(Dieser Text ist eine Art Coverversion einer Besprechung von Alistair McKay. Wir sind beide fasziniert von dem Album von P. J. Harvey. Wo hier ein „Ich“ auftaucht, abseits der Zitate und Titel des Albums, bin ich selbst im Spiel, als Einmischer und Remixer, auch erfinde ich Sachen und Sätze hinzu. Das Buch, das P.J Harvey unlängst veröffentlichte, war eine Reise durch die Innen- und Aussenwelten eines überschaubaren Biotops im südwestlichen englischen Hinterland, vielstimmig, zart und hart zugleich. Und es führt eine direkte Spur von den Zeilen dieser ganz anderen Heimatkunde zu den Songs ihres neuen Albums, das ich mir in der letzten Woche anhören konnte, in grosser Ruhe und wiederholt. Ja, auch hier kommen allerlei Charaktere zu Wort und Klang, meditativ, verstörend, insisierend, ausholend, einladend. Gefiltert, gechannelt durch ihre Stimme, die das Flüstern und den Schrei beherrscht. Und alle „sounds in blue“ dazwischen. Kleine Welt, grosses Album. Noch eine kleine Anmerkung: ich halte dieses Werk trotz aller Gepenster, Götter, und Elvisse, die da rumschwirren, für kein religiöses oder spirituelles Album im engeren Sinne, sondern für eines, das tief schürfende Heimatforschung treibt, und dabei natürlich auch das Kollektive Unterbewusste anzapft. Wenn Polly selbst von „der Wiederkehr des Erlösers“ spricht, dann meint sie lokale Folklore, und „the eternal“, das zielt m.E. auf den natürlichen Zyklus des Lebens. Und, oh my god, was für grosse Alben anno 2023, von Josephine Forster, Lana del Rey, Rickie Lee Jones – und Polly. Wer von der Musik dieses „Roots-Albums“ auf einer tieferen Ebene berührt wird, dem empfehle ich Mark Jenkins Film „Enys Men“ und eine weitere englische Landschaftsforschung der besonderen Art, Craven Faults‘ neues Album (die beiliegende Fotomappe!!!), mit dem ich die Klanghorizonte am 20. Juli wohl eröffne.)
Sieben Jahren sind seit P.J. Harveys letztem Album vergangen, und sie war alles andere als untätig. Wenn ihre Kompositionen für bewegte Bilder auch einen spürbaren Einfluss haben, bleibt doch die bedeutsamste Quelle für „I Inside The Old Year Dying“ ihr Erzählwerk „Orlam“, ein Büchlein, das sich jeder Beschreibung entzieht, und irgendwo zwischen einem Gedicht und einer Erzählung angesiedelt ist, zwischen den durcheinander geworfenen Knochen eines Drehbuchs und den halb erinnerten Details eines Traums, der jede Nacht in subtiler Form wiederkehrt, bevor er ins Unterbewusstsein zurücksinkt, und seine Spuren auch am hellichten Tag verströmt. Ergreifend und verwirrend zugleich.
Zudem sind die Verse im Dialekt des alten Dorset geschrieben. Selbst im Englischen scheint die Bedeutung weniger wichtig zu sein als die Stimmung, die mit dem sumpfigen Land zu tun hat, das an die Kindheit, die Jugend und den brutalen Zustand der Reife grenzt.
„Orlam“ ist gotisch und lyrisch, ländlich und biblisch, die Verse voll von madigen Schnecken und geschwollenen Dachsen. Es gibt dunklen Humor und zeitliche Verwerfungen. Das Wort „Orgasmus“ wird in ein „Jim’ll Fix It“ eingeschoben. Es gibt eine Erwähnung von Cluedo (ein spielerisches Brettspiel über Mord), und eine süße Anspielung von „Fingers of Fudge„, die keiner weiteren Spekulation bedarf.
In diesem Buch (und auf dieser Platte) durchstreift Elvis das Land, obwohl seine Figur in der Erzählung abwechdelnd die eines sterbenden Soldaten, die erste Liebe eines Mädchens, und sogar eine Christusfigur (der „dunkelhaarige Herr“) ist. Er ist auch eindeutig der echte Elvis, wie die gelegentlichen Refrains von „Love Me Tender“ zeigen, einem Lied, das seine Melodie von der sentimentalen Ballade „Aura Lee“ übernommen hat, die im amerikanischen Bürgerkrieg an Lagerfeuern gesungen wurde.
Das Gedicht „Lwonesome Tonight“ (auch bekannt als „Lonesome Tonight“) bezieht sich sowohl auf den Presley-Song als auch auf Johannes 13:34, da es die Entjungferung eines Mädchens beschreibt, einen Verlust der Unschuld, der durch einen Schulranzen voller „Pepsi Fizz“ und – dem Lieblingsessen des Königs – Erdnussbutter- und Bananensandwiches signalisiert wird. Das Lied ist ein magisches Mysterium, in dem ein Mädchen – naiv oder bereit, das sollte man nicht beurteilen – sich ihrem Hirten erwartungsvoll nähert und trällert: „Bist du Elvis?/ Bist du Gott?/ Von Jesus geschickt, um mein Vertrauen zu gewinnen?“ Vielleicht ist der Synthesizer ein Zeichen dafür, dass nicht alles perfekt ist. Er schwingt unter der Melodie, wie ein verstimmtes Radio, das Not signalisiert.
Auf ihren letzten beiden Alben, „Let England Shake“ (2011) und „The Hope Six Demolition Project“ (2016), wandte sich Harvey dem sozialen Kommentar zu. Die Aufnahme von „Hope Six“ wurde zu einem theatralischen Projekt, bei dem die Sängerin im Zentrum eines kreativen Zoos im Londoner Somerset House auftrat.
Ihr Ausflug in die Poesie kann als weiterer Beweis für ihre Frustration über die Grenzen der traditionellen Rocklyrik gewertet werden. Sie nahm diesen Prozess sehr ernst und ließ sich von dem Dichter Don Paterson aus Dundee unterrichten, einem Schriftsteller mit einem ausgeprägten Verständnis für Musikalität. „Es mag nicht unerwartet sein, dass Harveys Songwriting eine mehr nach innen gerichtete Richtung einschlagen würde“, schreibt Paterson. „Nur wenige werden jedoch eine so minimalistische Wendung in eine so unheimliche Landschaft erwartet haben.“
Die Worte in „Orlam“ wurden als Gedichte geschrieben, nicht als Lieder, obwohl Harvey die Hoffnung äußerte, dass sie in einer anderen Form auftauchen könnten, vielleicht als seltsamer Film oder als Theaterstück. Sie schloss auch Musik nicht aus. Und hier sind sie nun, mehr oder weniger, gemurmelt und „getra-lah’d“, mit atemraubend wechselnden Stimmen in den Raum taumelnd, schwebend, verharrend.
Der Einfluss der bewährten Mitstreiter John Parish und Flood ist nicht zu unterschätzen. Diesmal hat Harvey die Demo-Phase fast ganz abgeschafft, indem sie manch verirrte Gedanken ins Phone sprach und auf den gemeinschaftlichen Prozess vertraute. Das Studio wurde für das Live-Spiel eingerichtet, wobei die Melodien aus der spontanen Performance entstanden.
Dies gab Harvey die Freiheit, die Möglichkeiten ihrer Stimme zu erkunden. Sie singt mit der Zuversicht, dass jede Andeutung gehört wird, auch wenn die Worte nicht vertraut sind. Auf dem Eröffnungsstück „Prayer At The Gate“ klingt sie sowohl gequält als auch abgelenkt: Ihre Stimme steigert sich in eine fast ergriffen wirkende Tonlage an, während die Melodie wie ein elektrisches Umspannwerk brummt. „Autumn Term“ hat ein fast komisches Falsett, und das Geräusch spielender Kinder ist in den Hexenzauber des Liedes eingearbeitet. Glockenartig ist der Gesang in „The Nether-Edge“, einem Exkurs in Aberglauben und Dunkelheit, der wie ein Spielplatzgesang klingt.
Was bedeutet es, so altertümlich, so seltsam zu klingen? Nun, es ist Harveys großes Verdienst, dass dieser Fiebertraum nie erzwungen wirkt, und das Experiment, den größten Teil ihres charakteristischen Klangs abzulegen, ist schmerzlos gelungen. In der Mitte von „August“ drängt sich vielleicht Elvis auf, der wie Bono aus der Zooropa-Ära klingt, aber das ist eine Finte. Heutzutage spielt PJ Harvey keinen Rock’n’Roll mehr. Es gibt nur ein geisterhaftes Kratzen am Bettpfosten des Beefheart-Blues, vor allem im abschließenden „A Noiseless Noise“.
Beeindruckend ist, dass die Dichte von „Orlam“ durch die Wiederaufführung als eine Suite von Songs zugänglicher gemacht wird. Es ist nicht notwendig – vielleicht ist es nicht einmal möglich – zu verstehen, dass der Erzähler der Gedichte ein Augapfel eines Lamms ist, denn die Musik hat ihre eigene seltsame Energie, ein donnerndes Gewitter aus Elektrizität, das seltsame reife Andeutungen regnen lässt.
Das Unheimliche ist intensiv, aber kanalisiert, und die Überraschungen kommen auf eine Weise, welche die unschuldige Ängstlichkeit der Kindheit bedroht, aber nicht auslöscht. (Über diesen Satz müssen wir mal reden, Alistair!) Seltsamkeit im Überfluss. Die Seltsamkeit des Staunens. „I Inside The Old Year Dying“ ist ein einzigartiges Werk. Trotz all seiner Verkleidungen, all der Baumtränen und Schwindeleien ist es vielleicht PJ Harveys autobiografischstes Album. Let Dorset Shake! Die letzten Worte nun von Polly selbst, zu dem ein paar Zeilen zuvor anklickbaren Song…
“This song eluded us until the very last day in the studio. Over the previous five weeks we had tried so many times to capture it and failed, and/but then John [Parish] reinvented the feel of the guitar pattern. As he was demonstrating it in the control room, Flood handed me a microphone and pressed record whilst I sat next to John trying to work out how to sing to it. The result somehow captures the ethereal and melancholic longing I was looking for. In the lyric everyone is waiting for the savior to reappear—everyone and everything anticipates the arrival of this figure of love and transformation. There is a sense of sexual longing and awakening and of moving from one realm into another—from child to adult, from life to death and the eternal.”