Meine Erfahrung mit Zigeunern (mit Sinti und Roma-Bezeichnungen habe ich Probleme, weil ich nie weiss welcher Gruppe derjenige angehört, von dem die Rede ist – früher wussten viele es selbst nicht oder es war ihnen egal. Sie waren stolz auf die Bezeichnung „Zigeuner“) begann im Studium in Würzburg, als wir noch die Welt retten wollten und in einem Stadtteil von Würzburg, den man heute Problemviertel nennen würde, mit Sozialarbeit begannen. Damals hiess es „Zupferviertel“, heute „Klein-Moskau“. Dort gab es überwiegend Kasernen mit Besatzungssoldaten, Sozialbauten und aus dem Betrieb genommene Kasernengebäude, in denen dann Menschen wohnten, Wasser und Klo auf dem Flur, es wurde nie saubergemacht. Dort lebten arme Familien, Frauen mit Kindern unterschiedlichster Couleur, die wiederum von den Soldaten lebten und verarmte alte Leute. Die weissen Soldaten nannte man die Zupfer (Baumwolle), die schwarzen Bimbos und die Zigeuner eben die Zigis. Es wohnten viele Zigis dort, seit Generationen sesshaft in Würzburg, sie unterschieden sich in nichts von den anderen Bewohnern und ihre Namen klangen sehr „deutsch“: Weiss, Lehmann, Winterstein, Herzberger, Grünblatt.
Wir richteten eine Vorschulgruppe ein für Kinder, die aus den öffentlichen Kindergärten wegen Verwahrlosung und Aggressivität hinausgeflogen waren, eine Hausaufgabenbetreuung und einen Jugendclub für die Älteren, bekamen Räume die wir erst renovieren mussten, finanziert von der Katholischen Hochschulgemeinde.
Die Zigis lebten überwiegend von Autohandel und -reparatur oder von Sozialhilfe, es gab vier grosse Clans, die sehr gefürchtet waren, auch über die Grenzen des Viertels hinaus. Wir Studenten waren als Helfer bekannt und respektiert, man konnte auch als Studentin unbehelligt nachts durch die Benzstrasse (genannt „Das Tal der langen Messer“) laufen; in den gutbürgerlichen Vierteln ging das für Mädels nicht immer gut aus.
Nachdem die Stadt sich geweigert hatte, einen dringend benötigten Zebrastreifen an der Kreuzung, an der unsere Vorschule lag, zu genehmigen malten wir in der Nacht selbst einen. Die Zigis standen Schmiere.
Die Elterngeneration der Zigis hatten das KZ – meist Dachau – überlebt. Ich arbeitete damals für die Stadtteilzeitung und hatte einmal zusammen mit einem Kommilitonen ein Interview mit dem alten Herzberger (Name geändert, die Nachfahren leben noch dort) über seine Vergangenheit durchgeführt. Ob er Roma oder Sinti war, wusste er selbst nicht, er wollte als Zigeuner bezeichnet werden. Auch er hatte Dachau überlebt. Es begann düster und traurig, aber nachdem seine Frau viertelstündlich eine Runde Slivowitz servierte wurde es zunehmend fröhlicher, am Ende sangen wir die Internationale und anderes Liedgut. Das Tape habe ich noch.
In Würzburg war es noch Usus, dass sich die Ehemaligen SS-Verbände regelmässig in einem Lokal in der Innenstadt trafen – dies wurde auch so in der Zeitung angekündigt (Mitglieder der 4. SS-Sturmtruppe treffen sich am … ). Immerhin 1977.
Herzbergers verfolgten dies aufmerksam und als es mal wieder soweit war, wurde Alarm geblasen und jeder männliche Zigi über 14 machte sich mit einem Knüppel unter der Jacke auf zum entsprechenden Lokal. Ich mit dem Fotoapparat hinterher. Es gab eine filmreife Prügelei, mit reichlich Prellungen und Blutergüssen, angeblich kam niemand ernsthaft zu Schaden. Ein wehrhaftes Volk.
In unserer Studentengruppe mussten wir uns dann mit unserer klammheimlichen Freude auseinandersetzen und ob man Gewalt befürworten darf, wenn sie die richtigen trifft.
Manchmal frage ich mich, wer mehr von unserer Arbeit profitiert hat: Die Kinder unserer Zielgruppe oder die braven Bürgerkinder unter den Studenten, die die dunkle Seite der Welt vielleicht sonst nie kennengelernt hätten. Zumindest sind sie dankbar dafür. Die Kinder lernten die hellere Seite kennen – wir nahmen sie mit in die Uni, unsere WGs, machten Wochenendausflüge mit Gitarre und Lagerfeuer, viele begleiteten wir jahrelang. Beim 25-jährigen Jubiläum sahen wir sie wieder als Erwachsene, uns fiel auf dass sie sprachlich wortgewandter und verbalisierungsfähiger waren, als man sonst vom „Prekariat“ gewöhnt ist. Den Arbeitskreis gibt es bis heute, also über 50 Jahre.
Da sitzt das Haustier, abgerichtet,
und es wird ihm klar:
Es gibt auch noch das andre
nicht versklavte Exemplar.
(F.J. Degenhardt, Zigeuner hinterm Haus des Sängers)