1 – Kinder der Sonne – Im letzten Jahr wurden – auf CD und LP – die schon ein paar Jahre zurückliegenden Zusammenarbeiten von Alva Noto und Ryuichi Sakamoto neu aufgelegt. Soooo gut! Selbst das kurze High damals gern gepriesener „clicks & cuts“ stand der Zeitlosigkeit dieser Klänge nicht im Weg. Ein perfektes Duo, das auf kuriosen Wegen auch den Weg fand zu dem berühmten Film mit dem gefährlichen Grizzly-Bär, dessen Name mir gerade nicht einfällt. Uschi mochte den Film nicht so, und meine Erinnerung ist zu vage, um da mitzureden, aber ich erinere mich, wie raffiniert diese alles andere als hollywoodtauglichen „soundtracks“ den bewegten Bildern eine ganz andere „Unter-Welt“ beimischten! Und nun also, in Kürze, ein neues Album von Alva Noto, solo, „Kinder der Sonne“, eine Theatermusik, die das Theaterstück nicht braucht, und bestens auskommt mit Dunkelheit, Kaminlicht, und einem Paar Kopfhörer. Ladies and gentlemen, ich stelle Ihnen jetzt mal en passant und möglicherweise das eine oder andere Ihrer Lieblingsalben des Jahres 2023 vor – Sie kennen sie halt nur noch nicht….
2 – Der grosse Coup – Heute morgen erhielt ich aus Oslo, von Rune Kristoffersen, dem Chef von Rune Grammofon, ein opus magnum (in jeder Hinsicht), das dem Appetizer auf der homepage des Labels mehr als gerecht wird. Das Fire! Orchestra: ECHOES. Auch als limitierte 3-LP-Edition bestellbar. Eine Kanne grüner Tee, gut ausgeruht (ich war gestern so ausgepowert, dass ich nicht zu Robert Forsters Konzert gefahren bin) und dann, eine Reise! So wie ein anderer Haudegen, Peter Brötzmann, so manche Hörer überrascht und begeistert hat, die nicht zu seinem angestammten Kreis zählen, mit seinem letztjährigen Auftritt in Berlin (Henning ist hier der Insider! – auf ACT wird es beizeiten rauskommen), so gibt es auch von Mats Gustaffsson, dem alten Schweden (so alt ja nun auch wieder nicht) immer wieder gute, zwischendurch herausragende Alben, die genauso wie bei Brötzmann das dumme Etikett „old school free jazz“ Lügen strafen. Reichhaltig, sehr, sehr, sehr reichhaltig! Es rockt. Es tanzt. es wirbelt. Gehen Sie mal durch die Geschichte des jüngeren europäischen orchestralen Jazz, und erinnern Sie sich an Sternstunden… dies hier ist auch eine, und gleich eine doppelte. Ein Burner, von Anfang bis Ende. Ich bin absolut begeistert.
An instant classic, nothing less. A hot contender for one of my three jazz (and more) albums of 2023. It will rain rave reviews. In the words of RG HQ, and every sentence a matter of fact:
„Now in its 14th year, the unique and constantly evolving Fire! Orchestra is back with their most ambitious work so far as well as their largest line-up, counting a mostly Scandinavian cast of no less than 43 members. While the popular and widely praised Arrival is a highlight in both our and the band´s catalogue, this monumental triple album ups the ante. Echoes is a two hour work of epic proportions; full of beauty, energy, haunting passages and stunning musicianship, embracing progressive rock, contemporary avantgarde, cosmic free jazz, ethnic experimentalism and more. Making all of this flow in such a natural way from beginning to end is a brilliant achievement. The album closes with a guest appearance from the mighty Joe McPhee on tenor sax (…). Recorded at the legendary Atlantis studio in Stockholm and beautifully mixed by Jim O’Rourke, Echoes comes across as a very open, breathing, organic, detailed and dynamic album. We would also like to point out that the vinyl edition sounds great, cut by Lupo in Berlin and manufactured by Optimal Media.“
3 – Das Schweben der Zeit – Und gleich ein weiteres überfliessendes Album… immens viele Quellen zapft Joshua Abrams, der Meister der Guimbri, in den letzten Jahren, mit seiner „Natural Information Society“ an! Manche erinnern sich, wie er sein letztes Doppelalbum „Descension“ nachts in einem „abgespaceten“ Monolog in den Klanghorizonten vorstellte. Ein klanglich herausragender Auftritt aus dem Londoner Cafe Oto, mit Evan Parker in Hochform! Und nun erscheint m April Joshuas neuer Streich, wieder bei den fliegenden Holländern Klaus und Werner von Aguirre Records – und wenn alles läuf wie geplant, wird Niklas Wandt, in meiner Ausgabe der Jazz Facts am 4. Mai im Deutschlandfunk, das Doppellabum „Since Time Is Gravity“ vorstellen. Ein Stück daraus zur Einstimmung.
4 – Diskrete Musik für den Purcell Room – Alles free-style und far-out, die Alben auf diesem Streifzug, wie geschaffen für die Klanghorizonte. Einige von Brian Enos Ambient-Klassikern (u.a. „Discreet Music“ und „Thursday Afternoon“), nun also dargeboten von einem ausgefuchsten klassischen Ensemble, mit rein akustischen Instrumenten – das könnte leicht „high brow“ rüberkommen, auch „camp“. In diesem Fall ist es schlicht und ergreifend schlicht und ergreifend!
Wie Laurie Anderson mal sagte, legte einst „Bang On A Can“, mit ihrer Deutung von Brians Flughafenmusik, eine stellenweise abgründig melancholische Schicht frei – unter vermeintlich funktioneller Musik. Nun, diese feine „Melancholia“ (jenseits subdepressiver Schwingungen, also erhebend / elevating / anti-depressiv) ist auch im Original durchweg spürbar. Es war ein unvergesslicher Abend, einst Bang On a Can in den Jameos del Agua zu erleben – und dann, after hours, mit einem der Jungs der Band in einer Bar in Arrecife draussen im warmen Wind aus Afrika zu stehen, Caipirinha zu trinken, und noch später mit Angelica und Sylvia aus Puerto del Carmen in einer Disco mit wunderbar abgefuckter Mucke in den Morgen zu tanzen!
5 – Xavana, mon amor“ – Und wenn wir schon auf den Kanaren sind, warum dann nicht diese Plattenlese des Frühjahrs beenden mit einer Rarität aus Brasilien, und einer weiteren kleinen Zeitreise. Some low brow excellence! 😂 Es war das Jahr 1981, da erschien der originale Soundtrack des Soft Porno-Klassikers „Xavana, Uma Ilha do Amor“ mit einer verdammt gut aufgenommenen Mischung aus Jazz, Bossa Nova und Psych. Kinder der Sonne, Teil 2. Hareton Salvanini kreierte eine Platte voller grooviger Gitarren, feiner Streicher und delikater orchestraler Klänge. Der polnische Filmemacher Zygmunt Sulistrowski leistete damals Pionierarbeit, indem er Low-Budget-Softpornos an exotischen Orten drehte. Am 27. Juli ist Hochsommer, und meine nächste Ausgabe der Klanghorizonte. Das wäre doch ein Auftakt nach Mass, oder!? Und danach: „Last Tango In Paris“, von Gato Barbieri.
fade-out with Gavin Bolton: „My dad had this album when I was 12 years old, I used to listen to Salvanini’s albums in the lounge after school the late afternoon sun streaming through the windows, my mind drifting off to exotic destinations, sun dappled, palm fringed beautiful beaches, smell of the ocean and coconut suntan lotions, bronzed bodies, gentle laughter and ocean breezes, drinking iced fresh fruit drinks, distant laughter of people. Years later I made it my life to seek out these locations. Today I live on a beautiful island in the Gulf of Thailand. My dreams became my reality.“
6 – Follow the tapestries!“ – re-entry with ECM: two years ago, and slightly revised with actual feelings and thoughts about it, these are my nine favourite jazz albums (jazz in the widest sense) of 2021, and this look into the rear mirror would not make too much sense without the announcement that TRIO TAPESTRY, one of my beloved saxophone trios still alive and kicking, will release their third album, at the beginning of June. After they recorded the first one in New York, they travelled to the South of France for the follow-up, and now did „Our Daily Bread“ in Lugano. Reading my old review on „Garden of Expression“, you might want to start or continue your personal journey through this trio‘s instrospections and intensities!
- Floating Points w/ Pharoah Sanders and LSO: Promises
- Nik Bärtsch: Entendre
- Pino Palladino and Blake Mills: Notes with Attachments
- Natural Information Society: Descension (Out of our Constrictions)
- Portico Quartet: Terrain
- Trio Tapestry: Garden of Expression*
- Anthony Joseph: The Rich Are Only Defeated When…
- Andrew Cyrille: The News
- Kari Ikonen: Impressions, Improvsations, and Compositions
*Garden of Expression: Trio Tapestry‘s sense of melody, space and letting-go is immaculate. I will always remember their first record, one of the jazz miracles of 2019. For me, it was the best album Joe Lovano ever made, with Manfred Eicher’s perfect sequencing of the tracks. Listen to the vinyl: suspense, sound and silence in perfect union. It is quite natural that this follow-up lives up to the high standard of the first meeting in New York. Now with a deeper touch of Provence pastel and colours at dusk. You can think of every jazz writing cliche of praise, from „filigree“ to „elemental“, and be sure that Lovano, Crispell and Castaldi are breathing new life into it. After the first three pieces of pure baladry (written by soul, not by the book), the appearances of sound take more and more adventurous side steps, from moments of pianistic unrest and upheaval, to an exploration of metal and sound in Castaldi‘s drum figures. A zen-like purity‘s bold pairing with an adventurous spirit. The record delivers everything with grace, selflessness and the most nuanced sense of tempo, time standing still and a flow of undercurrents. If this sounds slightly over the top, let the music take over, dim the lights and follow the tapestries!
7 – Once upon a time – Bleiben wir noch eine kleine Weile bei ECM (wie sang einst Jackson Browne: „oh, won‘t you stay just a little bit longer“, wieder und wieder, am Ende des ziemlich dunklen Albums „Running On Empty“). Die sog. „goldenen Jahre“ von ECM waren die Siebziger, als ein Meilenstein dem andern folgte, und eine neue, extrem wandlungsreiche, Klangsprache die Landschaft der improvisierten Musik veränderte. Eine neue, allerfeinst designte Vinyl-Serie lässt die frühen, „analogen“ Zeiten hochleben, mit ausgewählten Wiederveröffentlichungen. Den Anfang macht Ende April, neben Kenny Wheelers „Gnu High“, das Album „Saudades“ von Nana Vasconcelos, das einst im Ausklang jenes wilden Jahrzehnts entstand, im März 1979 im Tonstudio Bauer, und die archaische Berimbau u.a. mit klassischen Streichinstrumenten kreuzte: pure Magie, weitaus mehr als der Reiz einer seltsamen Kombination, und genauso fesselnd wie die erste Zusammenarbeit von Egberto Gismonti und Nana Vasconcelos, „Dança des Cabecas“!
Damals, erinnere ich mich, hatte das Cover der „first pressings“, mit seinem schlichten Grauton an Enos „Music For Films“ erinnernd, eine besondere raue Oberfläche (wie übrigens auch das Cover von Brians Filmmusik, den Fachausdruck für diese „andere Haptik“ wüsste ich gerne) – und nun gibt es ein Gatefold-Cover, einen Extra-Essay, und einen Rückgriff auf die sich, laut ECM HQ, in einem erstklassigen Zustand befindlichen original masters. Das Teil müsste jeden Tag bei mir eintreffen (ich hielt es bislang nur kurz mal in meinen Händen), und wird dann in unserer Mai-Kolumne „From The Archives“ eingehend besprochen (s.a. comment with three drums).