Manafonistas

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Archives: Oktober 2023

2023 30 Okt

Die Farbe Gelb

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Ein Tag im Jahr 2100, mitten in Deutschland, wie könnte das sein? Von uns wird es niemand mehr erleben. WDR 5 und das Literaturbüro NRW haben einen Wettbewerb ausgerufen, an dem 367 Autorinnen und Autoren teilgenommen haben. Das Thema lautete: „Ein Tag irgendwo in NRW im Jahr 2100“. Die drei Gewinnertexte wurden von zwei Sprecherinnen und einem Sprecher gelesen und finden sich unter diesem Link. Vor jeder Lesung steht ein Statement der jeweiligen Autorin bzw. Person. Tief beeindruckt hat mich die Erzählung „Die Farbe Gelb“ von Iris Antonia Kogler. Die Lesung beginnt bei Minute 24:18 und endet bei 37:03, dauert also etwa 13 Minuten. Der Link ist verfügbar bis 31.10.2024. Der Sprecher des Textes hat eine ausgezeichnete Performance hingelegt.

 

2023 29 Okt

flüchtig notiert

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Weiß ist die Farbe der Neutralität und vielleicht auch der Hoffnung. Weiß gestrichene LKWs stehen am Grenzübergang von Rafah und warten auf die Einfahrt nach Gaza, um überlebensnotwendige Hilfsgüter zu bringen. 2015 lieferte aber auch Rußland das entscheidende militärische Material in weißen LKWs in die Grenzregion des Donbass vorgebend humanitäre Hilfsgüter zu liefern. Doch diese Geschichte spielt viele Jahre früher, in den letzten Monaten des 2. Weltkrieges und hat bisher nur wenig Beachtung gefunden. Die Einsicht, dass der Krieg für Deutschland nicht zu gewinnen war, machte sich zunehmend auch in den Köpfen führender deutscher Politiker breit und so gab es auch Bestrebungen die Konzentrationslager aufzulösen, damit sie nicht in die Hände der Siegermächte fielen und so die Verbrechen und das Grauen nach Möglichkeit nicht nachweisbar werden sollte. In dieser brisanten Phase machte der Vizepräsident des schwedischen Roten Kreuzes Graf Folke Bernadotte den Versuch Kontakt zu Walter Schellenberg und Heinrich Himmler aufzunehmen, um mit ihnen über eine Rückführung von überwiegend dänischen und norwegischen KZ-Häftlingen nach Skandinavien zu verhandeln. Er war mit seiner Mission sehr erfolgreich und so konnten in mehreren konzertierten Aktionen etwa 20000 inhaftierte Menschen, darunter auch viele Juden, mit eilends weiß gestrichenen Bussen des schwedischen Roten Kreuzes durch das ausgebombte und weitgehend zerstörte Deutschland gerettet und aus der Einflusszone des zerfallenden Nationalsozialismus gebracht werden. Später wurden die Berichte über das in den Konzentrationslagern Erlebte und über die Evakuierung in den teilweise sehr schnell organisierten Aktionen sorgfältig dokumentiert.

Eigene Interviews mit noch lebenden Zeitzeugen dienten dem dänischen Saxophonisten und Komponisten Benjamin Koppel als Ausgangspunkt für ein fast cineastisches Werk, das sich um einzelne Zitate rankt, die schmerzhaft unter die Haut gehen und dem Vergessen entgegenwirken. Beklemmend in ihrer Einfachheit und durch den einfachen Trick das muttersprachliche Originalzitat von einer Wiederholung in Englisch folgen zu lassen geben die Worte der Überlebenden den Rahmen für die Kompositionen, die mit ihren Spannungsbögen und ihrer akustischen Bildgewalt einen wirkmächtigen inneren Film entfalten zwischen unfassbarer Grausamkeit, einem initiatischen Weg in die Freiheit und den finalen Willkommensgesten, die für die Befreiten ein kaum fassbares Wunder gewesen sein müssen. Ein beklemmendes Album, das in seiner Intensität und Direktheit den Hörer in seinen Bann zieht. Dazu beigetragen haben in überragender Weise die Jazzsängerin Thana Alexa, der Schlagzeuger Antonio Sanchez, der Bassist Scott Colley, der Pianist Uri Caine, Søren Møller an den Keyboards und der Solocellist des Dänischen Nationalen Symphonieorchesters Henrik Dam Thomsen.

 

 

 

 

Das Deutsche Jazzfestival Frankfurt wird 70 und feiert dies mit dem John Scofield Trio, Jakob Bro & Joe Lovano, Terri Lyne Carrington mit der hr-Bigband, Torsten de Winkel, Anke Helfrich, Structucture und vielen anderen. Auf ARTE findet sich am 28.10. ab 14:30 Uhr aus diesem Anlass ein neunstündiger Livestream. Danke, Lajla, für den Hinweis.

 

2023 26 Okt

Enophilharmonie

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Wie Alex war ich am 24.10. bei dem Konzert von Brian Eno mit dem Baltic Sea Philharmonic in der Philharmonie, Berlin. Ich kann einerseits seinem Post kaum etwas hinzufügen, andererseits habe ich doch einiges anders gehört, deswegen hier noch einmal eigenständig… los ging es schon einmal magisch: angeführt von den Querflöten, denen auch die ersten tastenden Töne gehörten, kamen die Musiker des Kammerorchesters leise auf die Bühne. Während des ganzen Konzerts bewegten sie sich dort scheinbar frei und wurden von dem ‚Dirigenten‘ (auch auf mich wirkte er wie ein Animateur) Kristjan Järvi in unterschiedliche Konstellationen zusammengeführt. Eno, der als letzter sehr unauffällig die Bühne betrat, stand neben einigen anderen Musikern (Percussionisten, Sänger, Gitarrist, Laptop,…) auf einer zweiten Ebene. 

Die ersten Hälfte des Konzerts gehörte The Ship, einem Werk das mir weitgehend unbekannt war, ich hatte es bei Erscheinen nur einmal gestreamt – zwar für gut befunden, aber mein Geld dann für andere Alben ausgegeben. Die 45 Minuten gingen schnell vorbei. Schroffe Klanglandschaften, von idyllischen Lichtungen unterbrochen wurden, um dann zu verwirbeln; immer wieder fanden neue Instrumente in neue Konstellation zueinander, die aber immer nur kurz zusammen blieben. Wave After Wave After Wave… Die Flüchtigkeit war aber immer spannend, nie beliebig; eine große improvisatorische Anstrengung der Musiker und sicher eine besondere Leistung des Dirigenten. 

Für mich waren die Songs der zweiten Hälfte der Höhepunkt, also ab I‘m Set Free. Eno war zwar etwas erkältet und dadurch nicht im Vollbesitz seiner Stimme, aber das tat der Magie keinen Abbruch. Die Art und Weise wie das Orchester bei den Pop Stücken – zwei von Another Day On Earth, zwei von Forevernomore,dazu By This River – eingesetzt wurde, hatte nichts zuckriges, kleberisch-kleisterhaftes – kein elegischer Hustensaft für Enos heisere Stimme. Die Musiker schufen kleine Partikel, Töne, die atmosphärisch durch die Stücke schwebten, eine zusätzliche Klangquelle, um neue Räume zu erschließen. Apropos: der Klangraum eines Konzertsaals ist etwas ganz besonderes, auch wenn ich für perfekten Raumklang etwas zu weit seitlich saß. Die Freude der Musiker war jedenfalls ansteckend, die stehenden Ovationen am Ende mehr als verdient.

 
 

Barbie ist bereits streambar – also gestern pflichtschuldigst reingeguckt, während der Rest der Familie bei Erwähnung des Titels vorsorglich in alle Richtungen der Windrose auseinanderstob.

Man kann dem Film viel vorwerfen – das eine ist die schlechte Aussteuerung zwischen Ton und pushender Filmmusik – aber blöd ist er nicht. Er ist allerdings auch nicht überbordend intelligent; was besticht, ist seine spielerische Leichtigkeit, mit der er fröhlich die Genres und ihre Versatzstücke durcheinanderquirlt: Ein bisschen Teletubbies, ein bisschen Hollywood-Sentiment, ein bisschen Disney-Pädagogikschwurbel, etwas Schöne Neue Welt, ein Schuss Thelma und Louise sowie eine Prise BRIGITTE-Beratungstante, die mittels oft gehörter Platitüden erklärt, wie man ein geglücktes Frauenleben hinbekommt und dass es im Leben nicht nur um Schönheit geht. Meistens bekommt man dergleichen von Leuten gepredigt, die selbst auch nach einer durchzechten Nacht noch hinreissend aussehen und als einzige Schönheitspflege klares Wasser und viel Schlaf brauchen oder das zumindest behaupten. Wieviele Chirurgen sich an ihnen die Skalpelle stumpfgesäbelt haben, erfährt man ja nicht.

So auch hier.

Diese Mixtur verhindert schon Langeweile, wobei sich einige Szenerien und Musiknummern schon in die Länge ziehen in der Hoffnung, dass jetzt auch der Letzte die message kapiert hat.

Es beginnt recht vielversprechend mit einem Zitat aus 2001 – Odyssee im Weltraum, unter den Klängen der Zarathustra-Fanfare, die auch später noch oft bemüht wird, entsteigt Barbie schaumgeboren dem Nirgendwo, während kleine Mädchen ihre langweiligen Babypuppen an Felsen zerschmettern wie weiland die Affen die in Kubricks Epos mit Knochen herumhauen. Das hat was; hier ist zumindest eine Cineastin am Werk die ihre Hausaufgaben gemacht hat. Leider hält der Film diese erfreuliche Ebene nicht lange durch.

Barbie lebt also mit anderen Barbies in einer Art rosafarbenem Legoland, in dem das Matriarchat herrscht und alle permanent Spass haben, auch die Kens, auf eine Buddy-Funktion reduziert und von führenden Ämtern natürlich ausgeschlossen wie sich das im Matriarchat so gehört.

Barbieland ist infantil-narzisstisch strukturiert und frei von oralen, analen und sexuellen Trieben, Püppchen brauchen nichts zu essen und haben keine Genitalien, da fallen schon Konfliktpotentiale weg. Wozu dann ein „Oberster Gerichtshof “ benötigt wird, erschliesst sich nicht so ganz, schliesslich passiert ja nie was.

Der Rest ist rasch erzählt: Die Realität des Menschseins erreicht Barbieland so, wie das Nichts in der unendlichen Geschichte das Land Phantasien bedroht, und Barbie sieht sich gezwungen in die Welt der Menschen zu reisen und ihre frühere Besitzerin zu finden – hier ist es besser sich nicht mit logischen Erwägungen aufzuhalten; das ist genauso müssig wie nachvollziehen zu wollen, warum der Terminator in die Vergangenheit reisen muss, um jemand umzubringen – um zu verhindern, dass dieser bzw diese nachher einen anderen Jemand zeugt oder zur Welt bringt, der sodann in der Zukunft … äh … dings … wurscht! Jedenfalls ist diese Reise halt bitter notwendig. Permanente Hinterfragerei stört den Filmgenuss, hab ich mir schon lang abgewöhnt …!

Also sie reist halt in die Menschenwelt mit Ken, der sich noch in ihren Kofferraum geschmuggelt hat. Dort herrscht natürlich das entfesselte Patriarchat, was wiederum Ken gut gefällt, der sofort zurück nach Barbieland reist, um mit den anderen Kens dort ein solches zu etablieren. Mann entwickelt also Testosteron und die Barbielandbarbies werden einer Gehirnwäsche unterzogen – dieses Motiv wurde wiederum aus The Stepford Wives geklaut – und ertragen das brav. Zum Ende wird Barbie zurückkehren und die alten Verhältnisse wieder herstellen, selbst aber lieber in der Welt der Menschen leben wollen, wo es so etwas wie Gefühle, Beziehungen und einen Körper gibt und die Kens begeben sich auf die Suche nach ihrer eigentlichen Identität und Aufgabe und wollen nicht länger ausschliesslich in Konjunktion mit Barbie ihre Existenzberechtigung finden. Emannzipation.

Greta Gerwig war bisher bekannt für Coming-of-age-Filme, hier hätte sie noch ein Betätigungsfeld gehabt, leider erfährt man nichts mehr darüber wie sich die Kerle entwickelt haben.Und leider kann sich der Film nicht so ganz entschliessen, was er sein möchte:

Natürlich erstmal die Cashcow von Mattel – der Konzern ist Coproduzent, karikiert sich selbst und seine CEOs recht witzig im plot (entlang der Darstellungsweise der modern world in Tati’s Playtime ); der Aktienkurs ist zumindest seit dem Rollout des Films und des ganzen Merchandisings um ca 20% angestiegen. Es gibt übrigens jetzt auch Quoten-Barbies zu erwerben: Eine Schwarze, eine im Rollstuhl und eine Curvy-Barbie mit Konfektionsgrösse 36 anstatt wie sonst 34. Wenn das mal kein Fortschritt ist …

Im Film gibts noch ne ganz Dicke und die „komische Barbie“, eine Art Schamanin, die in einer Örtlichkeit wohn, die Böcklins Toteninsel ähnelt, auch ein netter sidekick. Selbst die sehen auch noch im Rahmen ihrer Möglichkeiten gut aus, by the way.

Sentimentale Filme haben oft wohltuende ironische Brechungen. Barbie ist ein ironischer Film mit sentimentalen Brechungen, die man sich hätte ersparen können, dann wäre der Film um einiges pfiffiger:

 

Barbie zu einer alten Dame auf der Parkbank: Sie sind wunderschön!

Die alte Dame entgegnet gerührt: Ich weiss!  Man entdeckt wahre menschliche Schönheit.

(Schluchz!)

 

Oft gestellte Frage: Ist Barbie feministisch?

Einfache Antwort: Ein Film in dem alle Frauen auch nach dem Abschminken immer noch phantastisch aussehen, ist schon per se nicht feministisch. Ein Film, in dem auf Teufelin komm raus ständig über Schönheit gequatscht werden muss, auch nicht.

Der im Film dargestellte Feminismus ist ein Barbiefeminismus: „Du kannst werden was Du willst!“, als neuer Schlachtruf, als gäbe es keine äusseren und inneren Begrenzungen in der Realität. Das glitzert auch bei wohlwollendster Betrachtung doch etwas arg rosa.

Am Ende folgt Barbie den Spuren des Wilden aus Brave New World, der in einer permanent narkotisierten Umwelt ein menschliches Leben mit echten Gefühlen und einem echten Körper anstrebt. Mit dem Unterschied dass der Wilde sich erhängt und Barbie zum Gynäkologen will. Was immer der dann auch tun soll …

Der Film lebt vom Wortwitz, Situationskomik und einer Hauptdarstellerin mit hinreichend Talent zum Komischen, über weite Strecken trägt sie den Film allein neben einem etwas schaumgebremst wirkenden Ryan Gosling, für den Komödien ab einem gewissen Winkel an Schrägheit nicht mehr das richtige Metier sind. Da wirkt er mehr wie Hans Pfeiffer mit 3 „f “ !

Also 2 Std. recht gut unterhalten und viel gekichert.

Ebenso oft gestellte Frage: Ist Barbie ein Spiegel unserer schönheitstrunkenen Spassgesellschaft?

Man hats versucht – und wenn man sich die moralisierenden Tendenzen erspart hätte, wäre es eine leicht-lockere Persiflage auf selbige geworden, gerade in ihrem Auf-die-Spitze treiben. Natürlich erzählt er etwas über Geschlechterspezifität – unabhängig von der Erziehung: Ich kenne kein Mädchen, das Barbie nicht mag und keinen Jungen, der Barbie mag. Nicht mal Ken. Unabhängig vom Erziehungsstil.

Er erzählt etwas über Schönheitswahn – und wer glaubt, dass dies ein Phänomen unserer Zeit ist, irrt sich. In meiner Sammlung von Mädchenbüchern ab 1900 tummeln sich auf dem Cover die gleichen elfenhaften Geschöpfe mit wallendem Haar. Damals gabs Korsetts, später hat frau die Magersucht erfunden und die Medizin die Schönheitsoperationen, das ist das einzig Neue dran. Und wie sahen sie Königstöchter in den Märchen unserer Kindheit aus? Etwa stämmig, mit Sommersprossen und brauner Stoppelfrisur??

 
 

 
 

Die im Film dargestellten Gesellschaftsformen erzählen auch von der Infantilisierung der Welt (oder war sie schon immer infantil?), den politischen Auseinandersetzungen, die den Spuren von Sandkastenkriegen folgen und den Racheaktionen von kränkbaren Personen, denen man das Sandeimerchen weggenommen hat oder die zumindest meinen, es wäre ihres gewesen, das sich ein anderer angeeignet hat und es um jeden Preis wieder zurückhaben wollen. Und Jahre damit verbringen, am gleichen Eimerchen zu zerren. In der Realität siehts halt leider ganz anders aus als auf dem Spielplatz – die ausagierten Affekte dürften die gleichen sein.

Somit hat Barbie durchaus einen Wiedererkennungswert.

Wünschen wir ihr das Beste beim Leben auf diesem durchgeknallten Planeten. Ansonsten kann sie – im Gegensatz zu uns – ja wieder zurück.

2023 25 Okt

Positiv überrascht

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Es ist immer das Gleiche. Wenn man viel erwartet, wird man meist bitterlich enttäuscht und wenn man nichts erwartet, ist eine positive Überraschung fast schon vorprogrammiert. So mal wieder geschehen gestern Abend in der Philharmonie in Berlin. Brian Eno was there mit dem Baltic Sea Philharmonic und sie spielten The Ship plus 5 Songs. Sie ließen das Publikum gut 20 Minuten warten, es lag wohl an der langen Gästeliste, die dafür sorgte, dass der Konzertsaal am Ende doch recht gut gefüllt war.

Die Querflötistin führte das Orchester mit hypnotischen Tönen an wie die Rattenfängerin von Hameln. Ganz langsam kamen die Musiker auf die Bühne und spielten bereits beim Einzug. Alle fanden ihren Platz und es hörte sich nun für eine lange Zeit so an, als würden sie ihre Instrumente stimmen ähnlich wie bei indischen Ragas. Es erinnerte mich auch etwas an die beiden Konzerte von Julia Holter, denen ich beiwohnen durfte. In dieser „Stimmphase“, die auch leicht ins improvisiert Freejazzige abzugleiten schien, gab es wunderbare Dissonanzen, z.B. von den Geigen, es war alles möglich zu diesem Zeitpunkt, eine völlige Freiheit lag in der Luft. Der Sprechgesang von Eno und noch mehr anschließend der vom „Chor“ war relativ stark im Hintergrund, was gut so war. Ein flirrender Klangteppich breitete sich vor uns aus. Die Musik schwoll nun dauernd an und ab, ich bin mir nicht sicher, ist das typisch für den späten Eno? Es gab ein wunderschönes Crescendo – Godspeed YBE! ließen grüßen – das in einen akustischen Orgasmus mündete, wo alle Instrumente die volle Lautstärke spielten – insbes. die Blechbläser und natürlich das Becken – und die Bühne zu lodern schien, Hut ab vor der Lichtshow. Also ich muss sagen diese orchestrale organische Live-Interpretation mit einer unglaublichen Energieintensität im Moment des Höhepunkts hat mich ziemlich gepackt. Auf Platte ist The Ship für mich ein eher langweiliges Ambientgewaber.

Dann kam I’m Set Free, für mich der Höhepunkt des Abends, da ich nicht wusste, dass es das letzte Stück von The Ship ist. Und die Orchesterversion wunderbar stimmig war. Brian sang hier mit voller Inbrunst und völlig befreit, man hörte nicht, dass er erkältet war. Zu diesem Lied vom selbstbetitelten dritten Velvet Underground-Album muss man wissen, dass Brian Eno damals einer der wenigen war, die die erste Platte von Lou Reed und Band kauften, die dann angeblich alle später eine eigene Gruppe – nämlich er mit Bryan Ferry Roxy Music – gründeten.

Es ging weiter mit By this River, wo die perlenden Klänge der Harfe das Fließen der Werra Weser heraufbeschwörten. Außerdem gab es schöne Wassereffekte bzw. Rudergeräusche, vielleicht DAS eine unsterbliche Lied von ihm. Es endete mit vier moderneren Stücken, bis auf die von Eno bei sich zuhause aufgenommenen Vogelstimmmen nicht so mein cup of tea, teilweise an der Grenze zum Kitsch (insbes. das letzte Stück There Were Bells), auch die Stimmverfremdung für meine Begriffe Kokolores, aber das waren Kleinigkeiten, insgesamt ein sehr gutes Konzert.

P.S. Auch sehr schön, ich habe endlich den ersten Manafonisten livehaftig kennengelernt! :-)

2023 23 Okt

Beyond beyond

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Manchmal braucht es wirklich nicht beyond mainstream zu sein: Tatort oder Supertramp sind oft wohltuender als Tarkowski oder Sylvian. Und was für Filme und Musik gilt, kann für Bücher nicht falsch sein. Die Autorin, von der ich in meinem Leben die meisten Seiten gelesen habe ist sicher J.K. Rowling. Über die Qualitäten der Harry Potter Serie gibt es keinen Zweifel. Ich habe bis 2018 gewartet, die Bücher zu lesen. Falls jemand meint, eine mega-erfolgreiche Buchreihe, die sich an Jugendliche richte und in der ein Zauberlehrling im Mittelpunkt steht, sei nichts für ihn oder sie, möchte ich aus Erfahrung raten, dies noch einmal zu überdenken oder einfach den ersten Band anzulesen – man kann sich den ja überall schnell mal ausleihen. Es besteht nur die Gefahr, dass die Wintermonate durch die 7 Bände auf einmal sehr kurzweilig und einige Gewissheiten über Jugendliteratur oder Zauberlehrlinge über Bord geschmissen werden.

Falls man aber sowieso eher im Krimi-Genre zu Hause ist, kann die dunkle Jahreszeit auch mit den Comoran Strike Romanen verkürzt werden. Diese ebenfalls aus sieben Bänden bestehende Serie wurde von J.K. Rowling unter dem Pseudonym Robert Galbraith veröffentlicht und ist in diesem Herbst abgeschlossen worden. Auch hier gilt wie bei einem Lieblingsalbum (oder den Potter Romanen): all killer, no filler. (Wobei ich einschränken muss, dass ich mich für die letzten beiden Bände auf die Urteile sehr vertrauenswürdiger Menschen meiner Umgebung verlasse). Nebenwirkung: Man könnte in einem Lesefluss kommen, wie man ihn zuletzt als Jugendlicher hatte und den man anders vielleicht vom Schauen von Fernsehserien kennt. Und der Zauberlehrling wartet danach ja immer noch geduldig auf die Lektüre (ich kann übrigens den Besuch des Harry Potter Studio in London empfehlen, aber das nur am Rande). Für Kurz-entschlossene: der erste Band der Serie ist Der Ruf des Kuckucks, kostengünstig kann man sich auch die englische Version The Cuckoo‘s Calling auf seinen EBook-Reader laden.

2023 21 Okt

Weiterträumen

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Es gab zwei Disziplinen des Kunstunterrichts in der Oberstufe, die mir besonders am Herzen lagen: Fotosequenzen und Kollagen. Letztere meist surrealistisch angehaucht, gemäss des damals grossen Vorbilds Max Ernst, dessen Einfluss mir letztendlich auch den Zugang zur Kunsthochschule verschaffte. Aber auch Erstere haben es in sich, verlangsamen sie doch die Wahrnehmung, vertiefen sie dadurch und schaffen Raum für Kontemplation. Beiden gemeinsam ist die Möglichkeit, sich durch das Hineinträumen in das Selbstgeschaffene in eine Parallelwelt zu katapultieren, einhergehend mit einem Training der eigenen Fantasie. Irgendwann in meinem Leben muss es den bis heute wirksamen Entschluss gegeben haben, nicht unbeträchtliche Anteile meines Ichs in Fantasiewelten auszusiedeln, weil sie in der sogenannten Realität nicht genügend Nährboden und Bestätigung finden. Die provokante Frage „Woran glaubst du eigentlich?“ würde ich also heute beantworten mit: „An Fiktion und Einbildungskraft.“ „Träum‘ weiter!“ wäre aus meiner Sicht kein Vorwurf, sondern positive Affirmation.

 


 
 
 

Schnell die Gelegenheit ergriffen und den dritten und letzten Teil meines ausführlichen Interviews mit Carla Bley und Steve Swallow hochgeladen. Nachdem es im ersten Teil um die älteste ECM-Aufnahme und die erste Studioaufnahme von Swallow und Bley ging, quasi den „Urknall“ der ECM-Ästhetik und gewissermaßen den Ursprung von ECM, im zweiten Teil der Fokus auf den 1970ern und den ersten Aufnahmen von Carla Bleys Kompositionen für ECM lag, auf dem Album „Dreams so real“ von 1975, geht es nun in diesem dritten Teil, ausgehend vom Album Looking for America (2002), um Carla Bley als Komponistin, als „American composer“, wie sie sagt – und um die letzten drei Alben, die für ECM entstanden. Sie berichtet, wie sich für sie die Herangehensweise bei dieser späten Trilogie änderte und wie sich die Zusammenarbeit mit Manfred Eicher als Produzent in diesen letzten Jahren gestaltete.

 
 
 

 


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