Christian Petzoldt inszenierte Filme über „Gespenster“ – im weitesten Sinne: Menschen, die unverortet und aus der Zeit gefallen scheinen, in Zwischenbereichen leben, in einer Vergangenheit existieren, die nie zu enden scheint und nie in eine Gegenwart oder Zukunft aufbrechen können. Personifizierte Relikte, seltsam deplaciert. Auch wenn man Petzold nicht mag, ist dieses Thema reizvoll.
Beim Betrachten der Filme von iranischen Regisseuren (hier: Ashgar Farhadi, Jafar Panahi, Susan Gordanshekan) fällt mir auf, wie auch deren Protagonisten in einer Art Bardo leben, einer mühsam errungenen Moderne, in die die überwunden geglaubte Vergangenheit immer wieder bedrohlich und zerstörerisch hineintritt – und dies im Wortsinne: auch ihre Figuren geistern in einer Art Nirgendwo.
Hier sind es Filme über Zeit und die Klebkraft von Vergangenheit(en), Traditionen und frühen Programmierungen. Somit sind es auch Filme über die Schwierigkeiten, politische und gesellschaftliche Veränderungen durchzusetzen, auch im eigenen Inneren.
In Die defekte Katze geht ein in Deutschland lebendes iranisches Pärchen (Arzt und studierte Elektrotechnikerin) – mit konservativen Betonköpfen als Eltern gesegnet, aber westlich-modern sozialisiert – eine arrangierte Ehe ein, obwohl sie durchaus andere Möglichkeiten hätten. Die westlichen „Freiheiten“ mit ihrer Tinderkultur scheinen sie zu ängstigen, so dass auf konservativ-starre Schemata zurückgegriffen wird. Zu zweit kommt man besser durch eine feindliche Welt, das bewiesen schon Hänsel und Gretel – und um eine so gestaltete Beziehung handelt es sich hier auch. Die junge Frau mit abgeschlossenem Technik-Studium findet keine Arbeit oder gibt vor keine zu finden. Sie verkriecht sich zunächst zu Hause, legt sich eine Katze mit einem „Gendefekt“ zu, die martialisch aussieht, aber jämmerlich klagt, wenn man sie alleine lässt. Ein Bild für … ja, für was? Die Beziehung? Die Einsamkeit des jeweils einzelnen, der den anderen nicht liebt aber existenziell braucht?
Junge Menschen, die nicht einlösen können, was sie sich vorgenommen haben. Kiam, der Ehemann, reagiert aggressiv, als Mina einmal alleine tanzen geht. Am Ende versuchen sie eine Annäherung, überreissen, dass sie sich erst kennenlernen müssen: eine noch ungeformte Beziehung, die erst ihre Form finden muss. Im Hintergrund ein Riesenrad als Sehnsuchtssymbol? Oder ewige Umdrehung, ohne von der Stelle zu kommen? Ein nie erreichbares Leuchten?
In Le Passé (Farhadi) sind ebenfalls Verwirrungen der Vergangenheit unheilstiftende Kräfte. Genetischen Programmierungen war lange nicht zu entkommen – jetzt gibt es die CRISPR/Cas-Schere. Wie ist es mit Programmierungen durch archaische Traditionen, die offenbar doch so etwas wie Sicherheit vermittelten – oder würden sie andernfalls so heftig verteidigt werden, unter anderem auch von den Frauen früherer Generationen, obwohl die ja immer die Gelackmeierten waren?
In der Seele schnippelt sich’s nicht so leicht wie in den Eiweißsträngen – vor allem sieht man da beim Operieren nie was. Auch so eine Crux der Psychotherapie – jeder Chirurg würde wahnsinnig werden, wenn er blind operieren müsste, by the way. Uns wirft man’s vor, wenn wir mal daneben tapsen.
Wieviel Angst macht ihnen unsere westliche Freiheit, in der Gott schon lange tot ist, während in der vertrauten Kultur Allah sich schlechthin in alles einmischt – und eine vielleicht trügerische Art von Halt gibt? Und nach dem Tod das Shangri-La wartet?
Nader und Simin (Farhadi) sind ein „modern“ lebendes iranisches Ehepaar, das den Iran verlassen will. Naders dementer Vater ist für ihn ein Grund zu bleiben, seine Frau verlässt ihn und die gemeinsame Tochter.
Farhadi entfaltet ein polytraumatisches Familiendrama, in dem sich die Begriffe Recht und Unrecht, Schuld und Sühne zusehends auflösen. Verkettungen unglücklicher Umstände entfalten eine Art altgriechisches Drama, in dem Schuld ein komplexes und uneindeutiges Gebilde ist und nicht zwangsläufig mit dem Bösen oder böser Absicht verbunden, sondern mit Tragik, Zwangsläufigkeit und Unausweichlichkeit.
Farhadis Protagonisten werden samt und sonders aneinander schuldig, ohne wirklich Böses zu wollen. Wir begegnen hier der überwältigenden Kompliziertheit und Verwirrung des Lebens, in die vor allem Farhadi seine Figuren stürzt. Was nützen hier noch 10 Gebote oder die Entsprechungen im Koran? Schuld nimmt ihren Lauf und alle Dinge haben ihre Kehrseite.
Ebenso das Racheprinzip in The Salesman (Farhadi): Rache tobt sich auch hier aus, zuletzt sogar intrinsisch, wenn der Gewalttäter zum Schluss den vielleicht tödlichen Herzanfall erleidet und er plötzlich unser Mitleid erregt – und der Böse sich als „auch nur menschlich“ zeigt. Auch in A Hero (Farhadi) entfaltet der Regisseur ein komplexes Geflecht (beginnend mit einer im Grunde einfachen Geschichte – seine Spezialität) an gegenseitigen Missverständnissen, in denen man aneinander schuldig wird. Das grauen ist nicht auszurotten.
Was an der westlichen Freiheit gefürchtet ist, ist vielleicht ihre Komplexität und Vieldeutigkeit, das Nicht-mehr-Einordnen-können in die vertrauten Schemata, die nicht-säkularisierte Gesellschaften und Kulturen bieten. Gordanshekan und Farhadi zeigen, wie westliches Leben sein kann, wenn man noch anders verwurzelt ist.
Da wird die westliche Freiheit nicht jubelnd begrüsst, da warten erst die grossen Verunsicherungen und Kompliziertheiten: Freiheit hat ihren Preis, auch die des Lebens, Denkens, Fühlens. Bei Allah herrscht dagegen eine Art archaischer Ordnung. Das macht Religionen und Ideologien so gottverdammt attraktiv.
Neue iranische Filme erzählen nicht mehr von Burka und Ehrenmorden sondern von der Mühseligkeit des Hineinwachsens in eine ganz andere Welt.