Im März 2022 floh Silvestrov mit seiner Tochter und seiner Enkelin aus seinem Zuhause in Kiew, wo er seit seiner Geburt 1937 lebte, nach Berlin. Dies stellt Tatjana Frumkis ihrer Einführung im Beiheft der zuletzt bei ECM erschienenen CD Maidan voran, einem Zyklus von Chorwerken, die ab 2014 als Reaktion auf den aktuellen Konflikt zwischen der Ukraine und Russland entstanden. Er habe nichts als einen Koffer mit noch unveröffentlichten Manuskripten seiner Kompositionen aus seiner Wohnung mitgenommen. Ohne deutsche oder englische Sprachkenntnisse hält er sich seitdem in Berlin auf und wartet auf das Ende des Krieges.
Erstmals gehört habe ich Silvestrovs Musik vermutlich auf dem Album Der Bote, das im Dezember 2000 aufgenommen wurde. Es ist eines meiner allerliebsten Klavieralben, sicherlich auch, weil Alexei Lubimov darauf eine sehr eigene Zusammenstellung von Klavierstücken aus mehreren Jahrhunderten gleichwertig nebeneinander stellt, Werke aus den Jahren 1787 bis 1997, darunter zwei Silvestrov-Stücke, neben dem Titelstück Der Bote (Vestnik) noch Elegie – dessen Jahresangabe in dem CD-Beiheft falsch ist. Ich wurde stutzig, weil in der wenige Jahre zuvor bei ECM veröffentlichten Piano-CD Variations von Ingrid Karlen – dem ersten Mal, dass eine Silvestrov-Komposition auf einer ECM-Produktion zu finden war – die Jahresangabe 1967 lautet.
Tatsächlich befand sich Silvestrov 1976 bereits in einer sehr anderen künstlerischen Phase und hätte das Stück in den Siebzigern wohl nicht mehr so geschrieben. Karlen muss eine frühe handschriftliche Fassung der Notation gehabt haben, so dass ihr viele der Detailinformationen fehlten, die Silvestrov bei seinen Kompositionen wichtig findet, um seine häufig sehr simpel scheinenden Kompositionen richtig zu erarbeiten. Silvestrov war damals auch nicht in der CD-Aufnahme involviert; Manfred Eicher lernte er erst später kennen.
Lubimov hat als langjähriger Freund des Komponisten (er hat Lubimov mehrere, teils ihm sehr wichtige Werke gewidmet) entsprechend ein tieferes Verständnis dieser Noten. Großartig, wie er eines der letzten Stücke CPE Bachs neben John Cages Frühwerk In a landscape stellt, gefolgt von Nostalgia des Armeniers Tigran Mansurian, ebenfalls einer der durch ECM-Veröffentlichungen populär(er) gewordenen Komponisten des einstigen weiteren Sowjetraums. Die Musik auf diesem Album wirkt frappierend zeitlos, besonders das älteste Stück gegenwärtiger als manch später entstandenes.
Silvestrovs Klavierstück Der Bote (Vestnik) wurde in der Musikkritik [ich habe unlängst mehrere Besprechungen aus den letzten gut zwanzig Jahren gelesen] sehr häufig als Mozart-Zitat aufgefasst und beschrieben. Silvestrov widerspricht diesem Verständnis. Mit der Lesart, diese Musik ließe sich als Dialog mit einer anderen Welt, vielleicht auch mit dem Jenseits, der Vergangenheit verstehen, kann er hingegen gut leben, wenn ich ihn richtig verstanden habe. Der Bote wurde in den zwei Jahrzehnten seit Lubimovs Ersteinspielung bereits vielfach von anderen bekannten Pianist/innen interpretiert und eingespielt, darunter ein zweites Mal, diesmal mit der fragilen Orchesterbegleitung, von Lubimov auf der exzellenten ECM-CD Bagatellen und Serenaden (2007), auf der auch Silvestrov selbst am Flügel sitzt, seine Bagatellen spielend. Hélène Grimaud hat – neben Silvestrovs Zwei Dialoge mit Nachwort – ab 2017 sowohl die Soloversion als auch das Arrangement für Klavier und Streichorchester gespielt, und im Januar 2020, kombiniert mit Mozart-Werken, für die Deutsche Grammophon als Album eingespielt. Das Album trägt – Überraschung – den gleichen Titel wie Lubimovs exakt 20 Jahre zuvor eingespielte CD-Produktion: The Messenger.
Leider wurde Silvestrov an den Grimaud-Einspielungen nicht persönlich mit einbezogen (zuletzt veröffentlichte DG eine Grimaud-CD mit 12 seiner „Stillen Lieder“). In der Gesamtheit ist es ein schönes Album, so äußert sich der Komponist selbst. Allerdings merkt er häufiger an, dass Veröffentlichungen bzw. Interpretationen seiner Werke nicht immer die nötige Aufmerksamkeit für all die wesentlichen Details zukommt – scheinen die Stücke auf dem Papier für viele Musiker/innen (und auch Hörer/innen, wie man liest) doch allzu simpel. Selbst einzelne ECM-Alben kann man kritisch sehen: Die Sechste Sinfonie (2007 veröffentlicht) etwa kommt eine Spur zu langsam (Silvestrov war bei der Aufnahme nicht anwesend), und zu dem Album Hieroglyphen der Nacht (da wirkte er an der Aufnahme im Jahr 2013 intensiv mit) äußert er sich kritisch darüber, wie die beiden Einzelinstrumente in der Mischung ins Verhältnis gesetzt werden. Ich kann mir gut vorstellen, dass einen Komponisten solche Dinge beschäftigen, vielleicht sogar frustriere; schließlich bleiben solche Ersteinspielungen quasi für die Ewigkeit. Das absolut genaue Hören und das sehr aufmerksame Achten auf alle noch so kleinen Details sind für Silvestrovs Musik essenziell.
Sehr glücklich dürfte er mit der zuletzt bei ECM zu seinem 85. Geburtstag veröffentlichten CD mit Chorwerken aus den Jahren 2014 bis 2016 sein, darunter seiner unmittelbaren Reaktion auf den Maidan 2014.