Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

2023 1 Juni

Entrümpelungen aller Art

von: Michael Engelbrecht Filed under: Blog | TB | Tags: , | Comments off

(Für Toni Nee, einen Stammhörer der Klanghorizonte aus dem ostfriesischen Städtchen Grossheide, wo vor Jahr und Tag ein brutaler Tornado durchfegte – auf dem Weg nach Langeoog wartet dort stets ein frischer Darjeeling mit Klüntje auf mich.)

 

 

 

Niemals habe ich eine solche Menge an Gedichtbänden gelesen wie in meinen Studentenjahren. Es waren sogar noch mehr als die stolze Zahl der Thriller und Spionageromane von Eric Ambler, Partricia Highsmith und Co., deren schwarzgelbe Buchrücken wohl einen halben Meter auf meinem Bücherbord einnahmen. Meist lagen diese schmalen Werke (Karin Kiwus war dabei, Ernst Jandl sowieso, auch Frank O‘Hara und E.E. Cummings, kunterbunt, und ein Becker neben dem anderen), die ich vorzugsweise abends vor dem Einschlafen las, vor dem Plattenspieler auf dem Boden, nah an  den vier Songalben von Eno, oder frischen ECM-Lieferungen aus der Gleichmannstrasse  10.

In  den Jahren von 1975 bis 1982 habe ich alles von Jürgen Becker gelesen, was ich in die Hände bekam, auch seine ganz frühen Bücher, und er wurde zu meinem Lieblingsdichter. Seltsam schüchtern war ich, als – Vorsicht, Repertoirestory! – er mir einmal im Fahrstuhl des Deutschlandfunks begegnete, in dem er lange als Redakteur arbeitete. Eher von munter draufgängerischer Art, war mir diese Anwandlung fast fremd, aber ich konnte sie mir hinterher gut erklären: meine Zeit mit seinen Gedichten stammte aus einer fast entrückten Vergangenheit, und was sollte ich  ihm in aller Enge eine kleine Anekdote der Begeisterung auftischen?! Das hat ja was Bedrängendes in Fahrstühlen – ein Fan, der einem auf den Leib rückt.

In jenen Jahren meiner Lyriklust verbrachte ich auch etliche Abende mit Friederike Mayröcker. Am liebsten schrieb sie morgens, so lange die Träume nachwirkten, und ich bin damals in den Sog vieler ihrer Gedichte geraten. Sie war mit Ernst Jandl verbandelt, und es brach ihr das Herz, als er so früh starb. An einen stärkeren Text über Abwesenheit als „Und ich schüttelte einen Liebling“ kann ich mich nicht erinnern.

 

 

 

 

Das Lesen von Gedichtbänden ist eine Art  zu meditieren – die Tänze und Wirbel haben mich oft an andere Orte transportiert, oder meinen eigene kleine Kammer im Studentenwohnheim in eine spezielle Aura gehüllt. Irgendwann, als die Erforschung der Träume mich mehr und mehr fesselte, wurde mir klar, wie nah die Deutung von Gedichten und die Deutung von Träumen beieinander liegen.

Ich kann Menschen leicht beibringen, sich an ihre Träume zu erinnern, und habe ein gutes Gespür für Deutungen. Das kommt auch von dem Faible gute Detektivgeschichten. Beim Schreiben von Gedichten, und in der Therapie, geht es darum, jede Menge Gerümpel aus dem Weg zu räumen.

Seit gestern liegt mir eine Cd vor, die sanft und romantisch, und melodiös ist, und doch viel tiefer reicht, als so viel Wohlklang erstmal vermuten lässt. Die Texte stammen von Elina Duni, oder von anderen, in allerlei Sprachen gesungen (und gehaucht). Dazu gesellen sich fallweise Flügelhorn (Mathieu Michel), Gitarre (Rob Luft macht seinem Namen alle Ehre), und Piano (Fred Thomas wechselt zwischendurch auch mal ans Trommelwerk, pures Pastell).

Das Cover könnte auch von einem alten Suhrkamp-Bändchen von Jürgen Becker stammen (der in alten Landschaftsbildern ganz gerne auf Spurensuche ging, und die Abräumung von Land und Fluss lang vor den Grünen protokollierte). Einmal mehr eine Manfred Eicher-Produktion aus der Provence, die wundersam transparent ist und eine Wärme verströmt, die nichts mit dem früher als kalt assoziierten CD-Sound am Hut hat. Und die beiliegenden lyrics erscheinen mir heute, in der Hitze der Mittags, wie Traumtexte, die ihre Deutungangebote gleich mitliefern, so tollkühn entrümpelt (feeling pur). A Time to Remember.

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