Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

2023 28 Jul

„Der Rausch“ von Thomas Vinterberg

von: Martina Weber Filed under: Blog | TB | 16 Comments

 

Anfang des Jahres hat Uschi hier etwas über den Film geschrieben. Nun läuft „Der Rausch“ von Thomas Vinterberg noch bis 1. August 22:49 Uhr in der ARD Mediathek. Hier ist der Link. Der Film (110 Minuten Länge) eignet sich sehr für einen Filmabend mit anschließender längerer Diskussion. Ursprünglich nur als kurzzeitiger Tipp geplant, bleibt dieser Eintrag wegen der vielen inspirierenden Kommentare dauerhaft stehen.

 

This entry was posted on Freitag, 28. Juli 2023 and is filed under "Blog". You can follow any responses to this entry with RSS 2.0. Both comments and pings are currently closed.

16 Comments

  1. Alex:

    Danke für den Tipp, Martina, den wollte ich mir sowieso mal angucken!

  2. Martina Weber:

    Freut mich, Alex! Mir ging es auch so, und die Mediathek war eine praktische Gelegenheit.

  3. ijb:

    Ich finde den weitaus besser, als einige in meinem Bekanntenkreis sagen. Ich hörte/las viel harte (bzw. ungerechtfertigte) Kritik an dem Film.

    Ich selbst habe gerade Dominik Grafs Kästner-Adaption „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ wiedergesehen; aktuell bei ARTE (Mediathek).

    Beim zweiten Mal bestätigt sich das Urteil, dass es einer der besten deutschen Filme der letzten Jahre ist. Streitbar, ja, eigenwillig auch, sehr, unkonventionell, sperrig… all das, ja, aber auch: Großartig.

  4. Martina Weber:

    Hier ist der Link zum Film von Dominik Graf …

    Welche harten Kritiken gab’s denn zu „Der Rausch“, Ingo? Ein paar Stichpunkte würden mich interessieren.

  5. Ursula Mayr:

    Habe den Film in der Gruppe gesehen – er erzeugte Abwehr wegen „Aufruf zu Suchtverhalten“ und dergleichen – wurde also eher sozialpädagogisch-moralisierend interpretiert, leider. Dabei hat er noch viele andere Potentiale.

  6. Martina Weber:

    Ich habe in dem Film keinen Aufruf zum Trinken von Alkohol gesehen, ganz im Gegenteil. Dazu zwei Bilder (Achtung, Spoiler):

    Bild 1: Als Martin, der Geschichtslehrer, in einem späteren Teil des Films seine Frau, die sich von ihm getrennt hat, nachmittags in einem Café trifft, bestellt sich diese ein Glas Weißwein. Das könnte für die Uhrzeit schon etwas erstaunlich sein, aber okay. Die Art und Weise jedoch, wie sie das Glas ansetzt und trinkt, deutet auf etwas hin, was im Film niemals ausgesprochen wird: Sie trinkt mehrere Schlücke in einem ziemlich großen Tempo. Ich dachte, das ist aber schnell, wie sie trinkt und später wurde mir klar, dass sie Alkoholikerin ist.

    Und ein zweites Bild, das Schlussbild: Gerade haben die Lehrer ihren Freund zu Grabe getragen (im wörtlichen Sinn), dann feiern sie mit den SchülerInnen deren Abitur, und wieder wird Alkohol getrunken. Im Schlussbild springt Martin im Rausch in die Luft, am Rand des Hafenbeckens. Dann stoppt das Bild und der Film ist vorbei. Martin springt hier jedoch in den Abgrund, in seinen Abgrund. Es wird nur nicht direkt gezeigt.

    In beiden Bildern spielt sich also etwas im Zuschauer ab, was nicht gezeigt wird.

    Wenn man den Film schaut, hat man vielleicht irgendwann Lust, etwas Alkohol zu trinken, aber ab einem bestimmten Zeitpunkt vergeht einem diese Lust vollkommen.

  7. ijb:

    Ich müsste jetzt auf Recherche gehen, um die negativen Kritiken zu suchen…

    Ich habe aber von mehreren gehört/gelesen, dass sie „Der Rausch“ sehr „konstruiert“, „komplett vorhersehbar“ und „unauthentisch“ fanden, mehrere sagten, es sei kein besonders guter Film, „die Moral der Geschichte entweder zu simpel oder zweifelhaft“, „die filmischen Mittel kümmerliche Überreste der Dogma95-Zeit“. Solche Sachen.

    Ich kann keinem dieser Kritikpunkte zustimmen.

    Von dem Film hatte ich mir ehrlich gesagt nicht allzu viel versprochen, aber auch hier war ich echt beeindruckt, was für ein souveräner Regisseur Vinterberg ist. Ich hatte seit seinem Debüt vor 25 Jahren keinen weiteren Film von ihm gesehen. Den „Oscar“ für den „besten Film“ und die Regie-Nominierung gab’s hier wirklich voll zu Recht; das hätte ich so nicht erwartet, auch wenn ich selbstredend verstehen kann, dass man den nicht so wahnsinnig interessant findet. Ich glaube, es ist ein eigenartiger Film, der sich einerseits auf emotionaler Ebene klug an ein breites Publikum richtet, andererseits aber auch einer für „Nerds“ wie mich, die einfach davon begeistert sind, wie großartig man Regie führen kann; das ist einfach so souverän und ohne Anbiederung (ohne „Angeberei“).

  8. Olaf Westfeld:

    Danke für den Hinweis, auch wenn ich es nicht mehr schaffe, den Film zu schauen. Ich umkreise „Der Rausch“ schon länger… hatte auch glaube ich damals schon unter Uschis Text geschrieben, dass ich sehr zögere, mir einen Film über Lehrer anzuschauen – erfahre doch bei Zuschauen gerne etwas über andere Leben und Realitäten.

  9. Martina Weber:

    Dass die vier Männer, die „das Experiment“ durchführen, Lehrer sind, ist nicht zwingend. Es könnte auch eine andere Branche sein. Sie könnten auch verschiedene Berufe haben, aber für den Plot war es praktisch, dass sie denselben Arbeitsplatz haben, und dass sie Macht über andere haben (über die Schülerinnen und Schüler). Der Film ist vielschichtig, hat zahlreiche Ebenen. Es geht nicht zuletzt auch um das Thema Midlifecrises. Auf jeden Fall kann man hier etwas über andere Leben und Realitäten erleben.

    Kürzlich habe ich auf meinen alten Videokassetten meiner Kurzfilmsammlung nochmal ein Interview mit Thomas Vinterberg angesehen, ein Interview, das mich schon damals sehr fasziniert hat. Bei „Kurzschluss“ auf ARTE gab/gibt (?) es ein Rubrik, in der FilmemacherInnen über ihren ersten Film erzählen: „La prèmiere fois“. In einem Interview vor mehr als zehn Jahren sagte Thomas Vinterberg etwa Folgendes:

    Als Jugendlicher wollte er Rockgitarrist werden. Irgendwann übten seine Freunde mehr als er, und er fiel zurück. Mit 16 fing er „aus Zufall“ an, Filme zu drehen und er merkte, dass es ihm viel Spaß machte. Das soziale Element spielte dabei eine wichtige Rolle für ihn. Er selbst bezeichnet sich als schüchternen, empfindsamen Menschen, der sich anderen gegenüber nicht so leicht mitteilen kann.

    Deshalb interessiert es ihn, in seinen Filmen Momente menschlicher Schwäche zu zeigen. Die Verletzlichkeit in den Augen der Darsteller. „Das ist es, was ich verstehe, und worum ich bemüht bin. Mit 16 versuchte ich, einen Kurzfilm zu drehen. Der Film wurde nie fertig.“

    Er erzählte dann von seinem ersten Kurzfilm an der Filmhochschule. Ihm schwirrte der Kopf von all den Dingen, die er gelernt hatte und nun umsetzen musste. Er hatte den Ehrgeiz, diesen Film ganz professionell zu machen. Es fiel ihm jedoch sehr schwer. Ein paar Wochen vor dem Dreh sagte er sich, scheiß drauf, ich schreibe die Geschichte um, so, wie sie mir gefällt, und drehe sie mit der Handkamera. Niemand filmte in der Zeit mit der Handkamera.

    Und hier Thomas Vinterbergs Schlussstatement in diesem Interview: „Der Film [er spricht hier von seinem ersten Kurzfilm an der Filmhochschule] ist aus Freude und Leidenschaft entstanden; er ist nicht das Ergebnis einer professiolennen und ehrgeizigen Herangehensweise. In diesem Moment wurde mir klar, dass man als Filmemacher nicht schlau, professionell oder rational sein muss. Man muss sich gehen lassen, sich hinauswagen aufs dünne Eis, Risiken eingehen und radikal sein. Jedenfalls sehe ich das so.“

  10. Jochen:

    [werde mir den film auf dvd besorgen, in dänisch mit deutschen untertiteln – synchronisationen sind inzwischen ein absolutes no go]

  11. Martina Weber:

    :)

    Man merkt schon bei Filmen auf Englisch, dass die Sprache ganz anders funktioniert als Deutsch.

    Und auch bei Sprachen, die wir nicht oder nur ein bisschen verstehen, überträgt sich dennoch etwas, wenn wir sie im Original schauen/hören. Das Temperament. Die Satzmelodie. Die Stimmung.

    Ich hatte vor Jahren ein paar Filme von Tarkowski auf Russisch mit Untertiteln geschaut. Kürzlich habe ich die Parallelmütter von Almodóvar auf Spanisch mit deutschen Untertiteln gesehen. Und gerade einen auf Italienisch: „Rocco und seine Brüder“ (ein Tipp aus dem Yogabuch von Emmanuel Carrère) und einen auf Französich „Nur die Sonne war Zeuge“, beide mit dem jungen Alain Delon. Man fühlt sich im anderen Land.

  12. Olaf Westfeld:

    „Nur die Sonne war Zeuge“ hat mich sehr beeindruckt, als ich ihn gesehen habe – vor Ewigkeiten.

    Ich wage mich irgendwann nochmal an „Das Fest“ – aber jetzt schaffe ich es nicht mehr, leider …

  13. ijb:

    Ich schaue eigentlich seit 30 Jahren Filme konsequent in den Originalfassungen, ganz ganz selten mal (in Ausnahmefällen, oder auch wenn ich einen Film schon mal gesehen habe) in deutscher Sychronfassungen.

    Daher finde ich die allermeisten deutschen Synchronfassungen extrem schwer zu ertragen. Es wird einfach alles total artifiziell durch das theaterhafte, sehr saubere Hochdeutsch, wobei dann auch noch die komplette übrige Tonebene so weit in den Hintergrund gemischt wird, dass es zur Künstlichkeit und Distanziertheit nur weiter beiträgt.

    Der letzte Film, den ich deutsch synchronisiert gesehen habe, im Kino, war „Die Frau im Nebel“ (Original- bzw. internationaler Titel „Decision to leave“), und da der Film ohnehin extrem artifiziell daherkommt, war das hier nicht ganz so schlimm; dennoch immer sehr skurril, wenn eine komplette asiatisch aussehende Welt in astreinem Theaterhochdeutsch spricht …

    Mittlerweile bin ich der Meinung, dass, selbst wenn man bei einem (guten) englischsprachigen Film nur zwei Drittel versteht, der Gewinn ungemein größer ist als der Verlust an den künstlerischen Qualitäten, der sich durch eine deutsche Synchro einstellt. Bei wirklich guten, also wirklich mit filmischen Mitteln erzählen Filmen erzählt sich das Wesentliche nicht in Worten, sondern in der komplexen Summe aus Bild und Ton. (Das Gesamtbild ist mehr als die Summe der Einzelteile. – Bei schlechten Filmen oft andersrum.)

    Gerade hab ich z.B. „Oppenheimer“ gesehen, und der ist echt nicht leicht zu verstehen, weil extrem(!) dialoglastig, und ganz viel Inhalt wird über Dialoge erzählt; wenn man aber weiß, wie die Filme von Christopher Nolan durch deutsche Synchronfassung verändert werden, ist es mir Wert, dann lieber manches nicht zu „verstehen“. Dann schau ich einen Film lieber ein zweites Mal an.

    Ich hab auch schon Filme auf französisch oder norwegisch gesehen, ohne deutsche Untertitel. Und dennoch versteht man, wenn es gut erzählt ist, das Wesentliche.

  14. Martina Weber:

    Ja, wahrscheinlich versteht man es, auch wenn man zwischendurch vielleicht den Faden etwas verliert, wenn eine Information aus dem Gespräch sich als wichtig für einen dramaturgischen Zwischenschritt herausstellt.

    Und bei sehr wortlastigen Filmen kann es anstrengend werden. Ich habe zum Beispiel vor längerer Zeit von Chris Marker „Level Five“ gesehen. Den Film habe ich hier auf DVD mit der Sprachspur „Französisch mit englischen Untertiteln“ und tatsächlich hatte ich beide Male bei der Mischung aus Zuhören und Zuschauen Kopfschmerzen bekommen… was eine Seltenheit ist bei mir.

    @ Olaf: „Nur die Sonne war Zeuge“. Ich habe kürzlich entdeckt, dass es alle 100 Lieblingsfilme der Kinoredaktion der Süddeutschen Zeitung (auch schon länger her, dass diese Sammlung rauskam) hier in der Unibibliothek im normalen Ausleihprogramm gibt. So kam ich dann auf „Nur die Sonne war Zeuge“. Leider stand auf der Rückseite der CD-Hülle viel zu viel an Information, was die Spannungskurve etwas abgeflaut hat. Der Schluss war dann aber doch überraschend, jedenfalls die Art und Weise der Aufdeckung. Der Film stammt aus der Zeit, in der man noch während des Frühstücks mal schnell das Foto aus dem Pass austauschen und eine andere Identität annehmen konnte. Es erinnerte mich an „The Reporter“ von Antonioni. Vor ein paar Jahren habe ich hier darüber geschrieben

  15. Jochen:

    Ein Phänomen: bei vielen Serien (ich schaue kaum noch Filme) vermittelt sich die Handlung nahezu komplett über das schauspielerisch und szenisch Dargebotene (Martina und Ingo benannten oben Wesentliches dazu). Auch wenn man die Sprache (in Teilen) nicht versteht, kriegt man vieles mit.

    Das slang– und dialoglastige Succession beispielsweise ist optisch und szenisch so gut, dass Untertitel hier stören würden: Mimik, Gestik, venues und Kamerabewegungen vom Feinsten. Allein der sound der Sprache reicht, man muss sie nicht (gänzlich) verstehen. Was Roman Roy (der jüngste Spross der Mediendynastie) veranstaltet, ist obszöner poetry slam, der nur als Sprachklang wirkt und schriftlich kaum abzubilden ist.

    Manchmal aber sind deutsche oder englische Untertitel durchaus besser. Letztere haben den Vorteil, dass die Irritation der Zweisprachigkeit entfällt. Zudem erkennt man das Gesprochene zusätzlich in der Schrift – bei regionalem Dialekt mitunter hilfreich.

    Eine Serie wie Mad Men (wenn ich mich recht erinnere) wäre wohl mit Untertiteln zu empfehlen, da hier Teile der Handlung grossenteils dialogisch dargestellt werden (man denke etwa an die zahlreichen, fast statisch und steif anmutenden Büroszenen).

    Generell gilt: in der Originalfassung sind die Dialoge immer in die natürliche und ursprüngliche Umgebungsakustik eingebettet, hingegen findet bei der Synchronisation eine künstliche und befremdliche Überlagerung zum umgebenden Geschehen statt.

    PS. Das Label ECM brachte mal die Klangkulisse eines Filmes als Doppel-Cd heraus (Nouvelle Vague / Jean-Luc Godard). Hätte man da was synchronisiert, es wäre ein schlechter Witz gewesen. Sagt eigentlich alles. Die Welt ist Klang, auch im Film.

  16. Alex:

    Ich habe ihn jetzt gesehen, schlecht ist er nicht, aber gut auch nicht. Dabei meine ich den Inhalt, nicht die Schauspieler, die machen ihren Job sehr gut. Mir fehlen hier mindestens drei negative Begleiterscheinungen vom Saufen, die quasi nicht vorkommen. Zum einen das Kotzen, das spätestens bei dem Totalbesäufnis hätte stattfinden müssen. Dann der Filmriss, dem man ebenfalls kaum entkommt ab einem gewissen Pegel. Und zuletzt der Kater, der kurz gestreift wird, als Martins Frau ihm nach dem großen Besäufnis das Ende der Beziehung eröffnet. Aber das unterbelichtet das Phänomen Kater vollkommen. Weil jede Rauschperiode mit einer um ein Vielfaches längeren Periode mit Kater einhergeht, das zu unterschlagen macht den Film vollkommen unrealistisch. Und ich muss leider den „Tugendwächtern“ recht geben, dass Alkoholkonsum hier völlig verharmlost wird. Allein schon das Ende ist sowas von naiv, der beschwingte Tanz geradezu blauäugig blöd. Da fehlt mir völlig die Ambivalenz. Es muss ja nicht gleich ein Delirium Tremens gezeigt werden, aber, dass das slapstickhafte Ins-Bett-Pinkeln von Nikolaj so ziemlich die negativste körperliche Reaktion ist, die überhaupt vorkommt, spricht Bände. Dass in einem Film übers Saufen die Protagonisten dauernd Gläser in der Hand halten, um sie runterzukippen, ist wahrscheinlich nur schwer zu verhindern, aber es nervt auch: wer guckt schon gerne Leuten zu, die sich besaufen, ohne mit von der Partie zu sein. Das ist eine Art von Masochismus, die mich nicht weiterbringt, viel weniger als ein richtiges Saufgelage.
     


Manafonistas | Impressum | Kontakt | Datenschutz