Mein Faible für Michael Nauras Sendungen begann schon vor meinem Abitur, wenn ich in den grossen Ferien auf Langeoog oder Borkum seinen Konzertmitschnitten lauschte, oft bereits zur Mittagszeit. ECM Records in den Siebzigern, the golden years, ich denke, die Hörer im Norden konnten kaum eine der ersten dreihundert Produktionen von Manfred Eicher verpassen. Musik war eine Sache von „Body and Soul“, und ein kleines Phänomen, das mir elegant den Boden unter den Füssen wegzog, woosh!, und ganz viel mit „Body and Soul“ zu tun hatte, traf mich unverhofft, als ich mich an der Rezeption des Nordseehotels (das an der Kurpromenade von Borkum, mit Blick zum Meer in den teureren Zimmern) umdrehte, und ein „Girl“ sah, dass direkt dem gleichnamigen Beatles-Song entsprungen zu sein schien, der Melodie, nicht den lyrics.
Ich erspare mir die Beschreibung dieser absoluten Schönheit, ich erspare dem Leser dieser Zeilen aber nicht, dass sie mich anschaute wie ihren zukünftigen Gemahl. In Woody Allen-Filmen ist das der Moment, wo der Angeblickte sich umschaut nach einem Adonis, der womöglich das wahre Objekt dieses verliebten Blickes ist. Sie meinte mich. Und hier stellte sich auf Anhieb das „Licorice Pizza“-Problem dar (in Abwandlung). Dort verliebte sich ein 15-jähriges Greenhorn in eine 25-jährige Frau, hier stand mein 19-jähriges Ich (a deep romantic, no lucky fucker) einem 15-jährigen Mädchen gegenüber. So hinreissend. Sie. So unwiderstehlich. Sie. So offen. Sie. Und natürlich begann ich das Gespräch. Sie schmolz vor meinen Augen dahin, es war völlig unglaublich, und ich besass dafür keinerlei Abgleich jenseits reiner Träumerei.
Wir gingen Pflaumenkuchen essen in der windigen Strasse mit den zwei Kinos (Claude Lelouch und alte Western), hielten die Hände am Meer, übertrafen einander in der Tiefe unserer Blicke. Sie hörte mit mir auf der Couch, in meinem Zimmer, Dave Liebmans Lookout Farm, den jungen Jan Garbarek, wir flogen. Ihre Küsse waren Honig, Alabaster, Onyx und Blue Velvet. Sie zerfloss, wie ich zerfloss. Das ist seltsame Musik, flüsterte sie in mein Ohr, und küsste das Läppchen. Dann, anderntags, in ihrem Zimmer, wir entblössten uns, obenrum, es schien ein Märchen aus 1001 Nacht Gestalt anzunehmen und die Tür öffnete sich und ihre Tante stürzte mit entsetztem Aufschrei herein. Sie beendete den Zauber, drohte mir mit einer Anzeige sowie Hotelrausschmiss, und ich sagte: „Es ist alles in Ordnung. Ganz ruhig. Wir wissen, was wir tun.“ Der letzte Satz war tollkühn. Die Tante liess sich allerdings gar nicht beruhigen.
Danach schrieben wir uns, sie wohnte im Spessart, in Amorbach, wo sonst, und ihre Antwort auf meinen lyrischen Zeilenzauber war auf Micky Mouse-Papier verfasst, in purer Schönschrift, und las sich wie aus einem Poesiealbum der frühen Schultage – ich erkannte meine Blindheit, und es tat einen Moment lang weh. Sie einfach zu sehr Girl, zu wenig Woman, und mit allerliebsten Worten nahm ich Abschied. Ich legte Ruta and Daitya auf von Keith Jarrett und Jack DeJohnette und wusste, wenn ich einen langen Atem gehabt hätte, hätte, hätte … – dann hätte ich mich vielleicht nur zwei Jahre gedulden müssen, und sie wäre wieder aufgetaucht, mit silbernen Küssen, Schneezauber und Unendlichkeit. A smart cracker. A heartbreaker. So etwas fällt einem ein, auf einer langen Autofahrt von der Küste an den Niederrhein, mit Keith Jarretts „Facing You“ im Cd-Player meines Toyoten, nach zwei Stunden Blitzeis, und einem Schleudermanöver dritter Klasse.