In den Neunziger Jahren sass ich mit Konrad Heidkamp in der NDR-Kantine an der Rothenbaumchaussee. Er war mittendrin in der Produktion einer zehnteiligen Radioserie über das Leben und die Musik von Nina Simone. Und erzählte mir von seinen Entdeckungen im Archiv. Ich bekam eine kleine Geschichts- und Geschichtenstunde serviert. Tonbänder Ja, natürlich werde er ihre Version von „House of the Rising Sun“ spielen, sagte Konrad, als wir ein paar Songs durchgingen, die aus der LP „Nina At The Village Gate“. Das waren noch die Zeiten mit Michael Naura, Hannelore Raukuttis und Tobias Hartmann. Eine Wiederholung wäre wunderbar, irgendwo im Archiv schlummern die alten analogen Tonbänder. Wo fängt man an, wenn man Lust auf Nina Simone hat? Fast jeder hat Lieblingssongs im Ohr, wenn er den Namen hört, und fast allen, die Dokumente ihrer Live-Auftritte kennen, ist die Intensität, die Präsenz dieser Frau, in bester Erinnerung. Sie konnte unter die Haut ihrer Lieder schlüpfen, und stellte sie nie einfach nur in den Raum. Fragen sie mal Nick Cave! Oder greifen Sie zu dem Buch, das sein langjähriger Weggefährte Warren Ellis geschrieben hat… Oder sehen Sie sich auf Apple + die Doku „Summer of Soul“ (1969) an. Oder besorgen Sie sich die Märzausgabe von UNCUT! (m.e.)
„CAN you feel it?“ fragte Nina Simone die 40.000 Menschen, die sich auf einem schlammigen Fußballplatz in St. Jude, Alabama, einem Vorort von Montgomery, versammelt hatten. „Can you see it?“ Das waren Zeilen aus dem Song „Mississippi Goddam“, den sie geschrieben hatte, aber an diesem Abend im März 1965 klangen die Fragen, die sie stellte, eher optimistisch. Normalerweise begleitete sich Simone bei „Mississippi Goddam“ selbst am Klavier, aber es war unmöglich, ein so sperriges Instrument in das schlammige Feld zu schleppen, so dass ihre einzige Begleitung an diesem Abend ihr vertrauter Gitarrist und lebenslanger Mitarbeiter Al Schackman war, der ihren Gesang mit jazzigen Riffs untermalte. „Wenn wir als Duo spielten, waren wir nicht an den Rhythmus von Bass und Schlagzeug gebunden“, sagt Schackman heute. „Wir konnten in jede Richtung gehen. Das war für mich ein Highlight, mit Nina zu spielen. Mississippi Goddam‘ ist ein ziemlich tiefgründiger Song, mit einer unheimlichen Unterströmung. Er klingt so fröhlich, aber dann fällt er in eine Moll-Tonart ab, mit Hunden, die an deinen Zehen knabbern.“
Diese Hunde hatten sie schon den ganzen Tag geknabbert. Simone, Schackman und ihr Ehemann und Manager Andy Stroud waren mit einem kommerziellen Flug nach Montgomery geflogen, aber der Gouverneur hatte den Flughafen mit Feuerwehrautos blockiert, so dass sie nach Jackson, Mississippi, umgeleitet werden mussten. Unerschrocken charterten sie ein kleines Flugzeug für die letzte Etappe ihrer Reise. In Alabama standen sie unter ständiger Bewachung durch Bundesmarshalls. „Wir mussten durch eine Polizeikette laufen, um zur Bühne zu gelangen“, sagt Schackman, „und Nina schrie nur: ‚Geht mir aus dem Weg! Sie war unglaublich.“
In den Wäldern jenseits der Felder befanden sich Mitglieder des Klan und sogar örtliche Ordnungskräfte, die alle bereit waren, Ärger zu machen, wenn sich die Gelegenheit ergab. Schackman erinnert sich an ein noch viel bedrohlicheres Zeichen, als er seinen Verstärker und seine Gitarre aufstellte: „Die Bühne war aus Sperrholzplatten gebaut. Ich suchte nach einem Platz zum Anschließen. Einer von Belafontes Musikern sagte mir, ich solle unter dem Vorhang nachsehen. Ich hob ihn hoch und sah all diese Särge! Die Bühne war auf Holzsärgen aufgebaut, die ein örtliches schwarzes Beerdigungsinstitut gespendet hatte. Ich erzählte Nina davon, und sie sagte, diese Särge seien für die ganzen Hinterwäldler.
Vielleicht war es das Holz all dieser Särge, das „Mississippi Goddam“ an diesem Abend noch kraftvoller klingen ließ. Wie die Bühne selbst war auch der Song auf den Toten aufgebaut: Simone hatte ihn nach der Ermordung von Medgar Evers und dem Bombenanschlag auf die 16th Street Baptist Church in Birmingham geschrieben, bei dem vier junge schwarze Mädchen, nicht viel älter als ihre eigene Tochter, getötet wurden. Als sie das Lied 1964 in der Carnegie Hall vorstellte, sagte sie einleitend: „Dies ist ein Show-Tune, aber die Show ist noch nicht dafür geschrieben worden“. In Alabama machte Simone deutlich, dass die Show in Märschen, Demonstrationen und Konzerten geschrieben wurde.
(Am Vorabend von Simones 90. Geburtstag zeichnete Stephen Deusner in der März-Ausgabe der Zeitschrift „Uncut“ ihren Weg von den Folkclubs in Greenwich Village bis hin zu ihrem Aufstieg als Hohepriesterin des Soul nach. Dies war nur die Eröffnung. Derzeit ist die Märzausgabe in den meisten gut sortierten Bahnhofszeitschriftenläden zu bekommen. A joy to read, and more joy to listen to – afterwards.)
„Ich erinnerte mich auch an die Zeiten, in denen ich Nina Simone im Ronnie Scott’s oder auf der South Bank gesehen hatte und irritiert und sogar wütend war über die Distanz, die sie zwischen sich und ihrem ausschließlich weißen Publikum aufbaute, was sich in Anfällen von Schroffheit und Grobheit äußerte, die man gemeinhin dem Temperament einer Diva zuschreibt. Sie in einem Park in Harlem zu sehen, wie sie sanft das brandneue „To Be Young, Gifted and Black“ zu ihren Leuten singt, so zentriert, so gelassen schön in ihrem afrofuturistischen Haar, ihren Gewändern und ihrem Schmuck, ließ mich diese Reaktionen von vor über 30 Jahren beschämt zurückweisen. Sicher, ich liebte die Musik in Summer of Soul, aber ich kam auch aus dem Kino in eine laue Londoner Nacht, in der ich über vieles nachdenken musste.“
(Richard Williams über „Summer of Soul“)