So begeisterte sich Ian McEwan für L.P. Hartleys „Ein Sommer in Brandham Hall“, dass er sich im Laufe seines Lebens immer wieder an das Buch erinnert fühlte und die darin sich entfaltende „Atmosphäre der Sehnsucht nach vergangenen Zeiten und kindlicher Unschuld.“ Ob mit dem Briten da ein paar Gäule durchgegangen sind, frage ich ich mich schon nach 80 Seiten, denn eins ist mal gewiss: eine Menge kindlicher Durchtriebenheiten und Seelenschmerz pur erfährt und erleidet bis dahin schon unser Protagonist mit Namen Lionel (den er selbst als „überkandidelt“ empfindet). Natürlich gibt es auch rauschhafte Erfahrungen des Kindseins, des Heranwachsens: beim Versinken in diesen Seiten aber ahne ich, dass für beinah jede Art von naivem Staunen und Ergriffensein ein Preis zu zahlen sein wird (und da ich überzeugter „Anti-Calvinist“ bin, ist auszuschliessen, dass ich dem Lauf der Ereignisse eine engstirnige Weltsicht verpasse oder hineinprojiziere). Hartleys Werk ist, neben dem sinnlichen Flow der Sprache (und allem anderen), eine verdammt fein geschliffene Analyse von Klasse (social class), Anpassung und Unterdrückung. Ein Happy End sehe ich da nicht kommen, leider nein, die Andeutungen des Erzählers machen zudem klar, dass alles auf ein erstklassiges Desaster hinausläuft. Toll geschrieben, toll erzählt. Es ist das Jahr 1900. Da sieht man sie schon lebendig vor sich, die Snobs, die „Etonians“, die grosskopferten Vorläufer eines Boris Johnson und seiner Sippschaft, mit ihrem dezenten Grössenwahn. Aber so funktionieren nun mal Reisen in die Kindheit anderer, dass sich das Unbewusste des Lesers seine ganz speziellen Wege bahnt, und einen Abgleich vornimmt mit Räumen der ureigenen Kindheit und Jugend. So geschehen heute Nacht in meinen Träumen, und wohl nicht zum letzten Mal. Plötzlich war es das Jahr 1970, und ich kehre in den Wildbahnweg zurück, ein heisser Sommertag im Dortmunder Süden. (Fortsetzung folgt.)
2022 27 Dez
Ein Sommer im Wildbahnweg (1)
von: Michael Engelbrecht Filed under: Blog | TB | Comments off