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on life, music etc beyond mainstream

2023 12 Okt

Die digitale Zwischenwelt

von: Jochen Siemer Filed under: Blog | TB | 8 Comments

 

In Lichter des Toren schrieb Botho Strauss eindrücklich über die Vorzüge des Dummbleibens. Kleine prosaische Vignetten, die nicht lyrisch sind und doch etwas freischwebend Assoziatives beim Leser auslösen, das Interpretationen offen lässt. Auch hinsichtlich des Gebrauchs der Dienste Google und Wikipedia könnte dies eine Rolle spielen, weil nämlich die Gefahr besteht, dass sie einen aseptischen, sterilen Bildungshorizont eröffnen, der in ortloser, wegloser und geschichtsloser Weise darauf verzichtet, sich Wissen durch das Machen von Fehlern (eine aktive Handlung, kein Befingern auf der Screen) und das Sammeln von Erfahrung anzueignen. Niemals möchte ich auf all die szenischen Erinnerungen verzichten, wann und unter welchen Lebensumständen mir Entdeckungen oder Erkenntnisse zuflossen. Stattdessen steht nun ständig alles zur Verfügung, wie Billigramsch in einer Grabbelkiste, lädt ein zum Overload. Is the Internet a storykiller? Laut Rilke, um noch einen zweiten Dichter herbei zu zitieren, hat ein Jedes seine Zeit. Der digitale Kosmos hingegen eröffnet eine Unzeit, die Dinge zu Undingen (Byung-Chul Han) degradiert und durch die Aussparung von zeitgemässem Erfahrungswissen eine massive Indifferenz schafft. Alles ist gleich: Bomben schlagen in der Ukraine ein, Flüchtlingsboote kentern im Mittelmeer, während benachbarte Titelzeilen verkünden, dass Frau Krause aus Berlin ihren Hund abgöttisch liebt, oder dass man Nudeln am besten bissfest kocht. Der brandaktuelle Blogeintrag von gestern ist schon heute kalte Suppe und auf dem grossen Müllberg Instagram stapeln sich millionenfach die Fotos. Neulich googelte ich den mir unbekannten Begriff Abgleich, der bislang kein Bestandteil meines Wortschatzes war. Wenn beispielsweise jemand einen Kommentar oder eine Mail schreibt, dann findet kaum Abgleich statt: Klarstellungen und Korrekturen wie im persönlichen Gespräch, auch das instinktive Abtasten des Gesprächspartners fehlen. Was kann man sagen, was sollte man verschweigen? Die Worte kommen beim Gegenüber nicht eindeutig an, oft herrscht das Flaschenpost-Prinzip. Missverständnisse und Fehlinterpretationen wuchern, das Gesagte versinkt in einer wagen Zwischenwelt, einem Geisterraum oder um ein biblisches Motiv zu bemühen: im medialen Fegefeuer. Ein Strohfeuer, das sich zum Flächenbrand ausbreitet. Es wundert nicht, wenn einen zuweilen die Lust befällt, ins analog gesicherte Diesseits zu entfliehen, diese neue Gartenzwerg-Idylle. Wer erinnert sich noch an diesen erlösenden Ort, wo wir einen Körper haben und von Natur aus fehlbar sind? Wo wir basteln und sortieren, uns zusammenraufen, streiten, lieben. „Stolpern und Stottern“ – dies sei die dem Menschen angemessene Daseinsform, schrieb der Soziologe Dietmar Kamper. In der Welt von Null und Eins ist so etwas schwerlich abzubilden, dort machen Musk und Porno die Musik. Ein Mädchen geht an mir vorbei, hält ihr Smartphone vor die Nase, schaut in ihr eigenes Gesicht. Was sucht sie dort? Ich nehme ein Buch zur Hand, schon bin ich bei mir.

 

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8 Comments

  1. Karsten:

    Wunderbarer Text! Löst selbst bei einem Nostalgie-Unbegabten wie mir eine gewisse Wehmut nach offenbar bereits vergangenen Erfahrungen aus. Und leichte Angst vor einer sich abzeichnenden Zukunft, in der viele/alle gewaltsam in ein analoges Leben zurückgeworfen werden, zu dem wir kaum noch fähig sind.

  2. Alex:

    Insbesondere die Sache mit dem Aneinandervorbeikommunizieren trifft es auf den Punkt. Es gibt einminütige Telefongespräche, in denen steckt mehr Dialog (inkl. Abgleich) als in 20 hin und her geschriebenen Whatsapps. Wobei manche Leute die Kunst des Kurznachrichtenschreibens auch nicht sehr gut beherrschen. Ich gehöre sicher dazu.

    Es gibt aber auch gute Dinge im virtuellen Raum. Zum Beispiel die Emojis, ich hätte jetzt hier für dieses Posting gerne einen Daumen hoch oder sogar ein Herz gesetzt. Und natürlich dieses Blog. :-)

  3. Martina Weber:

    Ganz feiner Text. Mich beschäftigt auch am meisten das Thema des digitalen Aneinandervorbeikommunizierens. Worte und Sätze zwischen Menschen sind eben doch nur ein Teil der Kommunikation. Der sinnliche Eindruck fehlt, als natürliche Bremse, auch der Tonfall der Stimme.

  4. Ursula Mayr:

    👍❤

  5. Alex:

    Danke, Ursula. Internet ist noch Neuland für mich … ;-)

  6. Lajla:

    Die digitale Zwischenwelt ist ja ein Raum für sich, wo das Selbst mit sich lachen, murmeln, Kopfschütteln oder laut herausschreien kann. Das könnte immerhin etwas befreiend sein. Ich bin kein Internetpessimist, ich benutze es sinnvoll, sinnstiftend ist es nicht. Tatsächlich habe ich auf meinen Wanderungen durch das Oberallgäu festgestellt, dass mir der Wald so viel mehr gibt als es mir früher bewusst war oder wie diese klaren Bergseen eine tiefe Sicht im doppelten Sinne geben, ganz zu schweigen von den sattgrünen Alpenwiesen, die so erholsam für die Augen sind.

  7. Uli Koch:

    Vielleicht wäre es ja auch ein Weg, dem Virtuellen, das ja auch irgendwie da ist, einen konkreten Platz im „Diesseits“ zu geben. Etwas, das ich benutze wie z.B. einen Löffel, mit dem ich etwas aufnehmen und zu Munde führen kann. Nicht hinter den Bildschirm zu gehen, sondern das, was dahinter ist hervorzuholen, wie eine Frucht von einem Baum zu pflücken. Es zu einem Teil meiner Realität werden zu lassen und nicht Teil einer aus unserer Gehirnarchitektur unergründbaren virtuellen Welt zu werden. Die deutliche Zunahme von Unfällen handynutzender Fußgänger zeigt mehr als deutlich, dass das Fegefeuer bei Realitätsflüchtlingen auch klärend wirken kann…

  8. Jan Reetze:

    Von sterbenden Soldaten zu bissfesten Nudeln — Hüsch nannte das „die polyphonische Krankheit“. Und mir fällt dazu stets einer der wenigen bemerkenswerten Sätze Neil Postmans ein: Problematisch am Fernsehen ist nicht, dass es Unterhaltung bringt, problematisch ist, dass es jedes Thema als Unterhaltung bringt. Hätte der mal das Web gekannt …!


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