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2023 19 Jun

„Enys Men“ (Mark Jenkin, 2022)

von: Ursula Mayr Filed under: Blog | TB | 2 Comments

 

Ist dieser Film „ein unheimliches Prosa-Gedicht über die Einsamkeit“? Ich habe ihn gestern in völliger Dunkelheit gesehen, auf grosser Leinwand, was dem Zugang und Erleben sicher nicht abträglich ist. Für Uschis psychoanalytisches Filmseminar wäre er wohl ein gefundenes Fressen. Safe Journey!

Peter Bradshaw vermerkt dazu, und das möge als Einstimmung genügen: „Der Film selbst fühlt sich an wie ein hartes, schrumpeliges, verwittertes Objekt, wie die, die man auf der Leinwand sieht. Lange Strecken vergehen völlig wortlos, mit Umgebungsgeräuschen von Meeresspritzern und Nahaufnahmen von Steinen oder Tassen oder dem Zifferblatt des alten Funkgeräts, mit dem der Kontakt zur Außenwelt aufrechterhalten wird. Enys Men ist in kräftigen, satten Farben gedreht und sieht aus, als wäre er in dem Jahr gedreht worden, in dem er spielt: 1973.“  (m.e.)

 

 

 

 

Ein Frau arbeitet isoliert auf einer einsamen Insel für den „Wildlife Trust“, beobachtet eine Blume beim Wachsen, führt darüber Protokoll, ist die meiste Zeit damit beschäftigt ihren widerspenstigen Generator zu starten, hört ihrem Transistorradio zu und liest abends im Bett „A Blueprint for Survival“. In ihrer Vereinsamung kommt es zu einer Lockerung der Realitätsschranke, zu beunruhigenden optischen und akustischen Wahrnehmungsphänomenen. Das ist soweit nicht neu, und viele Blüten des Horrorgenres oder der „Haunted-House-Filme“ arbeiten mit diesem Motiv; von inspiriert bis platt. Ein isolierter Mensch ist bestrebt eine objektlose Umwelt mit Objekten zu füllen, wie wir es aus Deprivationsexperimenten kennen: er betet, meditiert, denkt an seine Lieben und führt Gespräche mit ihnen, bei längerdauernder Isolierung entgleitet dieser Prozess der Steuerung, und die Innenwelt begegnet ihm im Aussen in freundlicher oder bedrohlicher Art. Eine Gelegenheit, die eigenen Gespenster zu begrüssen und sich neu kennenzulernen für die, die mutig genug sind und nicht alles im Aussen verortet wissen wollen wo es gut verstaut ist.

So weit, so gut!

Dieser Film ist nun aber – genau wie seine etwas rätselhaft bleibende Protagonistin – spröder und sperriger, die Umwelt und die Phänomene geheimnisvoller und nicht leicht deutbar, keine unerlösten Geister und Träger von bösen Geheimnissen, sondern eine Welt voller rätselhafter Zeichen und Hinweise ohne klaren Bezug zueinander, in der die Wissenschaftlerin herumirrt. Eine steinerne Skulptur auf dem Berg erinnert offenbar an verstorbene Kinder oder auch anderes.

Die Wissenschaftlerin selbst verhält sich desgleichen rätselhaft – nach jedem Gang zu ihren Blumen wirft sie einen weissen Stein in einen tiefen schwarzen Schacht und lauscht auf das Aufschlagen. In ihrem Protokoll steht lange Zeit „no change“, die Zeit scheint stillzustehen. Der Film bedient sich nicht eines platten Symbolismus, dessen Zeichen wir enträtseln könnten, sondern er belässt uns – und das ist seine Stärke – in einem Zustand der Sinn- und Zusammenhanglosigkeit.

Was bedeutet die oft eingesetzte Farbe Rot auf dem Hintergrund einer eher fahlen Natur? Warum ist der Anorak rot, der Generator, der Benzinkanister? Sie sorgen für Wärme, okay, aber warum dann die eingeblendeten roten Schnürsenkel? Was war mit den 7 Frauen, die herumgeistern? Dem Priester mit dem Baby, der für die Rettung eines Seemanns beten lässt? Man irrt umher, friert innerlich, und versteht nicht, ebenso wie die Frau auf der Leinwand.

Das Ganze erinnert an das Buch des Analytikers André Green über die „Tote Mutter“. Eine Mutter, die nicht tot ist sondern in einer schweren Depression verfangen, traumatisiert oder anderweitig in einer Situation, in der sie ihr Kind zwar versorgen, aber keinen emotionalen Rapport zu ihm herstellen, und seine Annäherungsversuche nicht beantworten kann. Diese Kinder erleben eine überwältigende Leere und Sinnlosigkeit, ein Auf-Sich-Zurückgeworfensein, nachdem sie sich vorher vergeblich damit erschöpft haben, die Mutter aufzumuntern und zu beleben.

Was macht es für einen Sinn, ein Bauklötzchen in den Raum zu werfen, wenn es niemand zurückbringt und ein fröhliches beziehungsstiftendes Spiel daraus entsteht oder ein beruhigendes Ritual? Und daraus Lebensfreude erwächst. Was macht das bei Kleinkindern so beliebte Gugu – dada – Spiel für einen Sinn, wenn niemand da ist, der die Angstspannung beim Verschwinden mitempfindet und die beidseitige Freude beim Wiedersehen?

Ein lebendiges Gefühlsleben kann nicht entstehen, stattdessen eine „Krypta im Ich“, eine Identifikation mit einer Mutter, die keine Lebendigkeit erträgt und weitergibt – es werden immer seltener Steine in den schwarzen Schacht geworfen und auf das Aufschlagen gelauscht, um sich zu vergewissern, dass er nicht grundlos sondern doch noch irgendwie endlich ist. Und die Zeit steht still in den immergleichen vergeblichen Abläufen. Ein junges Mädchen mit erstarrtem Gesicht stürzt sich vom Dach und erleidet eine schwere Verletzung, die Frau hat eine Narbe an derselben Stelle, zum erstenmal blitzt ein Zusammenhang auf.

Das Jemand-Erreichen-Können ist bei diesen Kindern ein zentrales Thema („Ich werf den Ball jetzt bis nach Afrika, dann schauen wir ob er zurückkommt!“ „Schau mal – die Schnur! Meinst Du, die reicht von hier bis zu mir nach Hause?“ ). Gerne wird auch etwas Eigenes in der Praxis zurückgelassen, ein Püppchen, das ich zwischenzeitlich versorgen muss, damit der Faden zwischen uns nicht reisst. Verbindung, Verbindung, diese Kinder hungern danach. Verbindung lässt einen die Welt und sich selbst kennenlernen und verstehen, lässt Lebensfreude entstehen. Die Statue auf dem Hügel bleibt versteinert und erstarrt, auch wenn sie zwischenzeitlich kurz verschwunden ist. Auch nicht zu enträtseln.

Die weissen Blumen, die die Protagonistin bewacht, strecken schliesslich doch ihre Fruchtstempel aus (rot!), bereit zum Kontakt, zu einer Befruchtung; aber schon legt sich wieder eine weisse Flechte wie Schimmel über die Blütenblätter. Wird sie sie töten? Haben sie umsonst die Arme ausgestreckt?

Im Haus ertönen die üblichen rhythmischen Geräusche, zum erstenmal schwingt sich die Frau ein, tritt im gleichen Rhythmus auf den Boden, eine Verbindung ist nun zum erstenmal hergestellt. Die toten Mädchen erscheinen und nehmen den Marschrhythmus auf.

Eine Blume bleibt frei von Schimmel – sie wird gepflückt und woanders untergebracht, die Wissenschaftlerin wirkt hoffnungsvoller und entspannter, die Lieder enthalten Versöhnungsmotive. Ein Priester singt ein Lied über einen Seemann in Not, würdigt aber das Baby in seinem Arm keines Blickes. Er scheint etwas anderes zu betrauern.

Die Natur erblüht (rot!), eine Nacktschnecke entrollt sich, streckt die Fühler aus und wittert die Welt. Die Statue leuchtet rötlich in der Abendsonne. Die Frau lächelt.

So kann der Subtext des Filmes gelesen werden als Reise in eine erstarrte ,zerstörte und von allem abgetrennte Innenwelt, die belebt werden muss damit der Mensch überleben kann.

Ein zehnjähriges Mädchen, das in einem solchen Zustand war, spielte am liebsten mit mir „Eismann“ (oder bo-frost): Der Eismann brachte die dringend benötigte Nahrung, grinste, aber sprach nicht. Oder Doktor: Sie behandelte als grinsender, sprachloser Arzt die Patientin – mein Püppchen – aber auf grobe und uneinfühlsame Weise und war zu keiner gefühlvolleren Handlung zu bewegen, wie sehr das Püppchen auch klagte. Oder sie liess sich einfach zu Boden fallen und spielte „tot“, und genoss in einer sadistischen Abwehr eigenen Leids meine verzweifelten Bemühungen, sie zu verlebendigen, das war unser von ihr eingefordertes Anfangsritual. Jetzt gings mal andersrum, der Spiess war gedreht. „A Blueprint of Survival. Seither weiss ich wie sich eine „tote Mutter“ anfühlt, es war eine für mich quälende Behandlung.

Das gibt nicht nur ein Seminar, das wird ein Wochenendworkshop. (U.M.)

 

This entry was posted on Montag, 19. Juni 2023 and is filed under "Blog". You can follow any responses to this entry with RSS 2.0. Both comments and pings are currently closed.

2 Comments

  1. Michael Engelbrecht:

    Ein sehenswertes Interview von Mark Kermode mit Mark Jenkin und der exzellenten Hauptdarstellerin.

    https://www.youtube.com/watch?v=SI0qj6N6Jsk

  2. Michael Engelbrecht:

    Another talk giving insights:

    https://www.youtube.com/watch?v=LxKFFULmmJQ


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