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2023 26 Jun

Schauder und Idylle

von: Ursula Mayr Filed under: Blog | TB | 11 Comments

 

 

 

Die Welle (D, 2008) von Dennis Gansel
nach dem gleichnamigen Roman von Morton Rhue , 1981
basierend auf einer wahren Begebenheit in den USA

 

Es gibt Filme, die ersparen einem eine 4-wöchige Selbsterfahrungsgruppe, indem sie ein Übertragungsgeschehen in uns wachrufen, das uns mit neuen Nebenräumen des eigenen Kellergeschoßes konfrontiert, in dem auch mal dringend abgestaubt werden sollte. Man verlässt dann das Kino reichlich erschüttert – letztlich am meisten über sich selbst. Auch das ein Kriterium für einen guten Film.

Der Film Die Welle handelt von der Unternehmung eines progressiven, aber auch etwas naiven Lehrers, mit seiner Klasse eine Projektwoche zum Thema „Autokratie“ durchzuführen. Der Lehrer – ein grandioser Jürgen Vogel – ernennt sich selbst zum Autokrator, die Klasse zu seiner Gefolgschaft. Es wird Uniformierung vereinbart, eine Begrüssung durch Handzeichen, Gehorsam. Dann bekommen die Schüler beigebracht im Gleichschritt auf der Stelle zu marschieren – die Schule erbebt. „So kann man Brücken zum Einsturz bringen!“.

The first impact has landed – in den Zuschauerraum weht ein Schauder – aber nicht von der negativen Art, nein – sondern von der Macht eines gleichgeschalteten Kollektivs und seiner Durchschlagskraft. Und ja, auch von der Geborgenheit unter Gleichgesinnten und ihrer Verführung. Es entsteht ein „Wir“ wo vorher viele smartphonehypnotisierte „Ichs“ waren. Das springt rasch in den Zuschauerraum über.

Einen ähnlichen Impact konnte ich bei der ikonischen Szene aus Cabaret beobachten, als eine friedliche Biergartengesellschaft ihren Nachmittag geniesst, ein blonder Junge glockenhell und nett anzusehen „Tomorrow belongs to me“ singt, die übrigen Gäste mit einstimmen, die Gesichter sich aber zunehmend aggressiv verzerren und am Ende alle aufstehen und den deutschen Gruss entbieten. Schauder und Idylle – hier mehr Schauder, in der „Welle“ zuerst noch Idylle. Die Klasse, zuvor in die üblichen Interessen-Grüppchen zersplittert, man ist en vogue und weniger en vogue, schliesst sich in einer ungewohnten Einigkeit zusammen, bisherige Outsider werden integriert und gestützt, dem „Autokraten“ wird Gehorsam gezollt. Es macht sich eine Form von Solidarität breit, die auch den Zuschauer aufatmen lässt, der um die Folgen von Autokratien weiss. Aber der Verstand ist ein Idiot, sobald ihn ein Gefühl anspringt. Man suhlt sich also mit im Gemeinschaftsleben, in dem alles zusammen getragen und ertragen wird.

Aber auch Brüche und Verwerfungen werden gezeigt: Unterschwellige Rivalitäten machen sich breit unter den testosterongebeutelten Jungs, während die Mädels besonnener bleiben: eine Rauferei im Schwimmbad unter Wasser – metaphorisch für zunehmende Aggression unterhalb der Wahrnehmungsschwelle; ein türkischer Mitschüler wird attackiert. Die Klasse kreiert sich ein Logo, drängt zunehmend an die Öffentlichkeit auf der Suche nach mehr Geltung. Ein Anfang, wie wir ihn aus der Geschichte bereits kennen.

Das Misstrauen einer kleineren Gruppe von Schülern gegen das Experiment wächst, die zunehmende Abgrenzung nach Außen, der Kadavergehorsam und die Gewaltbereitschaft beunruhigt einige, es entwickelt sich eine Widerstandsbewegung. Diese sensibilisiert uns in einer Art, dass wir nun auch die Gefahr wittern, die die Idylle zunehmend durchtränkt. Flugblätter werden geschrieben. Eine Szene, in der eine Schülerin nachts in der Schule Flugblätter auslegen will und Angst vor Entdeckung hat, zitiert das Sophie-Scholl-Motiv und wirft den Zuschauer in einen Zustand quälender Ambivalenz, der die Idylle nicht verlassen will. Plötzlich ist man gegen Sophie Scholl eingenommen, als hätte sie etwas Wertvolles zerstört.

Schliesslich scheitert das Experiment dramatisch, der Lehrer wird festgenommen und kann sich nun an einem ruhigen Ort mit seinen eigenen Seelenräumen auseinandersetzen. Und seiner Unkenntnis über das Schicksal des Zauberlehrlings und der Unterschätzung der destruktiven Kraft von fehlgeleiteter Autoritäts- und Vatersehnsucht seiner Schüler in einer vaterlosen Gesellschaft. Den hätte ich nur zu gern auf der Couch gehabt …

Zurück bleibt eine traumatisierte Klasse und ein sekundär traumatisierter Zuschauer. Was hat man erlebt? Den Sog des diktatorischen Faschismus und sein Geschick, Idyllen zu inszenieren.

Der Titel zu diesem Beitrag ist geklaut, es ist der Titel eines Buches von Gudrun Brockhaus (Jahrgang 1947), die darin viel selbsterlebte Idyllen, Volkslieder, Lagerfeuerromantik, Gemeinschaftsschauder, Mutterschaftsidealisierung ihrer Kindheit analysiert, und immerzu mit dem eigenen Erleben verknüpft.

 

 

 

 

Der Faschismus und seine Ästhetik ist weiterhin ein Marktfaktor, vor allem in der Comicwelt und Populärkultur. Natürlich sind die Faschisten die bösen Gegner, aber die Heroisierung als Teilmenge der faschistischen Idyllenreinszenierung findet trotzdem statt.

 

 

 

 

Sozusagen das zweite Leben des Dritten Reichs, wenn nicht gar schon das dritte. Das zweite fand dann wohl statt in der Filmproduktion des kalten Krieges, dem geopolitischen Zusammenschluss mit den USA und der zunehmenden Wiederaufrüstung Deutschlands, als der latente Faschismus die Filmproduktionen diskret durchwebte und umschlich: „Ein Jäger ist ein Heger, der das Schwache und Kranke ausmerzt damit das Gesunde erstarken kann!“ schwurbelte damals der Förster vom Silberwald. Das sass so tief, da musste ein Regisseur noch nicht mal besonders dämlich sein, um dergleichen 1954 flott in sein Kunstwerk einzubauen. Von der brutalen Germanisierung und Christianisierung der Indigenen durch einen gewissen Karl May jetzt mal gar nicht zu reden, da waren die Überlebenschancen eines Indianers direkt proportional zu der Angleichung an das Wertesystem des weissen Bruders Scharlih, oder zumindest musste er dahingehend modifizierbar sein; ein Old Shatterhand-look-alike-Rattenrennen in jeder Folge sozusagen – aber ich schweife ab.

 

 

 

 

Faschistische Ikonik, eine Gemengelage aus Wiederentdeckung, Verdrängung, Modifikation und Stellungnahme mit teils unscharf gezeichneten Rändern, aber auf jeden Fall höllisch interessant für viele. Monumental, überwältigend und mörderisch steckt sie auch in Star Wars; Darth Vader trägt nicht umsonst einen Stahlhelm, dem traut man zu, dass er zum totalen Krieg bläst. Der Schatten der westlichen Demokratie im jungianischen Sinne sieht für mich so aus, zumindest fällt mir Vader da immer als erstes ein.

Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen.

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11 Comments

  1. Ursula Mayr:

    Schon nett, wie wir unsere Synchronizität mit dem Aufräumen wieder hingekriegt haben.

  2. 🖤🔊🪝😉:

    https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/milgram-experimente/9737

    Vgl.: Peter Gabriel: We do as we’re told (Milgram’s 37)

  3. Martina Weber:

    Wie schön, dass du über einen Film geschrieben hast, den ich mindestens zwei Mal gesehen habe, und zuletzt erst vor ein paar Monaten im Rahmen der Aktion, die alten Videokassetten mal wieder anzusehen. Ja, erschreckend und erstaunlich, wie schnell die Muster da waren. Ob es wirklich so möglich wäre?
    Spürbar war auch, dass der Film einige Jahre alt ist, immerhin 15 Jahre. Die Rollen der Teenager-Mädchen würden heutzutage durchs Raster der political correctness fallen. Die waren zu schwach, im Vergleich zu den Jungs.

  4. Alex:

    Ich erinnere mich an den Trailer (den ich vor einem anderen Film im Kino sah, keine Ahnung welchem), der mir so halb Lust auf den Film machte. Den ich dann nie gesehen habe. Ich hätte jetzt gesagt, dass das evtl. 5 Jahre her ist.

  5. Ursula Mayr:

    Der Film basiert auf einer wahren Begebenheit in einer High School in Palo Alto.

  6. Jochen:

    „Aber der Verstand ist ein Idiot, sobald ihn ein Gefühl anspringt.“

    Ein Satz zum Einrahmen und über den Schreibtisch hängen …

  7. Alex:

    Ist Liebe also Idiotie? Ich glaube, in der Verallgemeinerung ist der Satz schwer zu halten. Denn Vernunft und Gefühl können sehr wohl gut miteinander auskommen. Die Ahnung, das Bauchgefühl kann den kruden Verstand gut ergänzen. Ist das Problem nicht eher die Gruppendynamik, der Druck, den die Masse, die Mehrheit ausübt? Wenn es jetzt noch jemanden gibt, der die Masse zu manipulieren versteht, und es ausnutzt, immer dann gibt es ein Problem. Das ist auch immer „schön“ zu beobachten bei vielen Sekten. Auch da gibt es eine Führerfigur.

  8. Ursula Mayr:

    Ich sagte der Verstand ist ein Idiot, nicht das Gefühl, ein Gefühl ist nicht idiotisch – ein Gefühl ist ein Gefühl und von daher erst einmal wertfrei.

    Ich spreche von dem Effekt, den jeder kennt, dass man etwas tut, obwohl der Verstand davon abrät, also es nicht schafft, den Besitzer davon zu überzeugen, was richtiger wäre. Im Gegenteil: dann noch umschwenkt und gute Gründe dafür findet, das doch zu tun, obwohl die Klugheit dagegen spricht.

    Gut bei der Partnerwahl zu beobachten, oder bei Menschen, die in qualvollen Beziehungen verbleiben und darin krank werden. Oder solche, die dutzendmal die Herdplatten kontrollieren müssen, obwohl sie genau wissen, dass die ausgeknipst sind. Da macht der Verstand oft eine verdammt klägliche Figur.

    Sprechen wir also nicht von Idiotie – ausser für Jochen, der sich’s gerade über den Schreibtisch hängt – sondern von Ohnmacht.

  9. Alex:

    Dass der Verstand schlussendlich, wenn es drauf ankommt, ohnmächtig gegenüber dem Gefühl ist, keine Chance gegen die Emotion hat, das ist in der Tat eine Aussage, der auch ich beipflichten kann. Genau das ist wahrscheinlich das größte Problem der Spezies Mensch. Die andere Formulierung spitzt mir zu stark zu und wertet mir auch zuviel.

  10. Jan Reetze:

    Auch interessant übrigens: Die Biergartenszene aus Cabaret, die präziser als so manche soziologische Studie zeigt, wie sich die Nazis im Volk verankert haben, war bei der deutschen Uraufführung des Films nicht dabei. Der Verleih hatte sie herausgeschnitten. Offenbar sah man sie also selbst 1972 noch nicht als zumutbar an.

  11. Ursula Mayr:

    Danke, das ist interessant zu wissen, wenn ich den Film nächstesmal zeige.


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