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2023 12 Apr

Zur Küchenpsychologie und ihrer Berechtigung

von: Ursula Mayr Filed under: Blog | TB | 2 Comments

 
 

Das Schweigen der Lämmer

 

Ein Film der ständigen Grenzüberschreitungen und wechselseitigen Durchdringungen.
Auch die Kamera penetriert – Gesichter, Augen, in langen intensiven Einstellungen. Sie focussiert Grenzen, Gitterstäbe, Trennwände, die nichts zu trennen scheinen. Die Personen scheinen getrieben, die Grenzen ihrer Gefängnisse und die des eigenen Körpers zu überwinden, den anderen mit Worten zu durchbohren oder durch Gitterstäbe zu verletzen, sich in seinen Kopf zu begeben, sich den anderen im Wortsinne einzuverleiben oder in seine Haut zu schlüpfen.

Das ist der Trieb zum Kannibalismus: Sich den anderen auch physisch und nicht nur symbolisch einzuverleiben und zu verstoffwechseln, bis schliesslich keine Grenze mehr besteht – eine grandiose Verschmelzung bei Menschen, die keine Symbolisierungsfähigkeit entwickelt haben und im Konkretismus leben. In vielen Völkern isst man Tierhoden für die Potenz, oder zermahlene Tigerknochen und anderes magisch-phantasmatisch Aufgeladenes. So ist der Film ein Pandämonium an Grenzüberschreitungen in dem Wunsch, sich mit dem anderen zu vereinigen und in ihm eine unvergängliche Spur zu hinterlassen, zum Guten wie zum Bösen. Eine Pervertierung des urmenschlichen Wunsches, im anderen als Bild vorhanden zu sein und den anderen als inneres Objekt mit sich zu tragen.

Ein Patient in einer Therapiegruppe erzählte einen Traum, in dem er den Körper seiner Mutter, die ihn nie wirklich wahrgenommen hatte, aufschnitt und hineinkroch wie der Revenant in das tote Pferd mit den wiederholten Ausrufen „Ich will endlich rein“! Aber nicht zum Schutz oder als regressive Rückkehr in den Uterus, nicht um die Mutter zu zerstören (Küchenpsychologie), sondern aus dem Wunsch heraus, endlich wahrgenommen und als überdauerndes Bild in der Seele und den Gedanken der Mutter vorhanden zu sein. Von diesem Wunsch und seinen Aberrationen handelt dieser Film.

Was stört ist die Deutung von Hannibal Lecter, Clarice Starling sei nur darauf erpicht, Opfern zu helfen, weil sie die Lämmer ihrer Pflegeeltern nicht vor der Schlachtung hatte bewahren können. Eindimensionale Küchenpsychologie, ärgerlich in einem Film von beachtlichem Niveau. Oder nicht? Vor 30 Jahren wurde hier im Landkreis ein bekannter und beliebter Psychiater und Psychotherapeut von seinen beiden Söhnen (19 und 20 J.) brutal erschlagen. Der dritte Sohn, damals 12, war zugegen, aber nicht an der Tötung beteiligt. Der Fall schlug hohe Wellen und wurde sogar im SPIEGEL kommentiert.

Vor einigen Jahren brachte mir eine Patientin einen Brief ihres eigenen Anwalts, mit dem sie sich wegen des Honorars verstritten hatte und der ihr nun Sorgen bereitete. Der Anwalt forderte sie in sehr aggressivem Ton zur Begleichung auf, er betonte, er sei überall gefürchtet und auch höhere Kreise wüssten, wie „gefährlich“ er sei, alle würden sich vor ihm in Acht nehmen. Er würde sie schützen, wenn er das nicht mehr tue, würde sie von der Streitpartei dann ohnehin gelyncht werden.

Das Fazit war: Wenn ich meine schützende Hand von dir abziehe, wirst du erschlagen. Der Anwalt war der damals Zwölfjährige, der seinen Vater nicht vor dem Totschlag hatte schützen können und dies jetzt kompensatorisch wahnhaft-megaloman verarbeitete. Einige Zeit später wurde ihm der Anwaltstitel wegen seiner Ausfälle entzogen. Küchenpsychologie hat also auch manchmal ihre Berechtigung. Man verachte nicht die einfachen Erklärungen – die Lösungen sind dann freilich weniger simpel.

 

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2 Comments

  1. Michael Engelbrecht:

    Was war das Motiv der beiden Söhne für den Mord?

    Die anschliessend erzählte Fallgeschichte ist ja unglaublich. Wie aus einem Groschenhorrorroman.

  2. Ursula Mayr:

    Der Vater habe nach der Trennung die Familie tyrannisiert, Gewalt ausgeübt. Mehr hat man nie erfahren, auch nicht die Rolle der Mutter und ihrer Delegationen.


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