Die Rezensenten können sich bei diesem Film schwer einigen – die Einschätzung reicht von „schräger Komödie, makabrem Melodram bis zu schwarzhumorigem Buddymovie“ und will angeblich Einblicke in die Mentalität irischer Insulaner liefern. Ich denke, dies wird dem Film nicht gerecht, der einen immer wieder schaudern lässt. Es geht hier nicht um individuelle Reibereien und Kränkungen, sondern um ein Lehrstück, wie sich militante Psychodynamik entwickeln kann – und sich sowohl im persönlichen als auch globalen Kontext leider oft genug entwickelt.
Es beginnt mit einem Konflikt zwischen Freunden, genauer zwischen einstigen Freunden: einer davon, Colm, möchte sich aus der Beziehung lösen um Zeit für andere Dinge zu haben, ein nachvollziehbares menschliches Bedürfnis. Aber schon beginnt der Diskurs maligne zu entgleisen. Der etwas geistesschlichte Leftover Padráic fühlt sich verletzt und zurückgewiesen. Der Konflikt mündet in eine eskalierende Gewaltspirale, die den Zuschauer zunächst fassungslos macht.
Die Kamera arbeitet mit dem Aufspüren und Akzentuieren von Gegensätzen – die claustrophobische Enge des Zusammenlebens im Dorf, das nichts Idyllisches an sich hat, der Pub, in dem man sich trifft, in dem aber jeder allein am Tisch sitzt. Dagegen abgesetzt: die Bilder von lockender Weite, sonnenbestrahlten Wolken, sowie der Freiheit des Meeres unter einem immer düsteren Himmel. Und dann dieser harmonischer Soundtrack, der Sehnsüchte weckt, und die Möglichkeit eines Entkommens suggeriert, das die Bewohner nicht zu nutzen wissen, die sich wie Kampfhunde ineinander verbissen haben. In der Ferne tobt allerdings auch der irische Civil War, wir haben 1923, der Bezug zum Kriegsgeschehen ist damit hergestellt.
Das Zusammenleben der Inselbewohner ist eine Aneinanderreihung von Verletzungen, narzisstischen Kränkungen, Übergriffen und Grenzüberschreitungen. Ständige Blicke durch Türen und Fenster nehmen den Zuschauer mit in das Spiel und gewähren Einblicke in Innenräume, die Kamera umkreist lauernd die Protagonisten. Pádraic – eine zunächst sympathische Figur – fungiert hier als der freundliche Mensch ohne Arg, ein tumber Tor ähnlich wie Parzifal oder Simplicissimus, der die Ränkespiele der Welt noch kennenlernen muss und ihnen wehrlos gegenübersteht. Seine Tiere verkörpern ebenso dieses Prinzip der Unschuld und Gutartigkeit, werden aber, wie Pádraic selbst, zusehends zu Opfern.
Wir erleben die zunehmende Entwicklung Pádraics vom Verlassenen zum Täter, als Colms Aggression zusehends autodestruktiv wird, er sich bei jeder unerwünschten Annäherung von Pádraic einen Finger abschneidet und ihm diesen vor die Tür legt: es entsteht ein sadomasochistischer Clinch mit vielfältigen Möglichkeiten des Zurückschlagens für den Verlassenen. Mit jeder Annäherung kann er Colm wieder verletzen – hier kommt es zur paradoxen Umkehrung in dieser Zweierchoreographie – die Annäherung bedeutet nun nicht mehr Beziehungs- sondern Verletzungswunsch, das Spiel folgt jetzt anderen Gesetzen. Die Racheaktionen der beiden eskalieren bis zum Mordversuch, aber auch hier gibt es noch kein Ende, denn nun ist Pádraic der Unversöhnliche, der den Krieg nicht beenden will.
Seine Schwester, hier Verkörperung des Prinzips der Selbstfürsorge und pragmatischen Vernunft, hat die Insel bereits verlassen und in den freundlichen Weiten ihr Shangri La gefunden, sie lockt ihn, aber Pádraic wird ihr nicht folgen, er wird fortfahren sich zu rächen mit immer weiter ansteigender Aggression. Bedrohlich begleitet wird das Geschehen von eine alten schwarzgekleideten Frau, die die Banshee, die Todesfee der irischen Mythologie, repräsentiert; hier als Zeichen für den alles überdauernden menschlichen Todestrieb geschickt in die Handlung eingeflochten. Sie bleibt auch in der Schlusseinstellung als letzter Eindruck zurück – unzerstörbar, uneliminierbar.
Welche Hilfe von der Religion zu erwarten ist, zeigt die gelegentliche Einblendung einer gesichtslosen Muttergottesstatue – Götter sind hier längst zur Allegorie erstarrt und können nicht mehr helfen, liefern keine halt- und sinngebenden Strukturen mehr in ihren Stadien des Zerfalls, und verstehen es besser Kriege auszulösen als zu verhindern, insbesondere in Irland. Eine weisse Banshee! Und Gott verhüllte sein Angesicht, heisst es irgendwo.
Eine „schrullige Farce“ kann ich hier nicht sehen, die Bosheit und Rachsucht drängt sich zunehmend in den Vordergrund und überlagert den durchaus vorhandenen schwarzen Humor. Das – wie ein Rezensent schreibt – „kleine Sterben einer Freundschaft vor der Kulisse des grossen Sterbens im Krieg“ halte ich für Schönfärberei; was wir hier sehen, ist das Entstehen von Kriegen, aus dem Mikrokosmos eines durchaus friedlich lösbaren Beziehungskonfliktes und seiner archaischen Verarbeitung eingedampft. Die Mechanismen der Destruktion sind immer die gleichen.
Eine zutiefst bittere und pessimistische Parabel über den Zustand der Menschheit und ihrer Gewaltneigung, in der alles Gute erstickt, wie der Esel am abgetrennten Finger Colms. Gedreht im Jahr des Ukrainekriegs aus einem von Bürgerkriegen gebeutelten Land. Das hätte Sartre kaum besser hinbekommen, ich denke, er freut sich auf seiner Wolke – zum Rivalisieren mit Mitschreibern neigte er ja nicht – ausser mit seiner Simone, der er als erste Beziehungsamtshandlung die Philosophenkarriere ausredete und sie lediglich bei den Schriftstellerinnen eingeordnet wissen wollte. Die Vorreiterin der Emanzipation liess es sich gefallen und schriftstellerte von da ab.
Wer bei „Im Westen nichts Neues“ auf Distanz ging – und das waren einige, auch verdiente Rezensenten – wird es hier nicht mehr schaffen. Man baut in diesem Film weniger Reizschutz auf als im Kampfgetöse vom „Westen“, und das Geschehen trifft sodann mitten in die Weichteile.
Und der Film ist nicht vorbei, wenn das Licht angeht, die Gruppendiskussionen waren langwierig. Am besten hinterher noch von Karl Kraus „Die letzten Tage der Menschheit“ auflegen (mit Qualtinger) – eine schöne Abrundung für einen misanthropismus- und gallensaftgenerierenden Abend.