Es ist (schon wieder) Oktober, die Tage werden merklich dunkler, der Herbst lässt sich nicht länger verdrängen. Hoch im Norden Europas vollzieht sich dieser Umschwung von den hellen Sommermonaten zur langen, dunklen Winterzeit in noch spürbar kürzerer Zeitspanne und auf eine meist erbarmungslosere Weise. Ab Anfang Oktober werden die Tage dort zusehends und enorm schnell kürzer, bis – je nachdem, wie weit nördlich vom Polarkreis man sich befindet – viele Wochen die Sonne kaum bis gar nicht mehr über dem Horizont zu sehen ist.
Ob es damit zu tun hat, dass Sverre Gjørvad seine letzten Alben mit Motiven von Helligkeit, Offenheit und Weite betitelte? Man müsste eigentlich erwarten, dass Odd Gjelsnes‘ im wesentlichen in Oslo beheimatetes Label Losen Records jetzt ein neues Album des Schlagzeugers parat hätte, denn seit Voi River im Herbst 2019 war dies jedes Jahr um diese Zeit der Fall. Gjørvad stammt zwar von der norwegischen Südküste, zog aber vor über 15 Jahren nach Hammerfest, in Europas nördlichste Stadt, wo die Polarnacht volle zwei Monate dauert. Aufgenommen hatte er die vier Alben allerdings jeweils im Sommer, ebenfalls in Nordnorwegen, in Tromsøs Kysten Studio; wenn das nordische Licht 24 Stunden lang das Land erhellt. Die vier Alben (nachdem Gjørvad nach dem Studium in Trondheim zuvor ein paar Alben bei anderen Labels und u.a. mit der Band Dingobats herausgebracht hatte) entstanden jeweils im Quartett mit Pianistin Herborg Rundberg, Bassist Dag Okstad und Gitarrist Kristian Olstad, hier und da erweitert um einen Gast mit einem Holzblasinstrument. Drei der Coverfotos stammen von Mats Eilertsen (der in der Vergangenheit in Gjørvads Band spielte).
Speziell Olstad ist mir in unterschiedlichen (nord-)norwegischen Alben schon mehrfach begegnet, und diese waren – auch im Sound – teils sehr unterschiedlich, wenngleich sein spezifischer Tonfall auf der Gitarre zuverlässig für spannende und einprägsame Hörerlebnisse sorgte. In dieser Band fügt er sich immer wieder elegant in ein sensibel austariertes, atmosphärisches Klangbild ein – das Album Elegy of Skies (2020) bietet da gute Beispiele, bei dem man sich streckenweise an ECM-Veröffentlichungen erinnert fühlt, zumal Gjørvad hier gelegentlich in der Tradition von Paul Motian zu stehen scheint, Olstad sich mal von Rypdal, mal von Aarset, mal von Frisell beeinflusst zeigt und gegen Ende Saxofonist Joakim Milder für einen Song vorbeischaut. Manchmal nimmt die Gitarre aber auch eine dominante, elektrisch effektvolle ein, man höre nur das weitaus kontrastreichere, ja rockigere Fast-Pop-Album Time To Illuminate Earth (2021), das offensichtlicheren Witz und deutlichere Kanten zeigt, ein Titel wie Massively Uncomfortable Rock (c’est la vie) lässt es erahnen. Überraschend auch, wie sich hier die vier Bandmitglieder mit ihren Stimmen ergänzen.
Apropos Pop: Gerne wirft Gjørvad ein einzelnes, eigenwilliges Cover zwischen seine ansonsten komplett eigenen Kompositionen ein, und man muss schon das Kleingedruckte lesen, um dies zu bemerken. Gut, ob es eine weitere, eher höfliche Einspielung von George Harrisons Here Comes The Sun (auf Voi River) gebraucht hätte …? Vermisst hätte sie sicher niemand. Ein Jahr später Mercy von Paddy McAloon (Prefab Sprout) ist dann schon reizvoller. Das nächste Album eröffnet die Band mit einer charmanten Version von XTC’s All of a Sudden (It’s too late) aus dem Jahr 1982, wobei Andy Partridges Gesangsmelodie vom Fagott übernommen wird. Unerwartet in der Tat. Und 2022 heißt die Platte dann zwar Here Comes The Sun, der eingestreute bekannte Songwriter ist hier jedoch Paul Simon (Dazzling Blue).
Auf Gjørvads bislang letzte CD, im Juni 2022 eingespielt und heute vor einem Jahr erschienen, scheint – nach vier Alben mit insgesamt 30 Eigenkompositionen – nun eine Zäsur zu folgen. Here Comes The Sun endet auch mit dem Titel Voi River (mit Saxofonist Eirik Hegdal als Gast wirkt der Song fast wie ein Frühlingstanz) und ist insgesamt sicherlich das sonnigste sowie auch das unaufgeregteste und „rundeste“ der vier. Mir scheint, dass hier dem Piano Herborg Rundbergs eine Art Hauptrolle zukommt. Und wie mir erst beim Nachlesen bewusst wurde, beziehen sich die vier Albumtitel natürlich auf die vier Elemente, auf das Wasser-Motiv, folgt mit den Skies die Luft, dann die (illuminated) Erde und zuletzt das Feuer. Sverre Gjørvad selbst schreibt, die vier CDs repräsentieren in seinen Augen auch die vier Jahreszeiten. Zwar konnte mich Voi River damals wenig begeistern (freundlich fomuliert), doch über die gemeinsame Zeit hin schien der Eigenanspruch der Band merklich gewachsen zu sein, und zusammengenommen sind die letzten drei Scheiben dann doch eine starke Trilogie mit durchaus unterschiedlichen Facetten.