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2023 23 Mai

Wiesbaden 2: von XHOL CARAVAN und der GALAXY DREAM BAND

von: Henning Bolte Filed under: Blog | TB | 10 Comments

Das MAGNET FESTIVAL brachte mich vor einer Woche zum dritten Mal nach Wiesbaden. Das erste Mal liegt weit weit zurück und geschah im Jahre 1969. Damals wurden musikalisch Grundsteine gelegt, Grundsteine im Musik machen und Musik erleben wie sich darüber austauschen. Mit ein paar alten Schulfreunden aus Südniedersachen machte ich mich auf den Weg nach Wiesbaden, um Tim Belbe zu besuchen. Ich hatte gerade mit meinem Studium in Göttingen angefangen.

 

Spuren der Vergangenheit

 

Tim Belbe? Saxophonist Tim Belbe (1944-2004), der Himmel habe ihn selig, war der Frontmann, die Rampensau der Krautband XHOL CARAVAN. Ich sage Krautband, weil es eigentlich keine Rockband war. Hervorgegangen aus der Band Soul Caravan, die amerikanische Soul Music spielte (u.a. als  Opener von und mit amerikanischen SouLmusikern wie Aretha Franklin, King Curtis & The Kingpins und Carla Thomas) ging Xhol Caravan damals in die Richtung von langen improvisierten tripping Jams. Eine Band aus Deutschland, die Soul Music spielte und dann überging zu tripping Jams, das war nun wahrhaftig total neu.

 

Keine Ahnung, wie wir nach Wiesbaden kamen (trampen?) und wie dann zu Belbe. Wahrscheinlich waren einige der Freunde im Jahr zuvor bei den berühmten Essener Song-Tagen gewesen, wo sich neben Zappas Mothers die neuen Krautgruppen wie Guru Guru Groove, Amon Düül, Embryo, Tangerine Dream und eben Xhol Caravan tummelten. Ich durfte da nicht hin, aber mit dem Beginn meines Studiums war der Weg frei für entsprechende abenteuerliche Unternehmungen. Wir landeten im Stadtteil Erbenheim, wo die Gruppe als Kommune zusammenlebte, eine Lebensform, mit der man sich damals radikal gegen alles Hergebrachte abzusetzen begann. Von Wiesbaden habe ich wenig gesehen. Jedenfalls hab ich keine lebendige Erinnerung daran. Wir tauchten in die ‚fremde‘ Welt der Kommune ein und versuchten uns zurechtzufinden. Belbe und die Seinen waren so stoned, dass uns als durchaus erfahrenen kleinstädtischen Gebrauchen aus der niedersächsischen Provinz  die Sinne schlackerten. Inmitten der Haschischschwaden machte Belbe uns Jüngeren klar, worum’s ging in der Musik und im Leben. Erfahrung direkt vor Ort an der Quelle also. Die Gruppe hatte nach ihrem Soul Caravan Album gerade Electrip, das erste Xhol Caravan Album (mit dem Hermaphroditen-Cover) rausgebracht. Es gilt als erstes Krautrock Album.

 

 

Die Musik war, wie der Titel schon indiziert, stark elektrifiziert. Es wurde nicht nur mit Wawa und anderen Effekten gearbeitet. Auch die Saxophone waren elektrifiziert. Es war also alles, was heute bei einem neuen Festival wie dem Magnet Festival eine Rolle spielt, damals bereits in nuce vorhanden. Due Gruppe machte eine wechselvolle Entwicklung durch, tritt aber Genaus so wie Guru Guru und Embryo immer noch auf. Nachzulesen ist das im sehr informativen Gespräch mit zwei Bandmitgliedern, dem Saxophonisten Hans Jürgen Fischer und dem Bassisten Klaus Driest.

 

Hier AUDIO von ELECTRIP 

 

Das Folgealbum Hau-Ruk wurde dann bezeichnenderweise im Göttinger CENTER aufgenommen, ein Spielort, den ich noch sehr lebendig und konkret vor Augen habe. Das CENTER war neben dem Jungen Theater, the place to be. Dort spielte von Guru Guru Groove bis Brötzmann alles, was damals relevant war, a really tripping place.

 

Und damit wär ich auch schon bei musikalischen Zentrum der damaligen freien Szene dort, der GALAXY DREAM BAND von Gunter Hampel (1937), einem Urgestein der deutschen und internationalen Freejazz- Welt, deren Mitglieder sich in meiner direkten Nachbarschaft, in der Philipp-Reis-StraBe, betriebsam tummelten. Dazu zählten Hampels Lebensgefährtin, die Vokalistin Jeanne Lee, der Klarinettist RobinsoPerry Robinson, der Drummer Steve McCall, der Violist/Bratschist Tom Marcus. Dazu gesellten sich Anthony Braxton, Marion Brown und Willem Breuker. Hampel arbeitete zu der Zeit sowohl in Göttingen als auch in New York und in Amsterdam, kehrte aber immer wieder in die Philipp-Reis-StraBe zurück. Ich hab die Gruppe in verschiedensten Besetzungen damals zahlreiche Male live erleben können.

 

 

In Erinnerung geblieben ist mir besonders eine magistrale live Vorstellung von Waltz For 11 Universes in a Corridor (klingt noch immer im Kopf). Die Platte hat mich in viele Jahren begleitet und will immer mal wieder gehört werden. Die Platte ist allerdings ‚kleiner‘, gespielt von einem Trio aus Gunter Hampel, Jeanne Lee und Tom Marcus. Dazu muss man allerdings wissen, dass Hampel ein Multiinstrumentalist ist und Bassklarinette, Vibraphon, Querflöte und Piano spielt. Es gibt eine vielstimmige Version der Galaxy Dream Band aus dem Jahre 1972 beim NDR Jazzworkshop

 

VIDEO GALAXY DREAM BAND concert

 

Anfang der 80er Jahre spielte Hampel in New York mit Musikern wie u.a. Curtis Fowlkes, Bob Stewart, Bill Friesel, und Barre Phillips und natürlich mit deutschen Cracks wie Albert Mangelsdorff und Manfred Schoof.

So bin ich unversehens von Wiesbaden zurück nach Göttingen gelangt. Dazu gibt es noch eine Reihe von Geschichten, die später noch erzählt werden können.

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10 Comments

  1. Michael Engelbrecht:

    Wunderbare Nachbarschaft.

    Ich hatte etlliche galaktische Traumplatten in meiner Studentenzeit gekauft. Grandioso.

  2. Jochen:

    habe hampel in hannover 2 mal live erlebt: mit seiner gruppe time is now im musiktheater bad (gerad mal eine handvoll leute im publikum) und mit jungen musikern (sein sohn am schlagzeug) in der formation next generation im kulturzentrum faust.

    letzteres konzert werde ich nie vergessen. volles haus, viele tanzten, schlagzeug und congas erinnerten teilweise an santana. da war ein 30 minuten stück mit einem erdigen groove, sowas habe ich nie wieder gehört. wir schauten uns nur an: „ist das geil!!“

  3. Michael Engelbrecht:

    In Moers Mitte der 70er, unvergesslich.
    Interessantes Paar: Gunter und Jeanne.
    Und dann dieser Klarinettenmann Perry R. …!

    Von dem ersten Krautalbum habe ich nie gehört… ein Fall für Jan!

  4. Henning Bolte:

    Zur Geschichte von Xhol Caravan geben die beiden Interviews (siehe Link) gut Auskunft.

    Es ist schon interessant, wie sich solche Musikrichtungen in Deutschland ihm kollektiven Bewusstsein etablieren konnten oder nicht. Interessant ist auch, wie bestimmte Figuren aus diesem Feld irgendwann andere Wege gingen und sehr bekannte nationale Figuren wurden wie Udo Lindenberg und Otto Waalkes.

  5. Henning Bolte:

    Soul Caravan was formed in Wiesbaden, Germany in early 1967 by Tim Belbe on saxophone; Hansi Fischer on saxophone & flute; Klaus Briest on bass guitar and three Americans; Gilbert ‘Skip’ van Wyck on drums and singers James Rhodes and Ronnie Swinson. There was no other young band in Germany with such a strong horn section that could play the soul music of that days.

  6. Henning Bolte:

    Xhol Caravan spielte auch schon früh Jazzsachen wie etwas hier beim Altena Festival 1969, wo sie mit „Olé“ von John Coltrane starten

    https://youtu.be/i2r2qdiJZLI

  7. Henning Bolte:

    Beim Anhören können einem gewisse Gemeinsamkeiten mit dem heutigen Fire! Orchestra wohl nicht entgehen.

  8. Henning Bolte:

    Tim Belbe hat später auch mit Jim O’Rourke und Nurse With Wound zusammengearbeitet

  9. Michael Engelbrecht:

    Für mich gab es nur Caravan aus Canterbury😉

  10. Alexander Fritz:

    Nur ein kleines Addendum: 1969 kamen noch mindestens drei andere Krautrockalben raus, im August Can’s „Delay 1968“ , ansonsten im Juni Amon Düül II – „Phallic Dei“ sowie Amon Düül – „Psychedelic Underground“, das im Wikipedia-Artikel als erstes Krautrockalbum bezeichnet wird. Es stammt von der nach Berlin ausgewanderten Sektion von AD, die mit der Kommune 1 assoziert war und scheint z. T. unter LSD-Einfluss aufgenommen worden. Es handelt sich um ziemlich chaotische improvisierte Jams, eher ein Zeitdokument als hörbare, ernstzunehmende Musik. Hier der Link: https://youtu.be/RW6HQ5M1PTI


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