holger Czukay und die frühen Soloinstallationen sind wundervolle Einladungen eine Stille zwischen den Tönen neu zu erkunden. Nun ist der Teil, in dem David Sylvian die größte Schaffensfreiheit hatte, wieder als Ganzes verfügbar, auch wenn das Label Samadhisound inzwischen Geschichte ist.

 

 

“Although I personally maintain samadhisound is the home of my best work it was produced during a very turbulent period that precipitated some devastating changes in my life. I can’t gloss over this fact as it’s incorporated into, and informs the material in many ways. Maybe that’s why, after all this time, outside of any possible musical innovation, it remains so important to me.”

 

… And if you think you knew me then
You don’t know me now

I was happy, satiated
I was satisfied

 

But I still don’t know you …

2023 11 Okt

Leben im Bardo

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Christian Petzoldt inszenierte Filme über „Gespenster“ – im weitesten Sinne: Menschen, die unverortet und aus der Zeit gefallen scheinen, in Zwischenbereichen leben, in einer Vergangenheit existieren, die nie zu enden scheint und nie in eine Gegenwart oder Zukunft aufbrechen können. Personifizierte Relikte, seltsam deplaciert. Auch wenn man Petzold nicht mag, ist dieses Thema reizvoll.

Beim Betrachten der Filme von iranischen Regisseuren (hier: Ashgar Farhadi, Jafar Panahi, Susan Gordanshekan) fällt mir auf, wie auch deren Protagonisten in einer Art Bardo leben, einer mühsam errungenen Moderne, in die die überwunden geglaubte Vergangenheit immer wieder bedrohlich und zerstörerisch hineintritt – und dies im Wortsinne: auch ihre Figuren geistern in einer Art Nirgendwo.

Hier sind es Filme über Zeit und die Klebkraft von Vergangenheit(en), Traditionen und frühen Programmierungen. Somit sind es auch Filme über die Schwierigkeiten, politische und gesellschaftliche Veränderungen durchzusetzen, auch im eigenen Inneren.

In Die defekte Katze geht ein in Deutschland lebendes iranisches Pärchen (Arzt und studierte Elektrotechnikerin) – mit konservativen Betonköpfen als Eltern gesegnet, aber westlich-modern sozialisiert – eine arrangierte Ehe ein, obwohl sie durchaus andere Möglichkeiten hätten. Die westlichen „Freiheiten“ mit ihrer Tinderkultur scheinen sie zu ängstigen, so dass auf konservativ-starre Schemata zurückgegriffen wird. Zu zweit kommt man besser durch eine feindliche Welt, das bewiesen schon Hänsel und Gretel – und um eine so gestaltete Beziehung handelt es sich hier auch. Die junge Frau mit abgeschlossenem Technik-Studium findet keine Arbeit oder gibt vor keine zu finden. Sie verkriecht sich zunächst zu Hause, legt sich eine Katze mit einem „Gendefekt“ zu, die martialisch aussieht, aber jämmerlich klagt, wenn man sie alleine lässt. Ein Bild für … ja, für was? Die Beziehung? Die Einsamkeit des jeweils einzelnen, der den anderen nicht liebt aber existenziell braucht?

Junge Menschen, die nicht einlösen können, was sie sich vorgenommen haben. Kiam, der Ehemann, reagiert aggressiv, als Mina einmal alleine tanzen geht. Am Ende versuchen sie eine Annäherung, überreissen, dass sie sich erst kennenlernen müssen: eine noch ungeformte Beziehung, die erst ihre Form finden muss. Im Hintergrund ein Riesenrad als Sehnsuchtssymbol? Oder ewige Umdrehung, ohne von der Stelle zu kommen? Ein nie erreichbares Leuchten?

In Le Passé (Farhadi) sind ebenfalls Verwirrungen der Vergangenheit unheilstiftende Kräfte. Genetischen Programmierungen war lange nicht zu entkommen – jetzt gibt es die CRISPR/Cas-Schere. Wie ist es mit Programmierungen durch archaische Traditionen, die offenbar doch so etwas wie Sicherheit vermittelten – oder würden sie andernfalls so heftig verteidigt werden, unter anderem auch von den Frauen früherer Generationen, obwohl die ja immer die Gelackmeierten waren?

In der Seele schnippelt sich’s nicht so leicht wie in den Eiweißsträngen – vor allem sieht man da beim Operieren nie was. Auch so eine Crux der Psychotherapie – jeder Chirurg würde wahnsinnig werden, wenn er blind operieren müsste, by the way. Uns wirft man’s vor, wenn wir mal daneben tapsen.

Wieviel Angst macht ihnen unsere westliche Freiheit, in der Gott schon lange tot ist, während in der vertrauten Kultur Allah sich schlechthin in alles einmischt – und eine vielleicht trügerische Art von Halt gibt? Und nach dem Tod das Shangri-La wartet?

Nader und Simin (Farhadi) sind ein „modern“ lebendes iranisches Ehepaar, das den Iran verlassen will. Naders dementer Vater ist für ihn ein Grund zu bleiben, seine Frau verlässt ihn und die gemeinsame Tochter.

Farhadi entfaltet ein polytraumatisches Familiendrama, in dem sich die Begriffe Recht und Unrecht, Schuld und Sühne zusehends auflösen. Verkettungen unglücklicher Umstände entfalten eine Art altgriechisches Drama, in dem Schuld ein komplexes und uneindeutiges Gebilde ist und nicht zwangsläufig mit dem Bösen oder böser Absicht verbunden, sondern mit Tragik, Zwangsläufigkeit und Unausweichlichkeit.

Farhadis Protagonisten werden samt und sonders aneinander schuldig, ohne wirklich Böses zu wollen. Wir begegnen hier der überwältigenden Kompliziertheit und Verwirrung des Lebens, in die vor allem Farhadi seine Figuren stürzt. Was nützen hier noch 10 Gebote oder die Entsprechungen im Koran? Schuld nimmt ihren Lauf und alle Dinge haben ihre Kehrseite.

Ebenso das Racheprinzip in The Salesman (Farhadi): Rache tobt sich auch hier aus, zuletzt sogar intrinsisch, wenn der Gewalttäter zum Schluss den vielleicht tödlichen Herzanfall erleidet und er plötzlich unser Mitleid erregt – und der Böse sich als „auch nur menschlich“ zeigt. Auch in A Hero (Farhadi) entfaltet der Regisseur ein komplexes Geflecht (beginnend mit einer im Grunde einfachen Geschichte – seine Spezialität) an gegenseitigen Missverständnissen, in denen man aneinander schuldig wird. Das grauen ist nicht auszurotten.

Was an der westlichen Freiheit gefürchtet ist, ist vielleicht ihre Komplexität und Vieldeutigkeit, das Nicht-mehr-Einordnen-können in die vertrauten Schemata, die nicht-säkularisierte Gesellschaften und Kulturen bieten. Gordanshekan und Farhadi zeigen, wie westliches Leben sein kann, wenn man noch anders verwurzelt ist.

Da wird die westliche Freiheit nicht jubelnd begrüsst, da warten erst die grossen Verunsicherungen und Kompliziertheiten: Freiheit hat ihren Preis, auch die des Lebens, Denkens, Fühlens. Bei Allah herrscht dagegen eine Art archaischer Ordnung. Das macht Religionen und Ideologien so gottverdammt attraktiv.

          Neue iranische Filme erzählen nicht mehr von Burka und Ehrenmorden sondern von der  Mühseligkeit des Hineinwachsens in eine ganz andere Welt.

 

2023 10 Okt

Weniger ist mehr

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Gestern ist mir mal wieder etwas aufgefallen, was ich schon wusste, aber etwas verdrängt hatte. Wenn ich in einem Gespräch bin bzw. andere sprechen höre und es läuft gleichzeitig im Hintergrund Musik, die mich in den Bann zieht, dann gewinnt diese Musik noch einmal mehr an Attraktivität. Das hat zwei Gründe. Zum einen bin ich gezwungen genauer hinzuhören, weil der Geräuschpegel die Musik überlagert, ihr also eigentlich einen Teil wegnimmt, den ich nicht zu 100% durchs intensive Hören zurückkriege. Aber gleichzeitig bekommt die Musik dadurch auch eine mystische Komponente, einen Freiheitsgrad, weil mein Gehirn gezwungen ist, sich den Teil der Musik, den ich nicht genau hören kann, selbst nachzubilden. Das hört sich dann besser an, als wenn ich das Stück ganz ohne Störung hören könnte. Das könnte übrigens auch ein Grund sein für die Attraktivität von rauschenden Schallplatten. Außerdem finde ich es unglaublich faszinierend, wenn die anderen Personen bzw. die andere Person im Raum die Außergewöhnlichkeit der Musik nicht hören bzw. hört. Ich sie also quasi in gewisser Weise ganz für mich alleine habe. Gestern der Fall beim Hören von dem Pale Saints-Song Shell aus dem letzten Haikupost. Das nächste Lied in der Playlist, das ich ebenso liebe, war Gun Club’s Idiot Waltz und das wiederum führte dann zu einer Unterbrechung im Gespräch, weil die andere Person ebenfalls die Schönheit des Liedes empfand und es ihr ebenfalls die Sprache verschlug. Ich sollte eventuell noch erwähnen, dass eine Flasche Spätburgunder aus Rheinhessen auch mit von der Partie war.

 


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