Manafonistas

on life, music etc beyond mainstream

2022 15 Dez

Ein „unerhörtes“ Meisterstück (revisited)

von: Michael Engelbrecht Filed under: Blog | TB | Tags: , | Comments off

So ist es. Nicht mal ein berühmtes Label (ECM) reicht aus, heutzutage, einer Musik, die zwischen allen Horizonten haust, grösseres Gehör zu verschaffen. Bestimmte Klänge erscheinen kaum greifbar, zu sehr „in between“, wenn sie gleichsam aus dem Nichts auftauchen. Kurz reinhören geht hier gar nicht – Verweilen ist das eine Zauberwort. Sich-Überraschen-Lassen das andere. So treibt sich am Ende der Musik ein gewisser Loplop im Wald herum. Kennen sie Loplop? Ich kannte den Gesellen bislang nicht. Auch nicht jene Bilder von Max Ernst, in denen er dunkle Wälder auf die Leinwand bannte, die menschliche Wesen besser nicht aufsuchen sollten. Allein dem magischen Vogel Loplop gelangen diese Streifzüge. Der Auftakt dieser zehn Exkursionen in rares, reales, surreales Terrain trägt den Titel „This Town Will Burn Before Dawn“. Als das Stück erste Gestalten annahm, schwebte dem Komponisten, als dessen Instrumente „electronics & sampling“ gelistet sind, eine pulsierende, leuchtende Stadt voller Erfindungen vor, die von Barbaren niedergebrannt wird, ohne aber letzte Spuren der Hoffnung zu vernichten. Doch wie in jenem legendären Kurzfilm „Meshes of The Afternoon“, archetypisch vorgeführt von Maya Deren, ändert sich die Szenerie mit jedem Schritt ins Unbekannte. Erinnern Sie sich? vor Jahren näherte sich ein Asteroid der Erde, der kurz vor dem Eintritt in unseren Orbit Halt machte, und in die umgekehrte Richtung davonzog. Selbst Wissenschaftler kamen zu keiner rundum einleuchtenden Erklärung, das Internet wurde geflutet  mit Theorien, die natürlich auch extraterrestrisches Leben ins Spiel brachten. „Oumuamua, Space Wanderings“ ist der treffliche Name der Komposition eines Werkes, das sich thematisch anscheinend keinerlei Grenzen setzt. In 80 Welten um den Tag reisen wir ohnehin (manche merken es nur nicht). Eines scheint all diese asketisch angelegten Stücke zu durchdringen: das Gespür für Wandlungen, für Spuren von Licht in finstersten Zonen. Sowas kann leicht schieflaufen, mit mollgetränkten Texturen, auffahrendem Pathos, schlicht gestrickter „New Age“-Requisite, und angestrengtem Grosskunst-Brimborium. 

In keine dieser Fallen tappt Evgueni Alperine auf „Theory Of Becoming“, einem Album, das seinen fortlaufend überraschenden Kontrastierungen zum Trotz, jedem einzelnen Moment Raum und Tiefe gibt. Verzettelung ist ein Fremdwort für ein Werk, das, durchaus verführerisch, eine Maske nach der andern falllen lässt – mal mutiert es zur tänzerischen Schwingung eines Kinderliedes, mal zum kaum verkappten Ohrwurm, zu einer verlorene Partitur der Spätromantik, zu Jules Verne-erprobter Weltraumfahrt oder zum Chronisten realen Schreckens. „Theory of Becoming“ (Lp/Cd) ist eine Art vollkommen klischeebefreiter Meditationsmusik. Und spannend obendrein. Es könnte ein neues Lieblingsalbum werden für Hörer, die die gesammelten Areale und Versunkenheiten von Steve Tibbetts „Life Of“ oder Arvo Pärts „Tabula Rasa“ schätzen, oder das Sololbum von Mark Hollis, wohl auch für solche, die gerne mal zu dem einen oder anderen Klassiker aus den Fundgruben von „Made To Measure“ und „Obscure Records“ zurückkehren, diesen historischen Labels und Spielwiesen für Undefiniertes von Marc Hollander und Brian Eno. Und sowieso trägt das Teil die Signatur „produced by Manfred Eicher“. Als etwas stillere Präsenz war gewiss auch der seltsame Vogel Loplop zugegen, in den Pariser Studios. Und der kennt die schnellen Wege, raus aus den Schutzzonen behüteter Hochkultur, und, wie aus dem Nichts, hinein in all unsere Wildnisse!

 

(Das ist meine Weihnachtsbotschaft, „meine kleine Winterreise“, und ich denke, am 27.März in den Klanghorizonten des Deutschlandfunks um 21.05 Uhr werde ich eine dieser Kompositionen des in Paris lebenden Russen in die Umlaufbahn schicken, ungefähr um 21.45 Uhr, in bester Gesellschaft. So macht man das mit dem „Unerhörten“.)

This entry was posted on Donnerstag, 15. Dezember 2022 and is filed under "Blog". You can follow any responses to this entry with RSS 2.0. Both comments and pings are currently closed.

Sorry, the comment form is closed at this time.


Manafonistas | Impressum | Kontakt | Datenschutz