Archives: April 2023
Vorab: ich bin kein Brecht-Fan, menschlich gesehen finde ich den Typen nicht den Brüller, schätze aber durchaus seine Lyrik und viele seiner Machwerke. Eines der weniger bekannten – durch Michas Ratequiz habe ich mich daran erinnert – ist die Piratengeschichte Bargan lässt es sein – ein absolut schräger Titel, der im Endeffekt nichts aussagt. Oder alles … Platz für Phantasien; wie immer wenn nichts ausgesagt wird, entsteht ein füllbarer Raum.
Germanisten haben sich übrigens interessiert dieser Geschichte angenommen, im Netz geistern reichlich Seminararbeiten dazu durch das Virtuelle auf der Suche nach einem Leser. Eine Geschichte über die Liebe, wie sie oft sein kann – keine weisse Wolke unter einem Pflaumenbaum, nicht süss und romantisch, mit zarten Schmetterlingsflügeln gegen die Bauchwand pochend wie ein werdendes Kind oder am Kiel der Titanic entflammend, sondern wild, böse, unbezwingbar, und nicht selten tödlich – und sie lässt einem keine Wahl.
Bargan lässt nicht sein, was er besser sein lassen sollte, ein Mann „eine Anstrengung Gottes, geboren den Himmel zu erobern“ – er lässt sich von der Liebe zu einem asshole ruinieren. Das ist fesselnd zu lesen und zu hören – es existiert eine geniale Hörspielfassung, gelesen von Ulrich Wildgruber, begleitet von Sturmgebraus auf hoher See als Synonym für tosendes Gefühlsleben.
Und die Gedanken wandern zurück zu den Lebensfragen, die in der Jugend an uns nagten und immer noch nicht gelöst sind, weil nicht lösbar: warum verliebt man sich nicht in den netten Kerl, bei dem alles passt und mit dem man ein wundervolles Leben im Gleichklang der Interessen führen könnte? Warum macht es einfach nicht zoom, und alles ist gut? Warum bleibt es beim besten lebenslangen Kumpel? Stattdessen zoomt es dann zuverlässig beim grössten Vollpfosten der ganzen Uni, mit dem man nicht einmal ein speed-date bis zum Glockenton überstehen könnte, ohne ihm eine zu semmeln, wenn – ja wenn – einem nicht Amors Pfeil die Pelle penetriert hätte?
Sind wir ein Opfer von Triggern früherer Bindungen? Ein Spiel von jedem Druck der Luft? Streiche, die uns die Neuropsychologie spielt? Einem Hereinbrechen von etwas Transzendentem in unsere Rationalität? War man in einem früheren Leben in Leidenschaft verbunden? Sonstige Atavismen …? Und ist das Ganze gut so wie es eben ist oder wärs sonst langweilig – ohne ein Mysterium, das bleibt wenn alle anderen sich zusehends in den Zeitläuften und ihrem wissenschaftlichen Fortschritt auflösen? Weiss jemand was!?
Vagabound – Dominic Miller 6/10
At First Light – Ralph Towner 8/10
And I Love Her – Marc Copland 8/10
The Elements: Water – Dave Liebman 8/10
Voices – Marc Copland 8/10
Got the Keys to the Kingdom – Chris Potter 7/10
Another Place – Marc Copland 8/10
Once Around The Room – Jakob Bro 7/10
New Standards Vol. 1 – Terri Lyne Carrington 8/10
Open Land – John Abercrombie 9/10
Carnival Celestial – Alexander Hawkins 7/10
Seit Längerem schon verspürte ich Lust und Neugier, mal wieder in der Landschaft der Alben und Elfen ausgiebig rumzuströmern. Dank allgegenwärtiger Verfügbarkeit von Datenstrom-Zuflüssen – wir leben ja im medialen Paradies! – blieb nur die Frage, wie eine akzeptable Streaming-Qualität in der heimischen Klanghöhle herzustellen sei. Ein zündender Einfall brachte die Lösung: kein Schnickschnack und kein sündhaft teurer Receiver musste extra her – nein, mittels kurzen Geistesblitzes wurde zwischen Laptop und höherwertigen headphones ein aus MP3-Zeiten vorhandener mobiler Kopfhörerverstärker geschaltet und dynamisch kraftvoll ging die Post ab. Das Ritual: am frühen Abend ein Album zur Gänze konzentriert hören, aus dem Bauch heraus intuitiv ausgewählt, ohne lange zu überlegen. Denn merke: genau das, was interessiert, ist von Interesse! Die skizzierten obigen Ziffern sind keine Bewertung, lediglich ein subjektiver Hinweis auf die Wirkung (impact) während der Rezeption. Alle genannten Alben sind durchweg hörenswert. John Abercrombies Open Land mit klasse Besetzung kannte ich noch nicht. Hat mich umgehauen, Samadhi-Faktor Nine of Ten.
2023 30 Apr
Die Klanghorizonte im Juli
Manafonistas | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Comments off
Craven Faults
Dudu Tassa & Johnny Greenwood
Rickie Lee JonesOld and New Dreams (ECM Vinyl reissue)
Dedalus Ensemble plays Eno
Josephine Foster: Domestic Sphere
Matthew Herbert The HorseCalifone: Villagers
Jan Bang & Eivind AarsetMeiko Kaji
2023 29 Apr
Ein paar Skizzen zu Christian Petzolds Film ROTER HIMMEL
Martina Weber | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | 16 Comments
Das malsehnkino im Frankfurter Nordend war gestern bis auf den letzten Sessel belegt, das Publikum größtenteils Ü65, darunter vermutlich einige jahrzehntelange Christian Petzold-Fans. Kein Spoiler hier, nur ein paar unzusammenhängende Impressionen. Mich selbst hat es gestört, dass ich die ersten fünf Minuten der Handlung durch den Trailer und Querlesen von Texten schon kannte, und einige Bilder, die später auftauchten, auch. Ich habe jetzt auch erstmal nichts gelesen, auch nicht den Flyer zum Film, und die Interpretation des youtube-Filmkritikers neben der grünen Lampe noch nicht angehört. ROTER HIMMEL ist ein ruhiger Film, sehr gute Schauspieler, sehr gute Dynamik, überraschende Wendungen bis zum Schluss. Die Spannungskurve liegt eher subkutan. Der Film hat etwas von einem Eisberg, der einen beträchtlichen Teil seiner Masse verbirgt. Das Unsichtbare, das Erahnte, ist seine Stärke. Wer sich nur ein bisschen informiert hat, kennt wenigstens die Ausgangssituation: zwei Männer, Mitte bis Ende 20, reisen in ein Ferienhaus an der Ostsee. Bis zum Ende blieb mir unklar, warum sie gemeinsam in dieses Haus gereist sind, denn sie wirken nicht wie Freunde. Die beiden und auch die wenigen anderen Hauptpersonen befinden sich – jede Person auf andere Art – in ihrem Leben in einer Art Zwischenphase, und sie gehen verschieden damit um. Der eine der Männer liest am Stand ein Buch, das es, soweit ich mich umgeschaut habe, nicht gibt: Schatten von Reiner Lorenz. Musik wird auch in diesem Film nur spärlich eingesetzt. Im Ferienhaus gibt es einen Plattenspieler, die Melodie erkannte ich aus den Klanghorizonten, ist lange her, dass Michael sie spielte. Im Abspann wurden Tarwater und Ryuichi Sakamoto genannt. Und wenn hier ein Tennisball an eine Hauswand geworfen wird, ist es eine wunderbare Reminiszenz an Stanley Kubricks Shining. Gepflegt wird in ROTER HIMMEL auch die Tradition, eine Geschichte zu erzählen, ein Gedicht aufzusagen und ein altes Fahrrad mit zu vielen Einkaufsnetzen zu behängen. Ein paar Kleinigkeiten empfand ich als nicht glaubhaft, daher nur viereinhalb Sterne.
2023 28 Apr
Die Reise in den Norden, etc.
Michael Engelbrecht | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | 9 Comments
Es wird ein Fest. Hoffentlich. Nach den JazzFacts und einer Reise mit der Linken nach Berlin (eine 4-Tage-Tour – ich zähle mich zu den Grünen, bin aber bin stets offen für den runden Tisch, ausser bei der AfD, die FDP halte ich gerade so aus, das gehört zur demokratischen Kinderstube), geht es bald in den Norden. Hierhin und dorthin. In Kiel werde ich etwas verweilen, mit einem Freund einen eintägigen Segeltörn machen, ein Fischrestaurant meines Vertrauens aufsuchen, und ein wenig an der Küste die Strandkörbe testen. Wenn ich was Schönes finde, geht es anschliessend nach Sylt oder – ich bin ja flexibel – nach Amrum, und dann ist der späte Frühling, in welchem der BVB wieder nicht Meister wurde, auch schon vorbei. Ich habe meinen alten Segelschein gefunden, eine signierte Erstausgabe von (ein Syltfreund!) Max Frischs Mein Name sei Gantenbein und zwei nie gelesene Kriminalromane von Cornell Woolrich – auf geht‘s!
Hochwertiges (hoffe ich) für Strand, Parks, und einsame Hotelnächte (shortlist):
Max Frisch: Mein Name sei Gantenbein
Cornell Woolrich: Rendezvous in Schwarz
Cornell Woolrich: Die wilde Braut
Percival Everett: Die Bäume
Rickie Lee Jones: Last Exit Texaco*
James Kestrel: Fünf Winter
Arno Frank: Seemann vom Siebener**
Deepti Kapoor: Zeit der Schuld
Robert Louis Stevenson: Die Abenteuer des David Balfour
* so gut, dass man es zweimal lesen kann. dass das Teil nicht übersetzt wird, ist mir schleierhaft!
** näher komme ich wohl nicht an den hier allseits beliebten Film „Roter Himmel“
In my early childhood „Day Oh“ was the first song that totally caught me, and it stayed with me forever. I remember very lively the home scene when his voice’s call came from the radio. It was the call and the cadence of Belafonte’s voice „Day Oh, day hay Oh …“ its combination of friendliness and decisiveness!
I want to know what became of the changes. Du sitzt auf dem back seat, ihr fahrt über den Ventura Highway und KPFK ist eingeschaltet. Du hörst einen Song, die Stimme gefällt dir, du lehnst dich nach vorn und fragst den driver: What’s the name of the singer? Jackson Browne.
Du googelst noch im Auto Jackson Browne, es läuft „The Pretender“. In deinem Condo hörst du den Song alleine auf deinem Dell. Merkst, dass du auf den schlanken smarten Mann an der Gitarre starrst. Wow, what a beauty! Deine Augen wandern nach links in das warme Sonnengesicht von David Crosby, neben ihm swingt der forever young man Graham Nash, former lover of Joni in Laurel Canyon days. Steven Stills and others on the strings. Nash and Crosby join in with impeccable harmonies. What a caressing voice, what a minimalist aesthetic man Jackson is.
What is a pretender? What is the meaning of his song, which he wrote, when he was 28? Morgens steht der Mann auf, geht zur Arbeit, abends: he strolls around in the streets. War’ s das? Job, Haus, Heirat, Kinder? Wo sind die Aufbrüche, wishes, visions? Vielleicht ein Girl suchen, mit dem man lachen kann? “And we’ll fill in the missing colours / in each other’s paint by number dreams.”
I want to know what became the changes
Bin ich ein Pretender? Jahrzehntelang demonstriert für Freiheit und Frieden, und jetzt für Waffenlieferung sein? Warum haben wir nie diskutiert, dass auch Waffen einzusetzen sind, wenn es um Menschenrechte geht. Warum fällt es uns so schwer, Verhandlungen mit weitergehendem Krieg einzuleiten?
Jahrzehntelang im Kaiserstuhl gegen Atomkraft demonstriert. Jetzt sind alle Atomkraftwerke abgeschaltet. Warum freue ich mich nicht wie verrückt? Warum die verhaltene Befriedigung aufgrund der Aussicht, dass nicht mehr Atommüll versteckt werden muss? Bleibt die Freiheit, ich versuche sie zu leben, insofern also kein Pretender?
2023 25 Apr
Dear Rickie Lee Jones!
Michael Engelbrecht | Filed under: Blog | RSS 2.0 | TB | Comments off
Es hat etwas leicht Surreales, Rickie Lee Jones einen Brief zu schreiben. Macht man ja auch nicht alle Tage. Natürlich landet er nicht in ihrem Briefkasten in New Orleans, wo sie nun schon einige Jahre lebt. Und auch fischt ihn nicht ihr neuer „Boyfriend“ aus dem Postkasten. Dieser „Brief“ gelangt über das deutsche zum amerikanischen Management, und wenn RLJ gerade im Urlaub ist, wird überhaupt nichts passieren. Auch hat sie womöglich andere Sachen im Kopf, als einen reichlich verspäteten Interviewwunsch zu bedienen. Dennoch bin ich durch meinen „Brief“, das Hören der neuen Platte, und das exzellente Interview in UNCUT, im Thema drin.
Und was für ein herrlich verhautes Porträt ist das denn bitteschön auf dem Cover der neuen Langspielplatte!? Die gute alte Tante amerikanisches Liederbuch bedeutet für RLJ übrigens keinesfalls, auf Nummer Sicher zu gehen – vielmehr besitzen ihre Interpretatione oftmals das berüchtigte „gewisse Etwas“. Ich habe ja nicht aus reiner Nostalgie meine letzte Nachtsendung der Klanghorizonte (auch schon wieder eine Weile her) mit ihrer Version des Steely Dan-Songs „Showbiz Kids“ begonnen. Und vor Jahr und Tag las ich ihre sehr offene, wenig geglättete, auch sprachlich überzeugende Autobiografie.
Vor Wochen machte ich mir den Spass einer Fantasie: wie der alte Jazzlover Julio Cortazar einst durch die Strassen des Quartier Latin flanierte, mit Rickie Lee Jones‘ Debütalbum in einer Papiertüte. Und ich habe selbst eine seltsam lebhafte Erinnerung an den Moment, an dem ich in Würzburg morgens im Cafe Michel die Süddeutsche Zeitung aufschlug, und eine fabelhafte Besprechung des Albums von Werner Burkhardt las. Im folgenden also, leicht gekürzt, mein „Brief an Rickie“. Darin, hier nicht ausgeführt, eine kleine Abschweifung: ich erzähle ihr von meiner Begeisterung für jenes erste Albums des „Trio Tapestry“, das im gleichen Studio aufgenommen wurde wie ihre „Pieces Of Treasure“. Und man stelle sich vor: mein kleiner Text animiert sie, sich die LP zu besorgen: als die Scheibe dann wieder und wieder auf ihrem Plattenteller läuft, beschliesst sie, Kontakt zu dem Trio aufzunehmen. Oder sie singt einfach oder summt manchmal zu bestimmten Passagen der Musik, das allein wäre schon eine schöne Geschichte.
I’m a bit late in the rallye of interviews, but I hope we might get it done somehow. JAZZ FACTS is a monthly jazz magazine at the Deutschlandfunk in Cologne, here my plans for the evening show (…) – now the questions.
One) In MOJO Sylvie Simmons writes that you see yourself as a jazz singer though you have more been „marketed“ in the pop corner. Is that so that from start on you had that picture of yourself? I saw you more (and i am not interested in labeling) moving in between genres …
Two) In a revealing interview of Laura Barton, you tell a bit about your life and home in New Orleans, and that you could‘ve recorded the album over there, but the moved to the famous „Sears“ studio in NYC for this recording. How did you experience the ambience of Sears in supporting the moods and vibes your were looking for?
Three) Two months ago I wrote about that special album of Eden Ahbez, „Eden‘s Island“, that has now been reissued, and about the life of this outsider. Now as someone who is looking for different angles and new perspectives on old songs (from the American songbook) what was it you wanted to bring to focus here?
Four) Please give some insights into your reading of „It‘s All In The Game“. How do you personally connect to this track, what doors ot depths were maybe somehow hidden in interpretations from the past. And it has reason the album has sing song as a „closer“.
Five) Your oldtime companion Russ [from the first two albums, „Rickie Lee Jones“ and „Pirates“] recently spoke about working with you, and that, if you‘re on to something, one better goes put of your way. He surely said it with a smile. Has there been such a moment at Sears in NYC, where you wanted to make something happen in a song and had to insist on it, kind of?