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2023 2 Mrz

Zaubern können

von: Jochen Siemer Filed under: Blog | TB | 7 Comments

 

In den Träumen, die ich erinnerte, gab es zwei Sequenzen, die sich häufig wiederholten: zum Einen die Panik, kurz vor dem Abitur völlig unvorbereitet zu sein und der schockierenden Tatsache gegenüberzustehen, nicht ein einziges Mal in all den Jahren meinen Hausaufgaben selbst gemacht zu haben und nun gnadenlos geprüft zu werden. So muss Odysseus sich gefühlt haben in so mancher Meeresenge. Meistens war der folgende Tag die deadline, es gab also nichts aufzuholen. Ähnlichkeiten mit realen Vorkommnissen sind nicht rein zufällig: ein Prüfer meinte mal, da habe wohl der „liebe Gott“ mitgeholfen. Summa summarum fand man sich so manche Nacht senkrecht, schweissnass und hellwach im eigenen Bettgemach, sortierte sich dann aber recht schnell: „Huiuiui, nochmal gutgegangen!“. Ganz das Gegenteil dies: mittels Autosuggestion konnte man fliegen, konnte jeder Bedrohung flugs entweichen und das mit grosser Lust. Man hob ab, nur bei nachlassender Gedankenkraft verlor man an Höhe. Der Wunsch zu fliegen ist ja ein menschlicher Archetyp. Ich hatte den Traum jetzt lange nicht mehr, nicht nur diese Potenz schien sich abzuschwächen, irgendwann aus irgendwelchen Gründen. Was aber bis heute bleibt, ist eine Verwandtschaft zu jenem Erleben, dass in den flow von Wahrnehmungen führt. Man muss den Sprung vollziehen, weg vom begrenzten Tellerrand. Dann stellt man mit Erstaunen fest: das Leben wird trotz kurzzeitiger Perspektiv-Verengungen plötzlich wieder zum reizvollen Parcours. Es ist wie auf dem Jahrmarkt: „Schau mal dort, und hier will ich noch rein!“ Dabei verliert und gewinnt man sich zugleich. Es ist so einfach, wie die Simple Minds es singen: „First you jump, then get wings.“ Der Soziologe Dietmar Kamper schrieb dazu: „Das Leben lebt nicht. Man muss zaubern können.“ Und der unvermeidliche Martin Heidegger sprach vom Rettenden, das bei Gefahr stets mitwächst.

 

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7 Comments

  1. Lajla:

    Einer, Jochen, kann gut zaubern und das Leben dadurch meistern: Michael Schneider.

    Er ist der jüngere Bruder von Peter Schneider. Die schreibenden Brüder rivalisierten, bis Michael entdeckte, dass er richtig gut zaubern kann und sein Bruder eben nicht. Darüber schrieb er dann ein Buch: „Das Spiegelkabinett“ – und wurde dafür hoch gelobt.

    Zauberhaft.

  2. Jochen:

    Danke für den Tipp, Lajla.

    Ich habe seinen Essay zu 9/11 gelesen, sehr interessant.

  3. Martina Weber:

    Der Text selbst ist ein Zaubertrick. Ich kann mich noch genau an diese Träume vom Fliegen-Können erinnern, die ich als Kind oft hatte: Ich stand auf einem Dach eines Hauses, breitete die Arme aus und flog davon. Auch in Gefahrensituationen konnte ich auf diese Weise entkommen. Dieses Gefühl war magisch.

    Das Zitat von Dietmar Kamper habe ich abgeschrieben.

  4. Ursula Mayr:

    Ich fliege mit einer Art Rückstoss, gebe Energie nach unten ab und schon gehts hoch. Sensationell. Am schönsten ist das Treppab – gehen: Schwung nehmen und dann nur auf jeder 10 Treppenstufe kurz aufsetzen.

  5. Jochen:

    Das Zitat hatte ich allerdings etwas abgewandelt, weil es dann besser klingt im Textfluss.

    Um der Korrektheit willen:

    „Das Leben lebt nicht. Man muss ihm helfen. Das nannte man früher Magie.“

    (DK, Im Souterrain der Bilder)

  6. Michael Engelbrecht:

    Dann haben wir dich zitiert, deine Paraphrasierung 😅

  7. Olaf Westfeld:

    Das Original ist ja fast so schön wie die Paraphrasierung.


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