ROOTS REGGAE IM LEUCHTTURM
Es gibt eine Handvoll Platten, die ihren Platz in meinem Jahresrückblick schon sicher haben, aber ich überlege mir gut, wann ich sie höre, in welchen Stimmungen, in welcher Tageszeit, in welcher psychischen Verfassung. Das betörende Singspiel von Marc Hollander und Veronique Vincent (bien sûr, une aventure!), Mette Henriettes Driftstudien, Stephan Micus‘ Meditationen, der heilige Gral des Philadelphia Underground anno 1972 (Khan Jamals Creative Arts Ensemble (s. unsere Kolumne From The Archives – ein Dankeschön an die Freunde von Aguirre Records! Jetzt bringt bitte noch das Album des Human Arts Ensemble mit violettem Cover und Lester Bowie raus!) Das sind Alben, bei denen es etwas Geduld, oder einige „spins“ brauchte, bis ich in ihren Bann geriet. Aber dann: i‘m in! Grower sind das.
Aber es gibt auch Platten von vergleichbarer Klasse, die sind so unmittelbar, so sehr „meine Musik“, dass sie Begrenzungen von Zeit und Stimmungslage auf Anhieb überwinden, und mir morgens im Wintersonnenlicht genauso nah kommen, wie nachts zu Scotch & Candlelight. Kein Mainstream, aber genauso allgegenwärtig. Nachmittags mit zugezogenen Vorhängen. Draussen im Wald. Im Leuchturm nahe Brest auf Kopfhörern (neulich mit Count Ossie im Ohr, Wahnsinn!) Der Unterschied zu den Erstgenannten: überall, wenn Musik Abenteuer ist, gilt es, eins Schwelle zu überschreiten, einen anderen Raum zu betreten, aber bei einigen „adventures in vinyl“ ist man, kaum hat man den ersten Ton gehört, schon dort, hinter dem Spiegel, im fremden wie ureigenen Terrain. Der Pfeil hat schon ins Schwarze getroffen, bevor er abgeschossen wurde. Der „Sunny Afternoon“ Effekt! Ja, der Song, nicht die Sonne.
LUCRECIA UND JON
Es passiert SOFORT. Und Irrtümer sind keinesfalls ausgeschlossen. Aber selten. Meine Liebe zum Reggae ist mir letztlich genauso unerklärlich wie meine Faszination zu den Landschaftsräumen Englands und Schottlands. Ganz trennscharf verlaufen diese Linien nicht, und ein Grower kann mit der Zeit einer „instant love affair“ leicht mal den Rang ablaufen, aber, mhmm, you know what i mean… (es ist wie in der Liebe, haha) … im letzten Herbst wurde die letzte Platte von Lucrecia Dalt zu einem schleichenden Grower (mit anfänglich schwankenden Bewertungen), Dan Lanois‘ Player, Piano war (im Vorfeld war ich eher skeptisch) Liebe auf den ersten Ton. Beide bilden jetzt ein perfektes Paar. Dennoch: Lucrecia braucht Abendlicht, Dan geht immer.
PSYCHOGEOGRAPHIE DER NECKS
In diesem jungen Jahr ist diese Liste des auf Anhieb Absolut-Unwiderstehlichen allerfeinst und durchaus überschaubar: die violette remasterte Fassung der „Tales Of Mozambique“ von Count Ossie and The Mystic Revelation of Rastafari (entstanden 1975(!), als Doppelalbum, endlich habe ich eine gute Pressung!), die zwei Vinylausgaben von Jon Hassell (s. from the archives), sowie das Doppelalbum „Travel“ von The Necks. Erstaunlich, vier Doppelalben! (Die ersten Doppelalben meines Lebens waren wohl Third von Soft Machine, und Live At The Fillmore East, von der Allman Brothers Band. jede Seite ein Burner.)
Die vier plus/minus zwanzig Minuten währenden Stücke „Signal“, „Forming“, „Imprinting“, und „Bloodstream“ enthalten all das, was Necks-Magie so unerschöpflich macht. Noch immer öffnen sie, nach über dreissig Jahren, jene berüchtigten neuen Horizonte, in denen Dejavu und Unerhörtes in nie vorhersehbaren Mustern begegnen. (Ups, der Satz kommt ins Radio.)
Aber es ist nicht so, dass der Conoisseur hier auf seinem sweet spot hockt und fortlaufend verständnisinnig grinst – nein, bei all diesen Platten findet Abtauchen und Versenkung statt, und auf dem finale furioso des Doppelalbums „Travel“, stelle ich auch schon mal die Frage: „was ist denn hier los?“ In seiner langen Besprechung des Albums bringt Richard Williams etwa Klarheit in diesen langem Showdown des Doppelabums:
Auch im letzten Stück gibt es eine Menge Blues. Die Geschichte der Necks umfasst eine Reihe von Konzerten in Kirchen, bei denen die dortigen Pfeifenorgeln zum Einsatz kamen. Die majestätischen Töne eines solchen Instruments bilden die Eröffnungsfanfare von „Bloodstream“, zu der sich überraschende Gospelphrasen des Klaviers gesellen, wobei Abrahams den Soul-Funk-Stil der 60er Jahre von Jazzpianisten wie Bobby Timmons und Les McCann kanalisiert. Es ist eine Erinnerung daran, dass die Kombination von Orgel und Klavier ein Grundnahrungsmittel der schwarzen Kirchenmusik war, bevor sie über Procol Harum (Matthew Fisher und Gary Brooker) und The Band (Garth Hudson und Richard Manuel) ihren Weg in den Rock fand; dies ist eine ausgedehnte Erkundung ihrer Möglichkeiten, wobei das Klavier immer blumiger und die Orgel immer himmlischer wird. Swantons Bass sorgt für einen dröhnenden und dröhnenden Hintergrund, während Buck rollende Gewitterwolken und gelegentliche Blitze zu einem weiteren Stück beisteuert, das nie in ein reguläres Metrum fällt.
IN THE JUNGLE
POSTSCRITUM / TIME TRAVEL – Writing about double albums, here‘s another one, UNFOLD, by The Necks. 2017. It’s a dream world, and it’s a jungle. The working methods change as do the places to be. As I said, we’re in the jungle this time, and it’s not mighty. Not mighty at all. More Walt Whitman than Walt Disney.
They are three, but they sound like a tribe on this double album, vinyl only. Every side of „Unfold“ covers one original composition, and as different as they are, from mood and air and heat, it’s still jungle time. Everyone will get lost there, get lost in his own favourite undergrowth, favourite power spot and favourite outpost.
The percussion man seems like a bunch of percussionists. Branches and leaves and squelchy rain drumming. The keyboards can easily be drowned in these textures of high density, but a clearing is going to happen from time to time. The bass is a bass in the wilderness, sends signals, heartbeats, and farewells.
Those searching do not always find, but the Necks discover a lot in their thrilling modus operandi of getting, well, lost, turning the old piano trio format upside down again and again. I asked Chris Abrahms about his favourite live jazz album, that springs to mind without too much thinking, and here it comes: „Live At The East“ from Mr. Pharoah Sanders, from the Impulse label, from the wild 70‘s. Not a double album, by the way, but with a piano player who never stopped stunning The Necks‘ keyboard master, Joe Bonner!
An unsung hero.
IM WALD MIT GEISTERN UND AKSAK MABOUL
POSTSCRIPTUM 2: Gestern traf ein Werk (die CD hatte ich bereits von den Brüsselern, im Vorfeld meines virtuellen Interviews, aber nun traf das Vinyl ein!), das meine Teenagerlust an Hörspielen neu entfacht. Seltsam, dass mir diese Welt ein wenig anhanden kam über die Jahre, aber – und wir reden hier von einem Grower par excellence – dieses „Singspiel“ von Aksak Maboul bietet alles, um fremde Horizonte zu erkunden. Dem Doppelalbum (!) und seinem verzweigten, tollkühnen Genregemisch liegt auch ein etwas grösser formatiertes Textheft bei. Ein surreales Hörspiel der Extraklasse. Jetzt bin ich gespannt, was Marc und Veronique mir darüberhinaus erzählen werden. (s.a. album of march)