Mein Gott, du hörst mir ja wieder nicht zu.
Mit offenen Augen durch die Welt gehen, ist uns eine geläufige, gut gemeinte Aufforderung zur Neugierde. Aber mit offenen Ohren durch die Welt ziehen, ist eine bisher unausgesprochene Einladung. Warum eigentlich? Sind wir vom Schauen genervt, klappen wir unsere Augenlider einfach runter. Diesen körpereigenen Schutzmechanismus haben die Ohren nicht. Liegt es daran?
Als Schüler trainierten wir unser Gehör im „Hitparadenpfennigspiel“. Wir legten eine Schallplatte auf und wer bereits beim ersten Ton den Hit erkannt hatte, bekam 10 Pfennig. Aus dieser Zeit stammt meine Unsitte, einen ganzen Song nur nach den Anfangstakten zu beurteilen. Wahrscheinlich sind mir durch dieses emotional assoziative Hörverhalten einige tolle Musikstücke entgangen. Wie hören wir, wenn wir hören?
„Um welches Geheimnis handelt es sich, wenn man im eigentlichen Sinne zuhört, horcht, lauscht, sprich, wenn man sich bemüht, eher die Klanglichkeit zu fassen oder zu erhaschen als die Botschaft?“
Auf was konzentrieren wir uns primär, wenn wir ein Musikstück hören, auf den Sound oder die Lyrics? Wieso hat der Klang generell eine so große affizierende Wirkung? Von mancher Musik, wie zum Beispiel den Flamenco Klängen, fühle ich mich regelrecht attackiert. Musik ist für mich innerhalb des art-circles die Kunst, die mich am schnellsten und tiefsten ergreift. Ein besonderes Ekstasepotential haben für mich zum Beispiel Songs wie OHIO von CSNY, BOTH SIDES NOW von Joni Mitchell oder der Auftritt von Patti Smith vor dem Nobelpreispublikum mit Bob Dylan‘s A HARD RAIN IS GONNA FALL
Gestern Abend ging ich durch einen engen, einspurigen, etwa 1 km langen, nur spärlich beleuchteten Tunnel. Ich vernahm ein undefinierbares Geräusch, das mich beunruhigte. Ich begann laut zu singen, damit der Schall in diesem langgezogenen Raum den dumpfen Laut übertönte und mir das Echo meiner Stimme meine lebendige Gegenwart bewusst machte. Ich hatte „Heart of Gold“ gesungen. Der unbekannte Geräusche verursachende Lauscher könnte für diesen schönen Song ein offenes Ohr gehabt haben.