Da liegt dieser Klotz nun also vor mir: Ferne Ziele, ein Coffeetable-Buch mit fast 800 Seiten. Man muss es tatsächlich vor sich auf den Tisch legen, das Buch ist zu schwergewichtig, um es über längere Zeit zum Lesen in der Hand zu halten.
Schwergewichtig ist dieses Werk aber nicht nur physisch. Bernd Kistenmacher, geb. 1960, gehört zur „Zweiten Generation“ der Musiker, die gemeinhin der „Berliner Schule für elektronische Musik“ zugerechnet werden. Die Erste Generation kennen wir noch alle: Tangerine Dream, Klaus Schulze, Manuel Göttsching, Ash Ra Tempel, Agitation Free, Mythos und ein paar weitere. Auch Bernds eigene Karriere reicht schon weit zurück, man kennt ihn nicht nur als Musiker, sondern auch als Labelbetreiber, als Instrumententester für Fachzeitschriften und auch als Videoblogger. Im Dezember 2020 enthüllte er eine von ihm und dem Filmkomponisten Hans Zimmer gestiftete Gedenktafel für das Berliner „Beat-Studio“, in dem die „Berliner Schule“ ihren Ursprung hatte.
Ferne Ziele ist Kistenmachers erstes Buch, und was für eines! Jahre der Recherche und der Interviews finden hier ihren Niederschlag. Nach ein paar autobiografischen Seiten über Bernds Kindheit und Jugend im damaligen West-Berlin beschreibt er, wie seine Liebe zur elektronischen Musik erwachte — mit Kraftwerks „Ruckzuck“, na klar, und später dann Klaus Schulzes „Floating“ von der LP Moondawn, unglaublicherweise gespielt im SFB (vom NDR kannten wir sowas in der norddeutschen Tiefebene nicht) — und dann war nichts mehr zu retten, Bernd war verloren.
Gut so. Denn diese Liebe gab und gibt ihm die Möglichkeit, alle möglichen Leute, die zur Berliner Schule beigetragen haben, zu kennen und zu befragen — nicht weniger als 16 an der Zahl. Es wird die Geschichte des Beat-Studios geschildert, das unter der Federführung des Schweizer Komponisten Thomas Kessler im Keller einer Berliner Schule den Start dieser Sparte elektronischer Musik erst möglich machte. Die Rundfunkleute Winfrid Trenkler, Olaf Leitner und Walter Bachauer werden portraitiert. Man erfährt, was ein Synthesizer damals war, woher sie kamen, welche Ingenieure und Techniker daran mitgewirkt haben, diese Instrumente zu verändern, bühnentauglich zu machen oder weiterzuentwickeln, Toningenieure, die ihre Kunst einsetzten, das Ganze in hörbares Vinyl zu bannen — Dieter Dierks, Eberhard Panne, Wolfgang Palm seien hier nur als drei Beispiele genannt.
Das alles liest sich sehr lebendig, wenngleich man sich insbesondere bei den Interviews gelegentlich eine redigierende Hand gewünscht hätte. Das ist aber auch schon so ziemlich alles, was es an Ferne Ziele auszusetzen gibt. Ich kenne kein vergleichbares Werk.
Das Buch sollte prinzipiell in jeder Buchhandlung zu bekommen sein, in jedem Fall aber HIER bei Bernd Kistenmacher selbst.
Bernd Kistenmacher:
Ferne Ziele – Geschichten über die Berliner Schule für elektronische Musik
788 Seiten
ISBN 978-3-00-075096-0
Kleine Offenlegung: Das Buch enthält ein Kapitel, das aus meinem Buch Der Sound der Jahre übernommen ist. Ich bin an den Verkäufen von Ferne Ziele aber nicht beteiligt.