Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

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Archives: Februar 2023

„Das Miasma aus Free Jazz, kosmischem Jazz, New Thing, Fire Music und Improvisation, das sich Ende der 1960er und in den 1970er Jahren entfaltete, ist eine der großen Schatzkammern der Musik des 20. Jahrhunderts. Jahrhunderts. Angeführt von John und Alice Coltrane, Pharoah Sanders, Ornette Coleman, Sun Ra, Cecil Taylor und anderen ließ sich eine Generation von Musikern dazu inspirieren, die schnell erstarrenden Manierismen des Post-Bop zugunsten einer explosiven neuen Sprache aufzugeben, die die Grenzen der Musik verschob und gleichzeitig politische Realitäten, soziale Belange und Spiritualität auf frische, auffallend konfrontative Weise ansprach.“

ROOTS REGGAE IM LEUCHTTURM


Es gibt eine Handvoll Platten, die ihren Platz in meinem Jahresrückblick schon sicher haben, aber ich überlege mir gut, wann ich sie höre, in welchen Stimmungen, in welcher Tageszeit, in welcher psychischen Verfassung. Das betörende Singspiel von Marc Hollander und Veronique Vincent (bien sûr, une aventure!), Mette Henriettes Driftstudien, Stephan Micus‘ Meditationen, der heilige Gral des Philadelphia Underground anno 1972 (Khan Jamals Creative Arts Ensemble (s. unsere Kolumne From The Archives – ein Dankeschön an die Freunde von Aguirre Records! Jetzt bringt bitte noch das Album des Human Arts Ensemble mit violettem Cover und Lester Bowie raus!) Das sind Alben, bei denen es etwas Geduld, oder einige „spins“ brauchte, bis ich in ihren Bann geriet. Aber dann: i‘m in! Grower sind das.  


Aber es gibt auch Platten von vergleichbarer  Klasse, die sind so unmittelbar, so sehr „meine Musik“, dass sie Begrenzungen von Zeit und Stimmungslage auf Anhieb überwinden, und mir morgens im Wintersonnenlicht genauso nah kommen, wie nachts zu Scotch & Candlelight. Kein Mainstream, aber genauso allgegenwärtig. Nachmittags mit zugezogenen Vorhängen. Draussen im Wald. Im Leuchturm nahe Brest auf Kopfhörern (neulich mit Count Ossie im Ohr, Wahnsinn!) Der Unterschied zu den Erstgenannten: überall, wenn  Musik Abenteuer ist, gilt es, eins Schwelle zu überschreiten, einen anderen Raum zu betreten, aber bei einigen  „adventures in vinyl“ ist man, kaum hat man den ersten Ton gehört, schon dort, hinter dem Spiegel, im fremden wie ureigenen Terrain. Der Pfeil hat schon ins Schwarze getroffen, bevor er abgeschossen wurde. Der „Sunny Afternoon“ Effekt! Ja, der Song, nicht die Sonne.

 

LUCRECIA UND JON 


Es passiert SOFORT. Und Irrtümer sind keinesfalls ausgeschlossen. Aber selten. Meine Liebe zum Reggae ist mir letztlich genauso unerklärlich wie meine Faszination zu den Landschaftsräumen Englands und Schottlands. Ganz trennscharf verlaufen diese Linien nicht,  und ein Grower kann mit der Zeit einer „instant love affair“ leicht mal 
den Rang ablaufen, aber, mhmm, you know what i mean… (es ist wie in der Liebe, haha) … im letzten Herbst wurde die letzte Platte von Lucrecia Dalt zu einem schleichenden Grower (mit anfänglich schwankenden Bewertungen), Dan Lanois‘ Player, Piano war (im Vorfeld war ich eher skeptisch) Liebe auf den ersten Ton. Beide bilden jetzt ein perfektes Paar. Dennoch: Lucrecia braucht Abendlicht, Dan geht immer.

 

 

 

PSYCHOGEOGRAPHIE DER NECKS 

In diesem jungen Jahr ist diese Liste des auf Anhieb Absolut-Unwiderstehlichen allerfeinst und durchaus überschaubar: die violette remasterte Fassung der „Tales Of Mozambique“ von Count Ossie and The Mystic Revelation of Rastafari (entstanden 1975(!)als Doppelalbum, endlich habe ich eine gute Pressung!), die zwei  Vinylausgaben von Jon Hassell (s. from the archives), sowie das  Doppelalbum „Travel“ von The Necks. Erstaunlich, vier Doppelalben! (Die ersten Doppelalben meines Lebens waren wohl Third von Soft Machine, und Live At The Fillmore East, von der Allman Brothers Band. jede Seite ein Burner.)

Die vier plus/minus zwanzig Minuten währenden Stücke „Signal“, „Forming“, „Imprinting“, und „Bloodstream“ enthalten all das, was Necks-Magie so unerschöpflich macht. Noch immer öffnen sie, nach über dreissig Jahren, jene berüchtigten neuen Horizonte, in denen  Dejavu und Unerhörtes in nie vorhersehbaren Mustern begegnen. (Ups, der Satz kommt ins Radio.)

Aber es ist nicht so, dass der Conoisseur hier auf seinem sweet spot hockt und fortlaufend verständnisinnig grinst – nein, bei all diesen Platten findet Abtauchen und Versenkung statt, und auf dem finale furioso des Doppelalbums „Travel“, stelle ich auch schon mal die Frage: „was ist denn hier los?“ In seiner langen  Besprechung des Albums bringt Richard Williams etwa Klarheit in diesen langem Showdown des Doppelabums:

 

Auch im letzten Stück gibt es eine Menge Blues. Die Geschichte der Necks umfasst eine Reihe von Konzerten in Kirchen, bei denen die dortigen Pfeifenorgeln zum Einsatz kamen. Die majestätischen Töne eines solchen Instruments bilden die Eröffnungsfanfare von „Bloodstream“, zu der sich überraschende Gospelphrasen des Klaviers gesellen, wobei Abrahams den Soul-Funk-Stil der 60er Jahre von Jazzpianisten wie Bobby Timmons und Les McCann kanalisiert. Es ist eine Erinnerung daran, dass die Kombination von Orgel und Klavier ein Grundnahrungsmittel der schwarzen Kirchenmusik war, bevor sie über Procol Harum (Matthew Fisher und Gary Brooker) und The Band (Garth Hudson und Richard Manuel) ihren Weg in den Rock fand; dies ist eine ausgedehnte Erkundung ihrer Möglichkeiten, wobei das Klavier immer blumiger und die Orgel immer himmlischer wird. Swantons Bass sorgt für einen dröhnenden und dröhnenden Hintergrund, während Buck rollende Gewitterwolken und gelegentliche Blitze zu einem weiteren Stück beisteuert, das nie in ein reguläres Metrum fällt.

 

IN THE JUNGLE 

POSTSCRITUM / TIME TRAVEL – Writing about double albums, here‘s another one, UNFOLD, by The Necks. 2017. It’s a dream world, and it’s a jungle. The working methods change as do the places to be. As I said, we’re in the jungle this time, and it’s not mighty. Not mighty at all. More Walt Whitman than Walt Disney.

They are three, but they sound like a tribe on this double album, vinyl only. Every side of „Unfold“  covers one original composition, and as different as they are, from mood and air and heat, it’s still jungle time. Everyone will get lost there, get lost in his own favourite undergrowth, favourite power spot and favourite outpost.

The percussion man seems like a bunch of percussionists. Branches and leaves and squelchy rain drumming. The keyboards can easily be drowned in these textures of high density, but a clearing is going to happen from time to time. The bass is a bass in the wilderness, sends signals, heartbeats, and farewells.

Those searching do not always find, but the Necks discover a lot in their thrilling modus operandi of getting, well, lost, turning the old piano trio format upside down again and again. I asked Chris Abrahms about his favourite live jazz album, that springs to mind without too much thinking, and here it comes: „Live At The East“ from Mr. Pharoah Sanders, from the Impulse label, from the  wild 70‘s. Not a double album, by the way, but with a piano player who never stopped stunning The Necks‘ keyboard master, Joe Bonner!

An unsung hero.

 

IM WALD MIT GEISTERN UND AKSAK MABOUL

POSTSCRIPTUM 2: Gestern traf ein Werk (die CD hatte ich bereits von den Brüsselern, im Vorfeld meines virtuellen Interviews, aber nun traf das Vinyl ein!), das meine Teenagerlust an Hörspielen neu entfacht. Seltsam, dass mir diese Welt ein wenig anhanden kam über die Jahre, aber – und wir reden hier von einem Grower par excellence – dieses „Singspiel“ von Aksak Maboul bietet alles, um fremde Horizonte zu erkunden. Dem Doppelalbum (!) und seinem verzweigten, tollkühnen Genregemisch liegt auch ein etwas grösser formatiertes Textheft bei. Ein surreales Hörspiel der Extraklasse. Jetzt bin ich gespannt, was Marc und Veronique mir darüberhinaus erzählen werden. (s.a. album of march)

2023 27 Feb

Schilleroper

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Lilli:
Entsinnst du, wie der Elefant gestorben ist?

Max:
Das weiß ich noch, ja.

Da habe ich dagestanden, wie sie ihn auseinandergeschnitten haben,
damit sie ihn aus dem Hof rauskriegten.

 
 
Lilli Rober und ihr Bruder Max. Bis 1908 sind die beiden im Ensemble, sie als Tänzerin, er als Schauspieler und Wasserpantomime. Als die Stiefmutter Lilli wieder einmal mit dem Feuerhaken verprügelt, reißt Max nach Amerika aus.

Eine von vielen Geschichten um die Schilleroper in Hamburg.

 

 

1890. Das markante Rundgebäude wird als stationärer Zirkus mit 1000 Plätzen errichtet, mitten zwischen überbevölkerten Hinterhöfen, Passagen- und Terrassenwohnungen im cholerageplagten Altona, das damals noch zu Dänemark gehört. Eine Gegend, in der die Miete mit dem Revolver kassiert wird. Stahlgerüst, Wellblechwände, Pappdach, die Baukosten betragen 38.000 Mark. Betrieben vom Wanderzirkusunternehmer Paul Busch ist der Zirkus die Antwort Altonas auf die Konkurrenz, den einen knappen Kilometer Luftlinie entfernten Circus Renz in Hamburgs Rotlichtbezirk St. Pauli. Der Bau ist auch ein direkter Affront des Altonaer Magistrats gegen den übermächtigen Nachbarn Hamburg.

2016 habe ich das Gebäudeensemble zuletzt gesehen. Der Rundbau mit seinen teils ein-, teils zweistöckigen Nebengebäuden liegt im Schnittpunkt von St. Pauli, Karolinen- und Schanzenviertel, wenn auch von diesen abgetrennt durch zwei der dicksten Verkehrsadern Hamburgs. Für Stadtplaner gleichwohl eine Top-Lage, ein Filetstück mitten in einem hochverdichteten Wohngebiet, dessen Einwohnerschaft allerdings noch immer allergisch auf unerwünschte Eingriffe reagiert hat – die berühmt-berüchtigte „Rote Flora“ ist nur einen Katzensprung entfernt. Die Stahlkonstruktion der Rotunde gilt als Beispiel frühindustrieller Tragwerksarchitektur, deshalb ist das Gebäude geschützt. Der Gebäudekomplex darf nicht betreten werden, es besteht Einsturzgefahr, zudem kann man, wenn man nicht aufpasst, in ungesicherte alte Abflussrohre treten. Nachts spielen hier die Ratten Billard, die Nebengebäude, in denen sich zeitweilig einige Kleingewerbetreibende niedergelassen hatten, stehen jetzt leer und sind vernagelt. Niemand weiß, was mit der Schilleroper passieren soll. Im Prinzip scheinen die Besitzer darauf zu warten, dass das Stahlgerüst von selbst zusammenbricht. Ein Schelm, wer dahinter Absicht vermutet.

 

 

Um 1900 erhält der Circus Busch eine weltweit einmalige Sensation: eine Manege, die hydraulisch abgesenkt und geflutet werden kann. Man spielt eine Wasserpantomime namens „Sibirien“ und lässt zwölf Eisbären aus der Kuppel auf einer Rutsche ins Wasser platschen. Zwischen den Vorstellungen stehen die Eisbären auf einem Schrottplatz in der Nähe. Der Autoverwerter, dem der Platz gehört, existiert noch heute.

1905 schließt der Circus Busch seine Pforten und zieht nach St. Pauli in den Circus Renz. Der Architekt Ernst Michaelis übernimmt das verlassene Haus und baut es zu einem Theater mit 1400 Plätzen um. Zur Eröffnung spielt man Schillers „Was ihr wollt“. Die Bühnenarbeiter des Schiller-Theaters, wie das Haus seitdem heißt, kommen aus der Nachbarschaft – Werftarbeiter, für sie ein Nebenverdienst, den sie gut gebrauchen können. Lilli Rober tanzt mit dem später populären Stummfilmdarsteller Lupu Pick den Cakewalk, man spielt niederdeutsche Komödien, Sittenstücke und zu Lokalrevuen umgearbeitete Klassiker. Aus einer solchen Revue geht der Hit „Auf der Reeperbahn nachts um halb eins“ hervor. Ein 21-jähriger Nachwuchsschauspieler, den man vom Hamburger Operettenhaus abgeworben hat, wird damit zum lokalen Star, ein gewisser Hans Albers:

 

 

Der Hamburger Dichter Robert Walter wird Dramaturg. Er nimmt heitere und ernste Stücke ins Programm, gern auch Patriotisches. Im Sommer, wenn die Hamburger Staatsoper Ferien hat, heuert er deren Musiker an und lässt Opern spielen, aber auch für artistische Shows und Ringkämpfe ist man sich nicht zu schade. Das Gebäude lässt das alles zu.

Dies alles vermischt sich mit dem Leben ringsum. Die Kulissenmalerwerkstatt ist die Straße, der nahegelegene Kohlenhändler kümmert sich um die Tiere, die auf der Bühne eingesetzt werden, die Komparserie stammt aus der unmittelbaren Nachbarschaft, ebenso wie die Kinder, die fürs Weihnachtsmärchen benötigt werden. Klempnermeister Willy Küker entzündet nicht nur allabendlich das Gaslicht im Haus, sondern betreibt auch die Theaterkneipe, in der seine Frau den Theaterleuten, Musikern, Artisten und Nachbarn Bier, Kartoffelsalat und Eintopf serviert. Die Klempnerei liegt um die Ecke, sie existiert noch.

 

 

Im Ersten Weltkrieg werden Benefiz-Veranstaltungen für gefallene Offiziere gespielt und treffen sich hier illegal die örtlichen Sozialdemokraten. 1917 übernimmt Hans Pichler das Haus, der Schwiegersohn des Schauspielhaus-Direktors. Von dort wird er auch unterstützt. Trotzdem geht Pichler 1921 pleite. Das Haus wird kurzfristig vom Altonaer Stadttheater mitbespielt. 1922 hat in der nahegelegenen Flora die Revue „Wie steht der Dollar?“ Premiere. Sie ist so erfolgreich, dass Flora-Direktor Max Ellen sie im leerstehenden Schiller-Theater weiterspielen lässt und die Leitung des Hauses übernimmt.

Bis zum Beginn der Nazi-Ära bietet das Schiller-Theater nun alles, was man als „die Zwanziger Jahre“ im Kopf hat. Freche Revuen mit Batterien dressierter Tänzerinnen gibt es ebenso wie Klabunds „Kreidekreis“, Marieluise Fleißers „Pioniere in Ingolstadt“ oder Brechts „Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny“ – Stücke, die in direkter Konkurrenz zu Erich Ziegels Hamburger Kammerspielen mit ihrem Publikumsliebling Gustaf Gründgens stehen. Spuren davon finden sich später in den Büchern Klaus Manns – real („Der Wendepunkt“) und halbfiktiv („Mephisto“). Auch Laienspielgruppen der Arbeiterbewegung nutzen die Bühne. Gegen Ende der 20er Jahre kommt es in dem prinzipiell roten Viertel um das Theater herum zunehmend zu Zusammenstößen zwischen SA und Kommunisten, gelegentlich zu Schießereien. Einige Einschusslöcher sieht man noch.

 

 

1933 wird unter einem Vorwand der jüdische Direktor Max Ellen entlassen. Nach einem Umbau heißt das Gebäude nun „Oper im Schiller-Theater“ oder kurz: „Schilleroper“. Zur Eröffnung gibt man den „Freischütz“. Man versucht zu lavieren: Einerseits spielt man „Der Wanderer“, ein Stück von Joseph Goebbels, andererseits wird Musik von Ernst Krenek oder Paul Hindemith aufgeführt, Franz Lehár dirigiert selbst die Premiere seiner „Giuditta“.

1939, mit dem Stück „Sonnenstrahl im Hinterhof“, endet die Theatergeschichte der Schilleroper. Sie wird geschlossen, weil keine Luftschutzräume vorhanden sind. Im Gebäude werden Kriegsgefangene untergebracht, später dann ausgebombte Familien aus der Nachbarschaft. Bombentreffer tun ein Übriges.

Die Schilleroper wird nach Ende des Krieges nicht wieder als Theater in Betrieb genommen. Sie dient vorrangig als Lagerraum und Garage. 1951 richten Motorradartisten die Rotunde für eine Steilwandnummer her, danach passiert lange nichts mehr. In den 60er Jahren beherbergt die Schilleroper kurzfristig ein Hotel, später werden dort „Gastarbeiter“, wie man sie nennt, von der Werft Blohm & Voss untergebracht. In den 70er Jahren gibt es einige Brandstiftungen und kurzfristig zieht ein Kulturverein ein. Für die Spielzeit 1980/81 möchte das Deutsche Schauspielhaus die Schilleroper als Ausweichbühne nutzen. Statt dessen ziehen wiederum ausländische Arbeiter in die Nebengebäude ein, im ehemaligen Foyer eröffnet ein italienisches Restaurant. Das wird bald wieder geschlossen – wegen verbotenen Glücksspiels.

 

 

Immer wieder werden seither neue Nutzungspläne entworfen und wieder verworfen – weitere Zirkuspläne, ein Musikclub, ein Kino, ein Haus für Swing-Musikpartys. Nichts davon wird realisiert, es werden Asylbewerber einquartiert. 2008 zeigt Bernhard Paul vom Circus Roncalli Interesse, das Gebäude zu mieten. Man lässt ihn abblitzen. Die um die Rotunde herum liegenden Gebäude — frühere Künstlergarderoben, Büros etc. — werden zeitweilig von Kleingewerbetreibenden genutzt.

 

 

Es bildet sich eine Anwohnerinitiative, die das Gebäude auf sozialverträgliche Weise reaktivieren will. Der Stadtplaner Jo Claussen-Seggelke legt einen Plan vor, aber die Eigentümer wechseln wiederholt. Derzeit gehört das Gelände einer Objekt-GmbH, der Geschäftsführer ist ein Rechtsanwalt. Niemand weiß, wer tatsächlich hinter dieser Firma steht.

Und das Gebäudeensemble verfällt, weiter und weiter.

 

 

2021. Man weiß inzwischen, wer die Eigentümerin ist. Sie tritt selbst nie in Erscheinung, aber irgendwie gelingt es ihr immer wieder, die Vorgaben des Bezirksamtes nicht zu erfüllen — oder sie so zu erfüllen, dass der Verfall des Ensembles weitergeht. Die Gebäude sind schließlich nicht mehr zu retten. Die Eigentümerin lässt sie abreißen. Wie nicht anders zu erwarten, lässt sie auch das Hauptgebäude weiter verrotten, mit dem Argument, es stehe ja nur das Stahlgerüst unter Denkmalsschutz. Das Bezirksamt findet keinen Weg, dagegen vorzugehen. 2022 schließlich lässt die Besitzerin sämtliche Gebäudeteile abreißen; es steht wirklich nur noch das nackte Stahlgerüst.

 

 

Das ist der traurige Rest. Mit dem kann nun niemand mehr etwas anfangen, und man benötigt nicht viel Fantasie, um sich ausrechnen zu können, wie lange die Stahlkonstruktion dem Wetter noch ungeschützt standhalten kann. Das Bezirksamt sollte sich selbst anzeigen — wegen Dummheit im Dienst.

Was bleibt, sind Fotos und Erinnerungen, die Dissertation von Anke Rees

 

 

sowie ein schönes Buch und ein dazugehöriger Dokumentarfilm von Horst Königstein, gedreht 1980.

 

 

Den Film sollte der NDR einmal wieder aus dem Archiv holen. Das Buch findet man gelegentlich noch gebraucht.

2023 26 Feb

At The Marquee (1)

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1 – War der Marquee Club wirklich das größte Musiklokal der Welt, wie der Untertitel einer neuen Geschichte des Clubs nahelegt? Die Carnegie Hall, das Olympia in Paris, das Ronnie Scott’s, die Berliner Philharmonie, das Village Vanguard und einige andere mögen dafür sprechen. Aber von der Eröffnung im Jahr 1958 bis zur Schließung des letzten Clubs, der diesen Namen trug, im Jahr 2006, hatte der Club einen berechtigten Anspruch auf diesen Titel, da seine Attraktionen im Laufe der Jahre von Dexter Gordon, Chris Barber und Dudley Moore über Alexis Korner und Long John Baldry, die Stones, die Yardbirds, Manfred Mann, Graham Bond, Little Stevie Wonder, The Who, David Jones/Bowie, Sonny Boy Williamson, Rod Stewart, Jimi Hendrix, King Crimson, Led Zeppelin, Fela Kuti, Genesis, Dr. Feelgood und Dire Straits bis hin zu den Damned, den Sex Pistols (als Support von Eddie and the Hot Rods), The Jam, The Police, Motorhead bis hin zu REM und Guns N‘ Roses und Hunderten und Hunderten von anderen, von denen die meisten noch in der Entstehungsphase sind, einschließlich fast aller britischen Blues- und Prog-Rock-Bands, die über die Musicians Wanted-Rubriken des Melody Maker zusammengetragen wurden.

(Richard Williams, zu einem Buch über diesen legendären power spot, s. nebenan: The Blue Moment)

 

 

2 – Der Kollege drehte sich eine Zigarette, er sass mir gegenüber in unserem Zwei-Mann-Büro. Zwei Psychologen, einer hatte Liebeskummer. Michael, um aus dieser Nummer raus zu kommen, flieg nach London, über Weihnachten, das ist doch deine Stadt. Du musst einfach ständig wach sein, saug Piccadilly auf, das tut richtig weh, aber gut, alleine, ganz alleine, saug die Einsamkeit auf. In vollen Zügen. Das hilft. Down to the bottom! Ja, sie ist bestimmt die schönste Frauen Regensburgs. Du warst ihr Ausbruch, sie hat die Reissleine gezogen.  


Die Würfel sind gefallen. Er hatte ja so recht. Ich wohnte noch immer am Ende der Welt, die Wölfe der Tschechei kamen manchmal über die Grenze, und ein Buch mit Kurzgeschichten von Richard Brautigan lag neben dem Bett. Ich fuhr von Bergeinöden nach Frankfurt und besorgte mir ein Flugticket nach London. So allein wollte ich auch nicht sein, und so kündigte ich meinem alten Würzburger Freund David Webster meinen Besuch an. Er freute sich darauf, mich wiederzusehen.

In Frankfurt verweigerten sie mir die Einreise nach London. Ich landete in Büros, und musste sogar zu einem amerikanischen Konsulat, wieso musste ich auf das fucking amerikanische Konsulat? Ein Riesentheater, und ich war sauer, und zeigte das auch. Da klärte es sich, dass ich als Amerikareisender gebucht war, ohne Visum, alles war ein Missverständnis im Frankfurter Nieselregen. Lauter Sorrys und Entschuldigungen, und Lufthansa schenkte mir ein Ticket für die Business Class, mit Sekt und allem Drum und Dran für eine Dreiviertelstunde Flug in den Londoner Nebelregen.

Heiligabend war ich bei den Websters eingeladen, bis dahin hatte ich zwei Tage: billige Absteigen, alte Cafes, und ich besorgte mir sofort ein Musikmagazin. Musik sollte Teil meiner Selbsttherapie sein. Ich liess mich in einem Pub nieder, erleichtert nach dem Tagesstress, der Kaktus auf der Ablage über mir geriet in Bewegung und plumpste dem Mann hinter mir in den Nacken. Ein Aufsschrei. Ich kümmerte mich sofort um ihn, zog ihm einzelne Stachel raus, ein paar Stellen waren blutig, aber er blieb freundlich. Der Pubbesitzer hatte sogar ein Desinfektionsmittel. Am Abend ging ich in den Marquee Club, um Jah Wobble & The Invaders of the Heart zu erleben.

Jah Wobble hatte einen Trenchcoat an, der aussah, als wäre er den ganzen Tag durch den Londoner Dunkelregen gewandert. Man konnte hören, dass Jah Wobble nach der Zeit mit Public Image Ltd. noch viel mehr in die Welt des „elektrischen Miles“ eingetaucht war. Dunkel pulste sein Bass durch den Raum. Eine Trompete mit Wah-Wah-Pedal verschickte knappe telegraphische Notizen, der Drummer hämmerte wohltuende Monotonie. Da erkannte ich sie und taufte sie Healy. Du bist die Fremde, mit der ich diese Nacht erobern werde. Sie stand alleine an der Seite, und trug auch einen fucking beautiful Trenchcoat. Hoffentlich war sie kein Jah Wobble-Groupie. War sie nicht.

Nach dem Konzert lud ich sie zu einem Drink ein, nachdem ich mich freundlich vorgestellt hatte. Why me, fragte sie mich, und ich sagte, your eyes. Sie hatte ein kleines Appartment in West Hampstead. Sie legte eine gemeinsame Lieblingsplatte auf, Chairs Missing von Wire, und dann schliefen wir miteinander. In dieser Nacht lösten sich die Bilder der schönsten Frau Regensburgs in den Umarmungen einer Wildfremden  auf. Wir kifften, lachten, und mochten einander – small talk with a beating heart.  Sie hatte kleine feste Brüste und einen extrem schlanken Körper, Londoner Regenblässe. Sexual Healing. Ein wenig.

Ich wanderte den ganzen Tag durch Hampstead Heath, ich hörte spät am Abend John Peel im billigen Hotelzimmer (er spielte Musik von Howard Devotos Band  „Magazine“, ich weiss es noch genau, einen Song aus „Second Hand Daylight“, oder „The Correct Use of Soap“, wunderbar) und am nächsten Abend, Heiligabend, traf ich bei den Websters ein. Es gab Gans, Rotkohl, und Plumpudding. Es waren noch andere Gäste da. Ich hatte mir einen Infekt eingefangen, und später nachts 39.5 Grad Fieber. Ich schnupfte. Ich glühte. David sagte: Michael, erzähl, wie war das Jahr? Wollt ihr das wirklich hören? Ja, Mann! Und ich erzählte die ganze Geschichte. Bis zu dem Augenblick, wo mein Kollege sich eine Zigarette drehte. In einer Fachklinik für Suchtabhängige. Ich ruinierte die Party mit dieser Story, leider. Obwohl ja alles so magisch anfing, mit einem Western mit James Stewart,  und dem berühmten Song der Gruppe Grauzone. Ich hätte gerne als Entschuldigung einen Weihnachtsbaum gestiftet. Für Mrs. Webster wurde ich zum roten Tuch.

Das Allerschönste in diesen Tagen waren die Fahrten mit der Underground, besonders die Augenblicke, wenn man die letzte Treppe zum Tageslicht betrat. Immer wieder gerne: Piccadilly Circus, die bunten, flackernden Werbetafeln im Dauerregen. Ich kam mir vor wie in einer ungeschriebenen Geschichte von Richard Brautigan. Eine, in der  Duftkerzen Patchouli verströmen, die Kinks im Radio „Mr. Pleasant“ spielen, ein Hirschbraten mit Preiselbeerrahm serviert wird, und  ein paar Glückskekse am Tannenbaum hängen.

3 – Ich war zweimal in meinem Leben im Marquee, 1982 im Dezember, und, nach kleiner Recherche rausgefunden, am 15. Juli 1970, um Steamhammer zu erleben. Gates of perception. Mein alter Freund Uwe Zemlin war wesentlich öfter dort. Seine Erinnerungen würde ich hier gerne nachlesen. Write a little story! (m.e.)

 

 

2023 26 Feb

„Leonard at the end of history“

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In den frühen 1990er Jahren befand sich Leonard Cohen in der Popkultur in einem Quantenzustand, einer Art Schrödingers Singer-Songwriter: gleichzeitig legendär und vergessen. Es war nicht abzusehen, auf welcher der beiden Seiten er letztendlich landen würde. Fünfundzwanzig Jahre zuvor war der in Montreal geborene Dichter und Romancier mit seiner sinnlichen, aber unsentimentalen Folk-Musik zum weltgewandten Mauerblümchen auf dem schweißtreibenden Be-In des Psychedelic Rock geworden und zum Intimus brillanter Frauen von Judy Collins über Joni Mitchell bis Janis Joplin. Anfang der 80er Jahre war er ein solches Relikt, dass das Album, das seinen berühmtesten Song enthält, in den Vereinigten Staaten zunächst nicht veröffentlicht wurde.

Sein Comeback von 1988, I’m Your Man, ein Meisterwerk aus cineastischen Synthesizern und düster-komödiantischen Vorahnungen, war entscheidend für das, was Cohen gerne als seine „Wiederauferstehung“ bezeichnete. Doch der Status, den er bis zu seinem Tod im Jahr 2016 als Songwriter-Guru von beschwörender Kraft erreichte, war alles andere als sicher.

 

 

 

The Future, das Ende November 1992 als Nachfolger von I’m Your Man veröffentlicht wurde, war eine Suche nach dauerhafter Wahrheit in dem, was er als die schlackenhaften, entmenschlichten Ruinen des Spätkapitalismus empfand. Als Whitney Houstons „I Will Always Love You“ und Michael Boltons „Timeless: The Classics an der Spitze der US-Charts standen, bot das neunte Studioalbum des 58-jährigen Cohen einen ebenso extravaganten, aber mehrdeutigen Soundtrack zum Triumphalismus nach dem Kalten Krieg: lackierter Keyboard-Rock mit Streichern, einem Chor, mehreren Produzenten und Horden von Studiomusikern, aufgenommen in einem Dutzend Studios.

Im Zentrum steht Cohens heisere Stimme, die Texte knurrt, die das Heilige und das Profane nicht so sehr verwischen, sondern leidenschaftslos über ihre Koexistenz berichten. Der Himmel ist in der Gosse und umgekehrt – Halleluja, was geht dich das an? Auf dem neun Songs umfassenden Album werden einige von Cohens besten Originalen zwei unwahrscheinlichen Covers und einem Instrumentalstück gegenübergestellt. I’m Your Man erweckte Cohen wieder zum Leben. The Future zeigte, dass er auch weiterhin das Leben in all seinen chaotischen Widersprüchen einfangen würde, prismatisch mit Bedeutung.

Nach der ausverkauften Welttournee von I’m Your Man plante Cohen ursprünglich, sich in Montreal wieder mit der Crew des Albums zu treffen. Stattdessen ging er ins sonnige Los Angeles, um die langjährige Backgroundsängerin Jennifer Warnes zu engagieren, und blieb im Grunde genommen dort. Er tauschte sich mit Sonny Rollins im Spätfernsehen über spirituelle Lyrik aus. Er sonnte sich im Glanz eines neuen Tribute-Albums, I’m Your Fan von 1991, auf dem R.E.M., die Pixies, Nick Cave und – schicksalhaft – John Cales einflussreiche Version von „Hallelujah“ zu hören waren. Er war mit Rebecca De Mornay, der Schauspielerin aus Risky Business und The Hand That Rocks the Cradle, verlobt und begleitete sie zur Oscarverleihung.

 

Marc Cohens Essay über Leonards Album „The Future“ ist herausragend und heute auf Pitchfork erschienen. Mit „Deepl“ wurde der Anfang übersetzt. Ein paar Feinkorrekturen werden noch vorgenommen. Es folgen demnächst, in einem gesonderten Text, ein paar Gedanken und Erinnerungen rund um Leonard Cohens Lieder, die für viele von uns, ob Gottessucher, Agnostiker, oder Atheisten, lebensbegleitend waren und sind. Leonards Musik ist heute noch „on fire“. (m.e.)

2023 26 Feb

Eine Art Bildungsroman

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As an innovative and constantly inventive jazz pianist, Brad Mehldau has attracted a sizable following over the years, one that has grown to expect a singular, intense experience from his performances. With Formation, to be published on March 3, Brad seeks to extend that experience to the page, by sharing some of the deeply personal elements of his life, and how these came together for him to become the musician and person that he is today. For the first time, he offers an in-depth look at how he came to understand his adoption, survive sexual abuse, and overcome heroin addiction.

The book creates a vibrantly-written portrait of the jazz world in New York in the late 1980s and early 1990s, showing how a generation of musicians met and sparked off one another to take the music in new directions, drawing on a wealth of influences but also keeping sight of tradition, including those rooted in both the jazz and classical worlds. The atmosphere of the clubs, the creative scene in Manhattan and Brooklyn, and Brad’s early experiences of touring are brilliantly brought to life. The formation of the “Mood Swing” quartet with Joshua Redman is described, as is the growth of Brad’s own groups, leading to his acclaimed Art of the Trio series of recordings with bassist Larry Grenadier and drummer Jorge Rossy. The trio’s later life with Jeff Ballard joining in place of Rossy; Brad’s solo ventures; and his explorations of other areas of music, are also covered.

There is no holding back when it comes to Brad’s period of heroin addiction – his painful personal decline and ultimate redemption make for compelling and often distressing reading. Yet throughout the book, his own reading and listening are a constant frame of reference and often inspiration, from the works of James Joyce and Thomas Mann to the sounds of Prog rock and Bob Dylan, not to mention critics from Harold Bloom to Terry Eagleton. The book can be read as a bildungsroman, but this coming-of-age is no novel, it is vividly lived personal experience.

Intimate, vulnerable and profound, Formation is a rare look inside the mind of an artist at the top of his field, in his own words.

 

 
 

Als ich heute Morgen von meiner Terrasse aus auf s Meer schaute, blinkten mich einige Sterne an. Wie vom Himmel gefallene Sterntaler tanzten sie auf der Wasseroberfläche. Wer vermag dieses Phänomen zu erklären? Ich sagte mir, das sind Glückssterne, von denen ich zwei davon schon vorgestern eingelöst habe.

Wenn ich in einer fremden Stadt einen Plattenladen entdecke, lass ich dafür einen Buchladen, ein Kino, ein Museum links liegen. Ich verbringe viel Zeit in solchen kleinen Klangtempeln.

 
 


 
 

La Laguna ist eine Studentenstadt in der Nähe von der Hauptstadt Santa Cruz/ Teneriffa. So erklärt sich vielleicht der vorgefundene Schallplattenladen mit auffallend mehr LPs als CDs im Sortiment. Dafür sind die CDs nach Jahreszahlen geordnet. Unglaublich, was da unter dem halbrunden Singlegummischild mit der Aufschrift 1970-1977 gestapelt war. Wahrscheinlich aus einer neueren Auflage der spanischen überregionalen Zeitung El País, gab es eine James Taylor CD ursprünglich aus dem Jahr 1977. Ich nahm sie sofort an mich. Außerdem eine Velvetunderground: Live MCMXCIII. In den nächsten Tagen kommt mein Freund aus Freiburger Studienzeiten. Er hat die schönsten „pale blue eyes“. Meinem Lebensstil gefordert, muss ich mich „leicht wie eine Feder machen“ (Michel Leiris). Es blieb bei dem Kauf der beiden CDs. Hier in der Einsamkeit, meiner „Terra Nova“, werde ich das Lied von James Taylor in voller Lautstärke anhören:

 
 

We were there,

We were  sailing on the Terra Nova.

Sailing for the setting sun

Sailing for the new horizon

May this day show me an ocean

I ought to be on my way.

 

 
 

Als Kind an der Nordsee, da fesselten mich
die kleinen Leuchttürme, mit Kerzenlicht befeuert,
so sehr wie die grossen in der Ferne. Neben Bernstein
ragten sie in winzige Kinderbuchhöhe, märchenwahr
für jede Dämmerung. Das war viele Jahre,
bevor ich Dave Liebman und seine Lookout Farm
in Michael Nauras Jazzradio hörte, mal live,
mal von Platte. Näher noch rückte all das,
als ich heute morgen mit fünfzig Prozent Winterrabatt
diesen kirmesbunten Kinderringelpulli
im Wind schaukeln sah – out of season
und in einem Laden voller Meeresfundstücke
lauter Schwarzweisspostkarten von Kurpromenaden
in mattem Glanz funkten und funkelten.

 

2023 24 Feb

Craven Faults: Standers

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Vertraute Landschaften werden aus einem anderen Blickwinkel betrachtet. Die Frage, wie die Insel zu ihrem Aussehen kam und wie ihre alte und moderne Geschichte die heutige Bevölkerung beeinflusst, wird immer interessanter. Landschaften, die von den Elementen und dann von unzähligen Eroberern und Siedlern geformt wurden. Viehbestand und Maschinen. Geld, Religion und Politik.

Wir beginnen an der Grenze. Der höchste Punkt. An einem klaren Tag kann man bis zur Ostküste sehen. Die Schwerindustrie, die sich rund um die Flussmündung angesiedelt hat, sticht in dieser alten Landschaft hervor. Wir haben gesehen, wie sie sich verändert hat. Für das ungeschulte Auge sind es subtile Veränderungen, aber sie haben seismische Folgen. Wenn man das alles vor sich hat, ist es unmöglich, nicht bewegt zu sein. Wir stehen hier seit 800 Jahren, es dauert also ein wenig, bis wir in Schwung kommen. Es ist eine schwere Arbeit. Die unbeantwortete Frage hallt noch einmal durch die Luft. Ursprünglich 1908 komponiert, in den 1930er Jahren überarbeitet, aber erst 1946 aufgeführt.

Wir gehen ein kurzes Stück nach Westen. Vom Viadukt aus kann man sehen, wie sich die Landschaft verändert. Weichere Linien, wo der Sandstein den Eisströmen weniger Widerstand entgegensetzte. Ein Experiment. Von hier aus treiben wir flussabwärts. 1966.

 

 

Craven Faults – „Odda Delf“ (Official Video)

 

 

Nirgendwo ist es wie zu Hause. Wir steigen durch die Wolken auf und sind über dem Wetter unterwegs. Ein Moment der Ruhe. Dort, wo die Wolken aufbrechen, sind die Narben der frühen Industrie sichtbar. Wo einst tausend starke Hände und ausgeklügelte Ingenieursmethoden Tonnen von Blei aus dem Boden holten, liegt er jetzt still. Offen für die Elemente. Die Natur tut ihr Bestes, um unsere Spuren zu verwischen. Man muss wissen, wo man suchen muss. Vierer und Dreier. Die Szenerie ändert sich mit dem Wetter. Château d’Hérouville, 1976.

Etwa eine Stunde nördlich stoßen wir auf ein reiches Flöz. Heftig umstritten. Ein Skandal. Ungeahnte Reichtümer auf der einen Seite. Konkurs und Gefängnis auf der anderen Seite. Eine Fallstudie darüber, wie das Land aufgeteilt wurde und wie dieses Erbe über Generationen weitergegeben wurde. Die Geschichte wiederholt sich. Bell Labs, 1974 – 1976 und die Erinnerung an eine LP, die 1980 gekauft, aber seit Jahren nicht mehr angeschaut wurde.

Wenn wir unsere Route zurückverfolgen, ist manchmal ein geliehenes Klavier Inspiration genug. Es ist die gleichen Wege in einem anderen Leben gegangen. Eloquent und anmutig. Viele haben hier ihre Spuren hinterlassen, und eine obskure römische Göttin beschützt diese Gewässer.

Wir schlängeln uns auf dem Rückweg nach Osten. Der nordische Einfluss ist hier offensichtlich. Er zeigt sich im Dialekt und in den Ortsnamen. Er zeigt sich in den Viehtransporten zur saisonalen Weidehaltung. United Western Recorders 1970 und Britannia Row 1982 über die Stadt auf der anderen Seite der Pennines. Eine Annäherung an die menschliche Stimme – ein passender Abschluss.


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