Manafonistas

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2023 18 Mai

Japanese Jewels: Drive my Car

von: Martina Weber Filed under: Blog | TB | 12 Comments

Das Ehepaar Oto und Yusuke Kafuku pflegt ein bemerkenswertes Sexritual. Während die Beiden noch matt und beglückt beieinander liegen, erzählt Oto ihrem Mann Bruchstücke skurriler Geschichten von mehr oder weniger subtil erotischer Art.  Yusuke hakt nach, fragt weiter, entwickelt mit Oto einen Handlungsstrang. Es ist kein Spiel, es ist Teil von Otos Beruf als Drehbuchautorin beim Fernsehen. Als Schauspieler und Regisseur ist auch Yusuke vom Fach. Es sind die erfüllten Stunden einer Beziehung, die schon fast ein Vierteljahrhundert währt. Doch es gibt eine geheime Gewohnheit von Oto, die Yusuke durch Zufall entdeckt, und es gelingt ihm nicht, mit ihr darüber zu sprechen. Ryūsuke Hamaguchis Film Drive my Car kam 2021 ins Kino, er basiert auf zwei Kurzgeschichten aus Haruki Murakamis Buch Von Männern, die keine Frauen haben (Drive my car und Scheherazade). Der Film entfernt sich deutlich von der literarischen Inspiration und transportiert mehr an japanischer Tradition: kleine religiöse Handlungen, die Kraft, die ein Schweigen hervorbringt, und nicht zuletzt die tranceartige, meditative Stimmung während langer Autofahrten, über komplizierte Autobahnkreuze von Metropolen, die Küste entlang, durch unbeleuchtete Landschaften Richtung Norden, durch endlos scheinende Tunnel, denen weitere Tunnel folgen, bis der Schnee in der Sonne glitzert. Das Unterwegssein in einem mattroten Saab 900 turbo hat hier geradezu therapeutische Qualität. Die Intimität, die darin liegt, jemandem den Ort zu zeigen, an der man aufgewachsen ist, setzt etwas in Bewegung und es entsteht ein Moment ikonischer Qualität. Zwei Menschen, die im Nichtraucherauto sitzen, haben ihre Zigaretten angezündet und halten sie aus dem geöffneten Schiebedach nach oben, wo die Glut sich einfügt in verschwommene Lichter der Nacht.

 

 

 

 

Erst nach 35 Minuten läuft in diesem dreistündigen Film der Vorspann, nach einem Zeitsprung bildet im zweiten Teil eine bemerkenswerte Inszenierung von Tschechows Onkel Wanja einen Schwerpunkt. Wenn ich mir auch manche erklärenden Dialoge etwas knapper gewünscht hätte (hier schien man sich an der russischen Tradition des Erzählens zu orientieren), hat mich die Glaubwürdigkeit der Charaktere in Drive my car vollkommen überzeugt. Die Performance der Figur der Sonja im Theaterstück bringt nochmal eine andere Nuance der Rezeption ein: Die Schauspielerin drückt sich durch koreanische Gebärdensprache aus. Und noch eine Geste, die ich in diesem Film zum ersten Mal sah: Eine brennende Zigarette in eine kleine Fläche Eiswasser hineinzustecken, als wäre es ein Räucherstäbchen. Ein Abschiedsritual.

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12 Comments

  1. Martina Weber:

    Jetzt erst sehe ich, dass Michael den Film auch gesehen hat, und dass etwas darüber schrieb, fast 11 Monate ist es her. Ein zeitversetztes parallel watching. Wobei Michael auf eine andere Art als ich mehr (viel mehr) um den Film herumschrieb; er verriet fast nichts vom Plot, während ich in meinem Text Zusammenhänge suggeriere, die im Film nicht existieren. Hier der Link zu Michaels Text: https://www.manafonistas.de/2022/07/05/drivr-my-car/

  2. Olaf Westfeld:

    Ich hatte den Film mal auf dem Zettel, aber hier schaut keiner außer mir dreistündige japanische Filme im Original. Jetzt ist keine Fernsehsaison – dafür ist es im Wohnzimmer zu lange zu hell – Prime habe ich erstmal abbestellt – mal sehen, ob ich im Herbst daran denke. Murakami ist ja immer gut.

  3. Martina Weber:

    Der Film ist wirklich sehenswert, aber ich glaube, man muss irgendwie in Stimmung dafür sein, damit man etwas für sich herausholen kann. Glücklicherweise gibt es Untertitel, sogar auf deutsch. Wir haben hier eine sehr gut sortierte Videothek in der Stadt. Die beiden Kurzgeschichten von Murakami, die den Film mitinspiriert haben, sind sehr schwach. Ich habe mittlerweile fast alle Murakami-Kurzgeschichtensammlungen verschenkt.

  4. Michael Engelbrecht:

    Drive My Car ist eim Film, bei dem man in der passenden meditativen Stummung sein muss, sonst verabschiedet man sich schnell. Ich glaube,min neuen von zehn Fällen wäre ich ausgestiegen, aber da passte Set und Setting.

    Anders als bei Roter Himmel. Wenn ich den Film mal mögen sollte, au au au, das wäre heftig.

    Erste Person Singular ist für mich eine Sammlung wunderbarer Kutzgeschichten von Herrn Murakami. Die versetzen mich in ein herrliches Schweben.

    Ich lese derzeit den wunderbaren Roman Die Guten und die Toten. Aus dem Suhrkamp Verlag. Endlich bringen die wieder Literatur von Welt raus. Wie James Kestrel.

  5. Olaf Westfeld:

    Ich habe zwar vieles von Haruki Murakami gelesen, sicher einer meiner Lieblingsautoren, komischerweise aber keine Kurzgeschichten. Herrn Kestrels Buch nehme ich mit in den Sommerurlaub, die Ankündigungen lesen sich sehr gut.

  6. Martina Weber:

    Die Romane von Murakami sind eine ganz andere Liga als seine Kurzgeschichten. Vor ca. 15 Jahren hatte ich eine ausgeprägte Murakami-Lesephase und viele seiner Romane mit Begeisterung gelesen, auch die umfangreichen.

  7. Olaf Westfeld:

    Ich habe die immer wieder gerne gelesen, in meiner Erinnerung gehen die ineinander über, da sich ja doch viel ähnelt: Einsamer – verlassener – Mann um die 30, Tunnel, Brunnen, Wesenheiten, Musik, Tod, verschwimmende Realitätsebenen, Kochen, Alkohol, Alltag – das fällt mir jetzt spontan ein, da gibt es noch mehr… auch die letzten beiden fand ich gut (im Titel etwas mit Pilgerjahre bzw. Commandatore).

  8. Alexander Fritz:

    Den Film habe ich nicht gesehen und auch kein großes Verlangen danach, daran etwas zu ändern. Von Murakami habe ich Kurzgeschichten gelesen, die ich banal und seicht fand. Ich hatte immer das Gefühl, er wollte wie Carver schreiben, aber er wusste selber, dass er in einer Liga ungefähr drei Klassen unter Carver schrieb. Zumindest, was die Kurzgeschichten anging. Außerdem habe ich sein Büchlein übers Laufen gelesen und das hat mich, ob seiner vollkommenen Harmlosigkeit und matter-of-factness geärgert. Selbst Joschka Fischers „Lauf zu mir Selbst“ hatte da mehr Erkenntnis und Selbsterkenntnis zu bieten. Das, was ich von M. gelesen habe, war geschwätziges Geschreibsel. Zu den Romanen kann ich nichts sagen, aber alles was über 400 Seiten lang ist, weigere ich mich sowieso zu lesen. Der alte Karl May Benchmark…

  9. Olaf Westfeld:

    Witzig: ein Kollege von mir, passionierter Läufer, hat nur das Laufen Buch gelesen und war begeistert. Man kann das Geschreibsel nennen: Fokus auf das Banale des Alltags, Brote schmieren, Gemüse hacken, Schallplatten umdrehen, usw. – das kann alles getilgt werden. Knausgard treibt das noch weiter auf die Spitze. Carver – ich glaube Murakami hat ihn übersetzt – will sicher eine andere Tiefenstruktur erzielen, etwas anderes erreichen…
    Wobei: an der Stelle habe ich wirklich nur wenig Ahnung, ich habe weder das Laufen Buch, noch die Kurzgeschichten gelesen, beides nicht mein Fall. Jeder Jeck ist ja anders: ich lese gerne lange Romane, es dürfen auch mehr als 400 Seiten sein.

  10. Martina Weber:

    Alex, es gibt auch kurze Romane von Murakami, zum Beispiel „Gefährliche Geliebte“, „Afterdark“ und „Nach dem Beben“. Ich habe aber auch die ganz umfangreichen gelesen: „Mister Aufziehvogel“, „Kafka am Stand“ und auch die mittellangen. Damals hat mir das viel bedeutet. Sein Buch übers Laufen habe ich gar nicht mehr mitbekommen, da war die Murakami-Phase schon vorbei. Was das Laufen angeht, bevorzuge ich Fachinformationen. „Das Laufkompendium“ von Andrea Kortig finde ich super. Ansonsten brauche ich nur die richtige Musik, die Laufschuhe, und natürlich ein stylisches Outfit.

  11. Alexander Fritz:

    Danke für den Hinweis, Martina. Ich habe in der Tat in die neue Übersetzung von GG reingelesen – das Buch heißt jetzt umständlich „Südlich der Grenze, westlich der Sonne“ – und war sofort angefixt, so dass ich das E-Book gekauft habe. Auf jeden Fall ein ganz anderer Schnack als die Kurzgeschichten. Was das Laufbuch angeht, Olaf, habe ich es evtl. zu spät gelesen, zu meiner Marathonzeit in der zweiten Hälfte der Achtziger war Günter Herburger mein literarischer Laufgefährte. Das war dann doch etwas komplexer und phantasievoller als Murakamis direkte Prosa. Bei Murakami habe ich meist das Gefühl, dass ich alles sofort verstehe. So etwas bin ich von Literatur normalerweise nicht gewöhnt. Das macht mich skeptisch, ob der „Tiefe“.

  12. Martina Weber:

    Dass bei Neuübersetzungen aber auch immer wieder der Titel geändert werden muss! GG habe ich mehrfach gelesen. Könnte ich mir auch vorstellen, nochmal zu lesen. Es war ziemlich cool.
    „Lauf und Wahn“ – wäre mir vermutlich zu ambitioniert. Ich laufe erst seit drei Jahren regelmäßig und ein Marathon steht nicht auf meiner Liste.
    Wenn du Literatur schätzt, die du nicht sofort verstehst, könnten dir meine Gedichtbände gefallen. Leseprobe gibt es zum Beispiel auf lyrikline.org, sogar mehrsprachig.


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