Der Rausch (Dänemark, 2020) von Th. Vinterberg
Empfehlung von Micha. Ein kleiner, feiner Film über – ja, über was genau? Eine Tragikomödie im Gewand eines Buddy-Movies mit Tiefgang. Über das Leben? Zu platt! Über Sucht? Auch zu platt! Ein Oscar für die beste Regie, eine weitere Nominierung sowie auch eine für die goldene Palme und andere Bepreisungen. Der Soundtrack ist vielgestaltig, von Klassik bis Jazz.
Es beginnt mit einer Zeichnung bürgerlichen Wohlstandslebens und dessen langsamen Einmündens in Alltagsöde und Ausgebranntsein, Sich-Verschleissen in täglichen Wiederholungen des immergleichen Schulstoffs, nöligen Abiturienten und allzu geölt-eingefahrenen Familienlebens.
Vier miteinander gut verkumpelte Gymnasiallehrer, alle ziemlich amtsmüde, beschliessen ein Experiment: Sie wollen sich auf einem 24-Std.-Alkoholpegel von 0,5 bewegen, um mehr Feuer in ihren Alltag zu bringen. Der norwegische Psychiater Finn Skårderud postulierte, dass dieser Alkoholpegel, dauerhaft eingehalten, Menschen geistig leistungsfähiger und seelisch stabiler halten würde.
Man kann sich nun den Kopf zermartern, wieso vier intelligente Männer ein Experiment starten, dessen Ausgang hinreichend bekannt ist, aber darum geht’s nicht. Das Experiment beginnt, der Film transportiert zusehends eine spürbare Leichtigkeit und Lebensfreude, die Midlifers tollen herum wie ihre eigenen Schüler, der Hauptdarsteller in einem mänadisch anmutenden Tanz, die Kamera kreiselt schwindelerregend mit, die Umgebung wird wohltuend verschwommen, das Alltagsgrau schrumpft zu einem blassen Schatten (eine wirklich gelungene visuelle Umsetzung einer Rausch- und neuen Lebenseuphorie), und die Schüler freuen sich über ihren dynamischen und einfallsreichen Lehrer. Die Ehefrau desgleichen über einen wieder potenten Ehemann.
Dann schlägt das gnadenlose Prinzip des Verlangens nach Dosissteigerung zu – natürlich misslingt das Experiment; ein fraglicher Suizid ist zu verzeichnen, es bleibt offen, was geschehen ist; einer der vier wird von seiner Frau wegen seiner zunehmenden Suchtprobleme verlassen.
Eine an sich wenig komplexe Handlung, aber sie eröffnet einen Denk- und Phantasieraum, in dem das Gesehene (und Gehörte) noch lange nachhallt: ist der Mensch überhaupt dazu geschaffen, glücklich zu sein? Geht es ohne Rauschmittel? Ist er am Ende eine Fehlkonstruktion; zum Glück aus sich selbst heraus nicht fähig, immer abhängig von Menschen oder Substanzen? Ist es nicht besser in einem Bacchanal zu enden als nach einem langen öden Leben? Oder scheitern wir nur an einem überzogenen Dauerglücksanspruch?
Ein guter Film beantwortet keine Fragen, sondern stellt sie; es ist also hier auch keine Lösung zu erwarten. Nach der Beerdigung seines Freundes (oder anstatt: geht der Protagonist mit seinen Abiturienten feiern, beginnt wiederum zu trinken und ekstatisch zu tanzen. Er klettert auf ein Geländer und springt mit einem Kopfsprung in das Hafenbecken in dem sein Freund zu Tode kam. Hier stoppt der Film und er verbleibt in der Luft schwebend für alle Zeiten, wie Thelma und Louise als ihr Wagen über den Rand des Abgrunds im Grand Canyon schoss. Dort wurde uns erspart, Zeuge des Schrecklichen zu sein, wir verlassen die beiden Frauen noch als Lebende und das Leben Feiernde und so bleiben sie uns in Erinnerung.
Hier zeichnet der Film eher das Carpe-Diem-Motiv nach; das „Verweile doch, Du bist so schön“, den Wunsch, die Zeit so stillstehen lassen zu können wie die Kamera. Die verdammte Flüchtigkeit des Augenblicks …! Also kein Film über Sucht, sondern über Sehn-Sucht, über den urmenschlichen Wunsch, glücklich zu sein und einmal nicht über den Preis nachdenken zu müssen. Ein Film über das „Trotzdem“ oder „Erst recht“. Über ein Glück, das man einem Stärkeren immer wieder abtrotzen muss.