Hab nicht gut aufgepasst: Welcher Pyro- und Lasertechniker hat jetzt eigentlich den ESC gewonnen? Angeblich soll sogar gesungen worden sein, wie man hört …
Spässle!
Music isn’t fireworks – Music is feeling.
Also sprach der portugiesische Sänger Salvador Sobral ex cathedra, als er 2017 das grosse ESC – Rattenrennen gewann, mit pubertärem Charme in einem viel zu grossen Sakko. Und einem Song, der entfernt nach verräucherten Studentenkneipen mit existenzialistischem Flair, Nächte füllenden Diskussionen, Sozialromantik und einem Hauch von Intellektualiät roch, mit der man damals vergeblich versuchte, erotische Wirrnisse mental zu erfassen und bewältigbar zu verstoffwechseln oder wahlweise die Welt zu retten. Daran erinnert man sich in jedem Fall gerne. Über die logischen Brüche im Text – wenn einer nicht liebt muss der andere eben doppelt soviel lieben – breiten wir einmal den Mantel des Schweigens oder verhandeln es als Paradoxon – als Thema für ein psychologisches Seminar. Eine Mathematik der Gefühle, nu ja, zumindest amüsant, ein bisschen zum Dahinschmelzen, wenn der Schmelzpunkt tiefer liegt, was man ja Frauen gemeinhin nachsagt. Wurde allerdings in „Wenn Frauen zu sehr lieben“ schon 1985 verhandelt und scheint als Lebensmodell nicht wirklich hinzuhauen.
Aber zurück zum Rattenrennen:
1960 – etwa so lange gucke ich schon ESC, damals noch Grand Prix d‘ Eurovision de la Chanson genannt (Satz für die Ewigkeit: Douze points pour l‘ Allemagne, Mann war das spannend!). Damals herrschte in der leichten Muse noch die schwarze Pädagogik, die junge Leute belehrte, dass man noch Träume haben sollte (anstatt zu handeln) und über den Frieden und gegen den Krieg singen sollte (anstatt zu handeln). Ein Antikriegslied hiess tatsächlich „Bumm badda bumm„, womit Geschützlärm verklausuliert war, als ob Krieg nur aus Krach bestünde. Damals meinte man noch Botschaften in süsse Melodien verpacken zu müssen – Beiss nicht gleich in jeden Apfel und Sprich nicht drüber und Schütt die Sorgen in ein Gläschen Wein und Liebeskummer lohnt sich nicht und kleine Italiener haben immer Heimweh nach ihren Freundinnen und sonst anscheinend keine Probleme. Und die Sänger/ innen waren hübsch und sauber mit Kernseife gewaschen.
Was in der Erinnerung bleiben wird sind Melodien, Rhythmen und Gesichter der Protagonisten. Einige Songs waren wirklich nicht schlecht: Das pfiffige „Puppet on a String“ von Sandie Shaw, das herrlich mediterran – theatralische „Apres Toi “ von Vicky Leandros, naja, und später dann natürlich „Waterloo“. Merci Cherie hab ich erfolgreich verdrängt, bei Udo Jürgens krieg ich Pickel. Vor ein paar Jahren dann ein zweiter Platz für die sympathischen Common Linnets mit „Calm after the Storm“ mit sehr puristischen optischen Effekten und Country – Einschlag. Ausreisser!
Natürlich weiss ich, wer heuer gewonnen hat – eine Schwedin, plaziert auf einer Art überdimensionierter Sonnenbank wie ein Sandwichbelag, die aussieht wie Pocahontas und sich tatsächlich von den anderen abhob, weil sie ungeschminkt war. (Dürfte übrigens Michas Kragenweite sein). Vermutlich war sie das aber nicht, sondern wurde vorher 4 Stunden in der Maske mit dem Nude-Look versehen: Man wird mühevoll so geschminkt, dass man aussieht als sei man nicht geschminkt – wer’s nicht glaubt, der google „Tilda Swinton“, die hat als erste damit reüssiert. Keine Ahnung wie lange die morgens in der Maske hockt. In den Nagelstudios gibt’s den gleichen Trend – eine Stunde Kreation von künstlichen Gelnägeln die aussehen wie natürliche Nägel. Milchbad-Look heisst das – unten rosa, oben weiss – fetzig, oder? Ich verkneife mir hier mal den Tarzanschrei und lege es ab unter „ungeklärte kulturhistorische Phänomene“, denen ich mich im höheren Alter widmen werde (sogenannte Verzweiflungsprokrastination), kann doch nicht sein dass alles nur auf Kohlemachen hinausläuft, by the way …
Oder?
Der ESC ab Millennium hat keine Botschaften mehr, die Protagonisten drehen sich in ihren Texten um sich selbst und ihre Empfindungswelt, in der Regel um ihre Beziehung (Youre my tattoo, I am your satellite, we are blood and glitter ), das ist die Narzissierung der Wohlstands- und Spasshaben-Gesellschaft, das schwappt in alle Bereiche der Trivialkunst, dazu fuchteln sie wie ein Fitnesscoach auf Speed. In den letzten 10 Jahren wurde zusehends mehr gerappt, klar, damit verjüngte sich die Zielgruppe, während 1960 auch noch die Oma zuguckte und mit den Liedern etwas anfangen konnte. Bei Heavy Metal geht das nicht mehr, obwohl … Opa und Oma sind heutzutage Ü50, da waren die schon in Wacken dabei. Der Uropa noch in Woodstock.
Während es früher noch um Wellsounding und Goodlooking ging, steht nun Andersartigkeit im Focus – als einzige Chance den Preis abzustauben: Man muss sich dramatisch von der Masse abheben. Das führte zu zwei Siegen für Deutschland mit einem Nonsens-Lied von Guildo Horn und einem Quatsch-Rap von Stefan Raab. Das nächste Mal sang eine schöne Frau mit Vollbart, hat auch geklappt. Etwas später dann der knuddelige Portugiese a capella mit einsamem Barpianisten und im zu weiten Anzug. Dann war der Distinktionstrick wieder ausgereizt.
Wenn ich an die – von mir jährlich treulich verfolgten – ESCs des 3. Jahrtausends denke, erinnere ich ausschliesslich das Aussehen der Sänger und die optischen Affekte, keineswegs das Lied. Dafür aber die finnischen Lordi, mit denen man problemlos eine Geisterbahn ausstatten könnte, die Lady mit Vollbart, die queeren deutschen Punker von 2023 und die Nude-loo -Lady im Bitchburner. (Deutschland immer weit vorn und öfter sogar Erster, wenn man nur die Tabelle um 180 Grad drehte).
Somit folgt die Darbietung dem Muster eines Infantilisierungsprozesses; wenn man einem Baby ein Lied vorsingt und zeitgleich eine Christbaumkugel hinhält, dann wird es sich nur für letztere interessieren, der visuelle Effekt toppt den akustischen (vermutlich ein Atavismus – in der Steinzeit war das Mammut schon eher zu sehen, als dass man es hörte), Lied und Gesang werden zu einer funktionalisierenden Tonspur, die man – wie auch oft im Film – nur unterschwellig oder auch gar nicht mitbekommt und sich auch nicht mehr daran erinnert; zumindest ich muss immer nachhören, mit geschlossenen Augen. Ein Tonspur-Contest. Dann merkt man auch nicht gleich was mies ist.
Nach einem Jahrzehnt Gerappe setzte man heuer übrigens wieder auf Melodisches – Distinktionstrick. Kunst und Wettbewerb beissen sich, haben sich schon immer gebissen. In einer Konkurrenzsituation wächst selten etwas Gutes; Aussenorientierung und Nach-Nebenan-Schielen statt Sammlung, Kontemplation und eigene Handschrift.
Einen Wettbewerb für Künstlerisches oder auch nur Trivialentertainment auszuschreiben evoziert den Effekt, den man auch in einer Kinderschar beim Wurstschnappen bekommt, in der jeder immer höher zu hopsen versucht als der andere, um gesehen zu werden und das angesabberte Paar Wiener zu bekommen. Was dann entsteht ist eine Freakshow mit Unterströmungen von Hysterie und Verzweiflung – eben ein ESC.